Afghanistan: Die demokratische Bewegung kommt aus dem Untergrund: Der Rat der kleinen Gruppen
Das interessiert auch den Geheimdienst: Vier nicht-islamistische Gruppen agieren gemeinsam.
«Dies ist die Stunde, in der die demokratische Bewegung in Afghanistan wiedergeboren wird.» Zia Aryayee scheut sich nicht vor grossen Worten, als er am vergangenen Donnerstag mit drei Kollegen von drei anderen politischen Gruppen auf einer Pressekonferenz in Kabul verkündet, ihr «Rat der Verteidiger von Frieden und Demokratie» wage den Schritt aus der Illegalität, um von nun an offen am politischen Leben teilzunehmen. Er vereinige «intellektuelle Kreise und ehemalige Mudschaheddin», sagt Dschawid Kohestani, der einst als Maoist in der Kabuler Stadtguerilla begann und wegen seines Kampfes gegen die sowjetischen Besatzungstruppen Jahre im Gefängnis verbrachte. Zum ersten Mal nach dem Fall der Taliban haben sich damit in Afghanistan demokratische Kräfte öffentlich zu Wort gemeldet.
Als «Menschen, die an Frieden und Demokratie glauben» bezeichnet Aryayee die Gründer des Rates, den vier Organisationen unter Wahrung ihrer Eigenständigkeit als Dachorganisation gebildet haben: die Republikanische Partei Afghanistans (RPA), die Volkspartei für Frieden und Entwicklung (sie verwendet die englische Abkürzung PPPD), die Freiheits- und Demokratiebewegung Afghanistans (AFDM) und die Nationale Union der Freiheitskämpfer. Auch wenn sie auf dem Podium fehlten, so Aryayee, seien Frauen «mit uns im Rat». Allen vier beteiligten Gruppen sind zum Teil recht starke Frauenorganisationen angeschlossen.
Alle vier Gruppen arbeiteten im Untergrund gegen die Taliban, mit überwiegend nichtmilitärischen Mitteln. Auch hier waren Frauen aktiv, etwa die der RPA. In einem ausgedehnten Netz organisierten sie im Untergrund Kurse, vor allem für Mädchen. Je ein Vertreter der vier Gruppen, darunter Aryayee und Kohistani, waren als Beobachter zur Bonner Afghanistan-Konferenz Ende letzten Jahres eingeladen worden. Dort trafen sie VertreterInnen der Partei des demokratischen Sozialismus (PDS) und der Grünen sowie von politischen Stiftungen und afghanischen Exilgruppen. Sie vereinbarten, sich politisch anzunähern. Die Kräfte der kleinen Gruppen sollten auf der Grundlage einer gemeinsamen politischen Plattform gebündelt werden. Das Programm hört sich allgemein an, widerspiegelt aber eine in der Bevölkerung weit verbreitete Stimmung und ist nach den Erfahrungen der Taliban- und davor der Mudschaheddin-Zeit fast eine afghanische Utopie: Frieden und Demokratie, Stärkung der nationalen Einheit, Wiederaufbau, Unterstützung der Bonner Afghanistan-Beschlüsse, der Interim-Verwaltung unter Hamid Karsai und der Ausnahme-Loya-Jirga, Verteidigung der Menschenrechte, Herrschaft des Gesetzes.
Die Geschichte einiger der beteiligten Gruppen reicht weit vor das Taliban-Regime zurück. Kohistani und einige seiner Freunde waren in nicht moskau-treuen Linksgruppen aktiv. Die «Freiheitskämpfer» gehen auf die Nationale Einheitsfront zurück, eine nichtislamistische Widerstandsbewegung. Die vor drei Jahren gegründete RPA, die die Genfer Menschenrechtskonvention zu ihrem Programm erhob, und die PPPD – hervorgegangen aus einer anti-islamistischen StudentInnenbewegung – sind hingegen jüngeren Ursprungs.
Die Töne, die die vier Repräsentanten des Rates anschlugen, waren bewusst moderat gewählt. Man wolle nicht auf Konfrontationskurs zu Karsais Interimsadministration gehen, sondern nach all den Jahren der Zerstörung und des Krieges konstruktiv zur Sache gehen, erläutert Aryayee. Der Besuch der Pressekonferenz durch zahlreiche afghanische Geheimdienstler deutet aber darauf hin, dass die Sympathie keineswegs beidseitig ist.
Eine Frage nach der bisherigen Bilanz der Übergangsverwaltung beantwortete der gelernte Journalist und Jurist Aryayee dann auch nur mit einem Hinweis auf die Ausnahmesituation und die Kriegsfolgen, die im Land «nur Ruinen» zurückgelassen hätten. Die Regierenden wies er darauf hin, dass die in Bonn in weiten Teilen wieder in Kraft gesetzte afghanische Verfassung von 1964 politische Aktivitäten ausdrücklich gestatte, auch wenn das darin angekündigte Parteiengesetz bis heute auf sich warten lässt. Kritik übten die Ratsvertreter an der Uno und der «internationalen Gemeinschaft». Die zugesagte Aufbauhilfe komme «zu langsam» an. «Das untergräbt das Vertrauen in den Friedensprozess», so PPPD-Führungsmitglied Rahimullah Rameh, ein junger Mitarbeiter des Kabuler Aussenministeriums.
Tarek Ehsas von den «Freiheitskämpfern» beantwortete die Frage, ob der Rat auch ehemaligen Mitgliedern der von 1978 bis 1992 regierenden Demokratischen Volkspartei Afghanistan (DVPA) offen stehe, mit der Feststellung: «Jeder Afghane, der für Demokratie kämpfen will, kann sich beteiligen.» Das ist eine Abkehr von der bisherigen Position auch vieler afghanischer Linker, sich von DVPA-lern abzugrenzen. Das gilt jetzt nur noch für ehemalige Führungsmitglieder und Personen, die für Kriegsverbrechen verantwortlich sind.
Auch ehemalige DVPA-Mitglieder sind inzwischen wieder verstärkt aktiv, wenn auch in mindestens zwei Dutzend Gruppen zwischen Berlin, Moskau und Peschawar gespalten. Während die ehemaligen Politbüro-Mitglieder Mahmud Barjalei und Seyyed Mohammed Gulabsoi versuchen, die beiden ehemaligen Hauptfraktionen Chalq (Volk) und Parcham (Banner) zusammenzuführen, versuchen Familienangehörige des von den Taliban ermordeten Staatschefs Mohammed Nadschibullah, dessen Reform-DVPA unter dem Namen Vaterlandspartei (Watan Party) wieder zu beleben. Andere haben sich neuen demokratischen Gruppen angeschlossen, etwa in den USA oder in Pakistan. Ehemalige Chalqis wie General Schahnawas Tanai halten aber auch nach wie vor Kontakte zu geheimdienstgestützten Post-Taliban- und anderen islamistischen Gruppen – so wie frühere Parcham-Generäle wie Baba Dschan und Asef Delawar heute die von der Nordallianz gestellten Kabuler «Regierungstruppen» verstärken.
Keine der am Verteidiger-Rat beteiligten Gruppen führt das Wort «islamisch» im Namen. Auch das widerspiegelt eine in der Bevölkerung weit verbreitete Ansicht: dass die aufeinander folgenden Regimes der Mudschaheddin und der Taliban den Islam als politische Ideologie auf absehbare Zeit diskreditiert haben. Deshalb könnten der Rat und andere demokratische Gruppen zu einer ernst zu nehmenden Kraft auf der politischen Bühne Afghanistans werden.