«Amandla!»: Lieder gegen den Wahnsinn

Der US-Regisseur Lee Hirsch dokumentiert die Geschichte der südafrikanischen Musik, die auch eine Geschichte des Widerstands gegen die Apartheid ist.

Wer erinnert sich nicht an die Bilder von Beerdigungen, die fröhlichen Demons­trationen glichen. Es war mitreissend zu sehen, wie tausende von Leuten sich in einer Staubwolke singend und rennend fortbewegten. Sie sangen, während sie von schwer bewaffneter Polizei und Militär eskortiert wurden, es flogen Steine, und es fielen Schüsse. Es war nur eine Frage der Zeit, wann Südafrika explodieren würde. Die Linke liegt zur Faust geballt auf der Brust. Mit dem Blick in die Weite wird «Nkosi sikel’i Africa ...» angestimmt – Beschwörungsformeln von Freiheit, Gerechtigkeit und Liebe. Zehn Jahre sind ins Land gegangen, seit Nelson Mandela aus der Haft entlassen wurde. Aus diesem Anlass tanzte man in Südafrika wieder in den Strassen, schwang Fahnen in den Farben des ANC und sang «Nkosi sikel’i Africa», mit glänzenden Augen und bebender Stimme.

Fast zehn Jahre arbeitete der junge New Yorker Regisseur Lee Hirsch (geboren 1972) an seiner Produktion «Amandla! A Revolution in Four-Part Harmony». Der Dokumentarfilm handelt von der Geschichte der südafrikanischen Musik, die auch die Geschichte des Widerstands gegen die Apartheid ist. Es geht dem musiksüchtigen Hirsch nach eigenen Angaben um den magischen Moment, wenn Ton und Haltung, Bedeutung und Performance miteinander verschmelzen und zu einem feierlichen Augenblick kondensieren. Die subversive Kraft der Musik verdankt sich dem Apartheidregime selbst, an dessen Grausamkeit sich ein ungeheures musisches Potenzial stösst. «Amandla!» skizziert mehr als vierzig Jahre musikalischen Widerstands. Der Film stellt Lieder vor, die die Zwangsumsiedlungen in Townships kommentieren wie Zeitungen; er lässt ehemalige Freedom Fighters zu Wort kommen, die 1960 in Sharpeville oder 1976 in Soweto revoltierten; sie singen Kampflieder und erzählen von ihren musikalischen Mitbringseln aus den Ausbildungslagern wie dem wuchtigen «Toyi-Toyi Chant», der die Erde zum Beben bringt. Sicherheitskräfte, die damals im Einsatz waren, sprechen von dem Unbehagen, wenn die Menschenmenge mit Rufen als einziger Waffe auf sie zulief. Dabei sitzen sie im Garten, grillieren, trinken Bier und versuchen so beiläufig wie möglich die «Huu»-Rufe nachzuahmen. Der Schrecken sitzt ihnen noch sichtbar in den Knochen.

Lee Hirsch ist offensichtlich der jungen Generation von Aktivisten und DJs zugetan. Er steht an ihrer Seite und blickt bewundernd die Stars von damals an, als der Kampf gegen die Apartheid weltweit die Menschen in Openairkonzerte trieb, um Miriam Makeba oder Ladysmith Black Mambazo zu erleben. Der Film versucht, chronologisch und thematisch Ordnung in einen Haufen Puz­z­lestücke aus Liedern, TV-Bildern und Filmausschnitten zu bringen, den die Geschichte hinterlassen hat. Fünf Jahre lang lebte Hirsch in Südafrika und drehte neben den Vorbereitungen zu «Amandla!» Musikvideos. Clip-Gestaltungselemente fliessen auch in den Film ein, es werden alte Tonaufnahmen mit neuen Tanzsequenzen und altes Bildmaterial mit neuen Liedinterpretationen kombiniert.

Man braucht im Rückblick nicht sonderlich viel Fantasie, um sich auszumalen, was passierte, wenn Lieder die weissen Herren aufforderten abzutreten. Unter Bedingungen, wie sie die Apartheidregierung schuf, mussten sie verboten und ihre Urheber vor Gericht gestellt werden – wie Vuyisile Mini, der zum Tode durch Hängen verurteilt wurde. Doch mit der Erklärung, der südafrikanische Widerstand sei im Leid erprobt und die Musik entstehe durch Schmerz, kommt man nicht weit. Der Film bemüht glücklicherweise keinerlei Raster in der Art, wonach Musik therapiere, ein Frustventil sei, zum Durchhalten aufrufe, spirituellen Beistand gebe oder den Zorn kanalisiere. Damit bleibt auch das subversive Potenzial der Musik unangetastet, wenn zum Beispiel Dolly Rathebe und Sophie Mgcina das absurd nett klingende Lied über das verhasste Meadowlands singen, in das sie zwangsumgesiedelt wurden.

Die Musik ist eine Gefahr für die weisse Herrschaft. Diese löst das Prob­lem, indem sie der schwarzen Bevölkerung verbietet, laut zu singen, Lieder aufzunehmen beziehungsweise Musik­aufnahmen zu besitzen. Es ist das Aus für Makeba, Rathebe, Mgcina, Masekela und Dollar Brand, der im Exil zum Islam konvertiert und von da an Abdullah Ibrahim heisst. Die prominenten MusikerInnen des Jazz, Swing und Jive gehen ins Exil in die USA. Ihre Einsamkeit und Sehnsucht kann man in den Aufnahmen des Dollar Brand Quartetts hören, in den Trompetensoli von Hugh Masekela,oder im getragenen Gesang Miriam Makebas.

Währenddessen wird in Südafrika unter der Decke heimlich Radio gehört und auf Beerdigungen gesungen. Als das Regime zusammengebrochen und die Apartheid zur Vergangenheit erklärt worden ist, kommen die MusikerInnen zurück. Mit der Wahrheits- und Versöhnungskommission betreibt man Geschichtsbewältigung in einem nie da gewesenen Tempo. «Amandla!» lässt indes durchblicken, dass es noch Zeit brauchen wird, bis die Apartheidschrecken überwunden sind; der Film zeigt überdies, dass die Musik viele vor dem Wahnsinn bewahrt hat und heute noch bewahrt.

Amandla! A Revolution in Four-Part Harmony. Regie: Lee Hirsch. USA 2002