9/11: Folge des Verrats an den islamischen und arabischen Völkern: Die Geduld der Unterdrückten und die Zensur unserer Wahrnehmung

Wen wundert es, dass die Attentate in den USA wahrscheinlich ihren Ursprung in der islamischen Welt hatten? Zwei Tage vor den Anschlägen starben acht Menschen im Süden des Irak, als britische und US-amerikanische Kampfflugzeuge ziviles Gebiet bombardierten. Nach meinen Kenntnissen haben die meisten britischen Medien darüber kein Wort verloren. Rund 200000 Irakis starben ernst zu nehmenden Schätzungen zufolge während und unmittelbar nach der Schlächterei, die man hier Golfkrieg nennt.

Auch diese Meldung hat die Öffentlichkeit im Westen nicht aufgewühlt. Und mindestens eine Million Zivilpersonen, die Hälfte davon Kinder, sind im Irak seither an den Folgen eines Embargos gestorben, das die USA und Britannien durchgesetzt haben. Auf der anderen Seite sind die Mudschahedin in Pakistan und Afghanistan, die die fanatischen Taliban hervorgebracht haben, im Wesentlichen eine Schöpfung des CIA. Die Ausbildungslager, in denen Usama Bin Laden die Angriffe angeblich plante, wurden mit US-Geldern und US-Unterstützung eingerichtet.

Die islamischen Nationen sind also weit davon entfernt, die Terroristen der Welt zu sein, sie sind vielmehr ihre Opfer – Opfer eines US-Fundamentalismus, dessen Macht in all ihren Formen (militärisch, strategisch, ökonomisch) die grösste Quelle des Terrorismus darstellt. Diese Tatsache haben die westlichen Medien zensiert, deren «Berichterstattung» die Schuld der imperialen Mächte im besten Fall klein schrieb. Dass Tony Blair, dessen Regierung Waffen an Israel verkauft, Irak wie Jugoslawien mit Clusterbomben und abgereichertem Uran übersäte und zu den grössten Waffenlieferanten an die Völkermörder in Indonesien zählt, nun unwidersprochen von der «Schande» des «neuen Übels Massenterrorismus» sprechen kann, zeugt von der Zensur unserer kollektiven Wahrnehmung. Da fällt einem nur eines von Blairs Lieblingswörtern ein – töricht.

Die Tatsache, dass die Verbrecher wahrscheinlich ein Produkt der Politik des Westens sind, hilft den Familien der tausenden, die einen so schrecklichen Tod gefunden haben, bei ihrer Suche nach dem «Warum» natürlich nicht; das ist fürwahr kein Trost. Aber hat die US-Elite tatsächlich geglaubt, dass sie die Geschehnisse im Nahen Osten ohne Kosten für sich beziehungsweise die eigene unschuldige Bevölkerung finanzieren und manipulieren könne? Die Attentate vom 11. September bilden das vorläufige Ende einer langen Geschichte des Verrats an den islamischen und arabischen Völkern: der Zusammenbruch des osmanischen Reiches, die Gründung des Staates Israel, vier arabisch-israelische Kriege, 34 Jahre Unterdrückung in den besetzten Gebieten. All dies verschwand in den wenigen Stunden eines grausamen Angriffs, der von Leuten ausgeführt wurde, die behaupten, die Opfer der westlichen Interventionen zu repräsentieren.

Die Wut und das Leiden beschränken sich nicht auf den Nahen Osten und Südasien. Seit dem Ende des Kalten Krieges haben die USA und ihre Verbündeten – allen voran Britannien – ihren Reichtum und ihre Macht auch an anderen Orten missbraucht. Die Ungerechtigkeiten, begangen im Namen des «freien Marktes» und des «freien Handels», sind kaum zu zählen. Sie reichen von der illegalen Blockade von Kuba über den mörderischen Waffenhandel, die Umweltzerstörung, die Vergewaltigung schwacher Volkswirtschaften durch Institutionen wie die Welthandelsorganisation, den Währungsfonds und die Weltbank (im Grunde genommen Agenturen der US-Finanz und der Europäischen Zentralbank) bis hin zum neuen US-«Vietnam» in Kolumbien. Der Terror des Westens ist Teil der jüngsten Geschichte des Imperialismus – ein Wort, das JournalistInnen heute nicht mehr auszusprechen und zu schreiben wagen. Nur wenige Medienleute werden demnächst, wenn der angekündigte «Krieg gegen den Terrorismus» beginnt, daran erinnern, dass die Bevölkerung von Diego Garcia in den sechziger Jahren von einer britischen Labour-Regierung vertrieben worden war. Heute ist ihre Insel im Indischen Ozean ein US-amerikanisches Atomwaffenlager, von dem aus US-Bomber im Nahen Osten patrouillieren.

In Indonesien wurden 1965/66 eine Million Menschen getötet, Komplizen waren die Regierungen der USA und Britanniens. US-Agenten hatten damals General Suharto Todeslisten geliefert und dann jeweils die Namen durchgestrichen. «Teil des Abkommens war, britische Firmen und die Weltbank wieder ins Spiel zu bringen», sagt Roland Challis, einst Südostasien-Korrespondent der britischen Radio- und TV-Anstalt BBC. Das britische Vorgehen in Malaysia unterschied sich nicht von den US-Aktionen in Vietnam: Die Lebensmittelversorgung wurde gekappt, Dörfer verwandelten sich in Konzentrationslager, über eine halbe Million Menschen wurden zwangsumgesiedelt. Während der «Operation Phoenix» in Vietnam arrangierte der CIA die Ermordung von 50 000 Menschen. Nach jetzt bekannt gewordenen amtlichen Dokumenten diente dies als Modell für den Terror in Chile, der in der Ermordung des demokratisch gewählten Präsidenten Salvador Allende gipfelte, und – zehn Jahre später – für den Krieg gegen Nicaragua. Und immer waren die Aktionen gesetzlos. In Britannien hat sich die eifrige Blair-Regierung bisher an vier militärischen Abenteuern beteiligt – alle im «britischen Interesse» –, verkleidet als «friedensschaffende Massnahmen» und mit wenig oder gar keiner Rechtfertigung durch internationale Gesetze ausgestattet. Keine andere britische Regierung der letzten fünfzig Jahre hat so viele Interventionen vorzuweisen.

Hat dies etwas mit den Abscheulichkeiten der letzten Woche zu tun? Wer in Regionen reist, in denen die völlig verarmte Mehrheit der Weltbevölkerung lebt, weiss, dass es einen Zusammenhang gibt. Die Menschen sind weder regungslos noch dumm. Sie sehen, dass ihnen ihre Unabhängigkeit, ihr Land, die Zukunft ihrer Kinder weggenommen werden. Terror schafft Gegenterror. Wie geduldig die Unterdrückten doch waren.

Zum Autor

John Pilger ist mehrfach ausgezeichneter TV-Journalist. Er schreibt unter anderem für das britische Magazin «New Statesman».