Gilberto Gil: «Die Zeiten ändern sich – aber sehr langsam»
Unterwegs mit Gilberto Gil: Regisseur Pierre-Yves Borgeaud reiste mit dem brasilianischen Musiker nach Südafrika und Australien. Entstanden ist ein schwärmerisches Roadmovie.
Es ist Karneval in Salvador de Bahia. Gilberto Gil ist zu Fuss in einer blau-weiss gekleideten Masse von tanzenden Menschen unterwegs, den «Filhos de Ghandi». Gil wird von der Polizei eskortiert, aber nicht abgeschirmt, bleibt immer freundlich, sucht den Kontakt zu den Leuten und wechselt einige Worte mit ihnen. So beginnt der Dokumentarfilm «Viramundo. A Musical Journey with Gilberto Gil», und es wird schnell klar: Alle kennen den brasilianischen Sänger und Gitarristen und begegnen ihm mit Respekt. Gilberto Gil war ab 1987 Kulturbeauftragter in Bahia und zwischen 2003 und 2008 Kulturminister in der Regierung von Lula da Silva. Nach diesem Ausflug in die Exekutive stellte Gil wieder die Musik ins Zentrum.
Am Lagerfeuer in Australien
Gil gehörte mit Caetano Veloso in den sechziger Jahren zu den Wegbereitern neuer musikalischer Strömungen in Brasilien. Sie brachten den damals boomenden Bossa nova mit Elementen der internationalen Pop- und Rockmusik zusammen. Eine Fusion, die später als Tropicalismo bekannt werden sollte. Ihre pointierten Statements zur politischen Situation in Brasilien brachten ihnen nicht nur Freunde – beide verbrachten einige Jahre im Exil.
Der Film «Viramundo. A Musical Journey with Gilberto Gil» des Westschweizers Pierre-Yves Borgeaud ist ein Roadmovie. Der Regisseur geht mit Gil und dessen langjährigem Perkussionisten Gustavo Di Dalva auf eine Reise nach Australien und Südafrika. Dort treffen sie auf viele ähnlich denkende MusikerInnen. Sie sind alle stark von einer schmerzhaften Kolonialgeschichte geprägt und leiden bis heute unter gesellschaftlicher Ausgrenzung. Es sind neben der Musik vor allem diese Themen, die sie mit Gil und den Menschen im brasilianischen Amazonasgebiet verbinden.
In Sydney besucht Gil den früheren Sänger der erfolgreichen australischen Rockband Midnight Oil. «The tall guy», wie Gil den in Umweltfragen engagierten Peter Garrett bezeichnet, verliess die Band um die Jahrtausendwende. Er wurde in der Regierung von Kevin Rudd (Australian Labor Party) Umweltminister und ist seit 2010 unter Premierministerin Julia Gillard Bildungsminister. Er berichtet von den eine Million zählenden Aborigines, von denen die meisten unter 35 Jahre alt sind. Viele würden der Perspektivlosigkeit ihres Lebens mit Alkohol und Drogen entfliehen, und entsprechend hoch sei die Suizidrate, erklärt Garrett.
Gil besucht die Aborigine-Siedlung Yirrkala (Arnhem Land). Die Sängerin Shellie Morris berichtet erschüttert von ihrem Schicksal als Kind einer weissen Mutter und eines Aborigine-Vaters. Das gelte in der australischen Gesellschaft als «not cool», deshalb wurde sie zur Adoption freigegeben und wuchs in einer weissen Familie auf. Sie habe Jahre gebraucht, um über ihre Musik zu einer Identität zu finden. Auch an diesem abgelegenen Ort ist der Fortschritt angekommen: Ein kleiner Knabe tippt auf einem mit Solarzellen betriebenen Laptop «Gilberto Gil» ein, und die Maschine erklärt ihm, wie das auszusprechen sei.
«Dieser Platz wird dich nicht vergessen», sagt ihm ein Didgeridoospieler, der zur Yolngu-Kultur gehört, und ein anderer meint: «Deine Familie wird grösser, bei uns ist das Wort ‹Fremder› unbekannt.» Die Dämmerung setzt ein, Gil wird weiss geschminkt, ein Lagerfeuer brennt am Strand, und ein Mann fragt scheu: «Du warst Kulturminister? Aber das geht doch nicht, weil du schwarz bist.» «Die Zeiten ändern sich – aber sehr langsam», erwidert Gil.
«Spielen wir was Einfaches»
«Good Morning Africa» flimmert über einen TV-Bildschirm in Soweto. Gilberto Gil ist in Südafrika angekommen. Er berichtet in einem Fernsehinterview von den drei Monaten, die er im Gefängnis verbrachte, und dass er Südafrikas Hauptstadt Pretoria erstmals vor Jahren mit Lula da Silva besuchte.
Im Market Theatre von Johannesburg begegnet Gil einigen Arbeitern, die aus Nigeria stammen und zur Ethnie der Yoruba gehören. Er habe auch Yoruba-Vorfahren, erklärt Gil, kann sich aber nicht mehr an seinen Yoruba-Namen erinnern. Also geben sie ihm einen neuen: «Shango Wale» (Shango ist zurück). Hier trifft er sich auch mit den jungen MusikerInnen des MIAGI (Music Is a Great Investment) Youth Orchestra zu einem Konzert. Die MusikerInnen mit afrikanischen, asiatischen und europäischen VorfahrInnen sind erstaunt, als er bei der Probe gesteht, dass er keine Noten lesen kann. Charmant meint er: «Spielen wir was Einfaches», greift zur Gitarre und stimmt ein Lied an. «Freiheit für Afrika und die ganze Welt», wünscht er sich später am Ende des Konzerts, als ihm das Publikum und seine MitmusikerInnen stehend applaudieren. Es sind solch kleine Details, die dem streckenweise etwas kitschig geratenen Film Authentizität verleihen. Im Ganzen konzentriert sich «Viramundo» zu stark auf den Protagonisten, wirkt manchmal etwas gar schwärmerisch und fragt selten nach.
Am Ende des Films, zurück im brasilianischen Amazonasgebiet, wirkt Gilberto Gil müde von der Reise und etwas resigniert, als ihm die indigene Sängerin Sabina Santos von der Zerstörung ihres Lebensraums erzählt. «Ich mache mir keine Illusionen, alles wird beim Alten bleiben», meint der Musiker.
Viramundo. A Musical Journey with Gilberto Gil. Regie: Pierre-Yves Borgeaud. Schweiz/Frankreich 2013