Berner Besetzungen: Urban wider Willen

In Bern war die achtziger Bewegung und damit auch der Widerstand gegen bestimmte Tendenzen der Stadtentwicklungspolitik besonders virulent. Dieser Druck ist heute weitgehend verpufft.

Jede Stadt hat ihre Bruchstellen – für den Fall Bern bildet die «Zaffarayaschule» wohl eine der nachhaltigsten Verwerfungen. Bern gilt als diejenige Deutschschweizer Stadt, in der die achtziger Unruhen und damit auch der Widerstand gegen bestimmte Tendenzen der Stadtentwicklungspolitik besonders langwierig, Verhandlungen zäh und Ergebnisse häufig nur vorläufig waren. Die Versuche, die Bewegung zu domestizieren, verliefen kontraproduktiv und riefen neue Abspaltungen hervor. Die trotz ihres Bemühens um Beschaulichkeit vom bürgerlichen Kanton wiederholt in die Schranken gewiesene Bundeshauptstadt wurde gleichsam wider Willen mit urbanen Phänomenen konfrontiert.

Symbole des Widerstands

Eine Geschichte des Widerstands gegen eine einseitig marktorientierte Stadtentwicklung kommt nicht an Zaffaraya und der Reitschule, den beiden Symbolen der Berner Achtzigerbewegung, vorbei. Das Hüttendorf am Aareufer politisierte eine ganze Generation, polarisierte die BernerInnen zutiefst und war letztlich wohl ein Hauptgrund, weshalb die Reitschule der Stadt abgetrotzt und Ende 1987 als Jugend- und Kulturzentrum in Betrieb genommen werden konnte. Vom Zaffaraya spricht heute kaum mehr jemand – das mittlerweile 15-jährige Provisorium an der Autobahnausfahrt Neufeld liegt buchstäblich im Abseits sowohl der politischen Diskussion als auch alltäglicher Ordnungsdiskurse. Für etwas Aufregung sorgt allenfalls ein neues WC-Häuschen, das zwischen der noch spärlichen Belaubung der Bäume im Frühjahr für die Auto fahrenden PendlerInnen sichtbar wird. Dass das Ende des Zaffaraya nur dank der ungünstigen Finanzlage des Bundes und dadurch ausbleibender Beiträge für den Bau des Neufeldtunnels nochmals um ein paar Monate, möglicherweise Jahre, hinausgeschoben wird, ist kaum eine Meldung wert. Die einstige Begeisterung für den jugendlichen Aufbruch bei etablierten Linken und die Beschwörungen des kulturellen Kapitals, welches sich hierbei entfalte, sind verpufft. Auch sind die Bemühungen, spezielle Zonen für experimentelles Wohnen auszuscheiden, im Sand verlaufen.

Umso höher wogen die Emotionen, wenn die Reitschule zum Thema gemacht wird, was regelmässig auf Initiative der rechten Parteien geschieht, die darin zielsicher eine Plattform zur eigenen Profilierung wittern. Die Reitschule hat seit wenigen Monaten einen Leistungsvertrag mit der Stadt, sie dient aber weiterhin als institutionalisiertes Ärgernis. Bisher hat sich die Stadtbevölkerung stets hinter das historische Gebäude mit «grossstädtischem Flair», so die Bezeichnung in der dem Volk um 1895 vorgelegten Abstimmungsbotschaft zum Baukredit, gestellt, wenn auch zuletzt mit äusserst knappen Mehrheiten.

Und diese drohen vom zentrumsfernen Bümpliz aus zu kippen. Von dort erhofft sich das von der SVP angeführte Komitee der jüngsten Breitseite gegen die Reitschule den entscheidenden Sukkurs für seine Initiative «Keine Sonderrechte für die Reitschule», welche eine massive Erhöhung von Mietzinsen und Abgaben für den Betrieb zum Ziel hat.

Die Stadt als Bühne

Im April 1973 besetzte eine Gruppe junger Leute ein Haus im Berner Universitätsquartier Länggasse. Die BesetzerInnen positionierten sich gegen den zunehmenden Verlust von günstigem Wohnraum. Mit der Aktion griffen rund ein Dutzend AktivistInnen das Unbehagen eines Teils der damaligen Quartierbevölkerung auf. Namentlich die älteren BewohnerInnen befürchteten, durch das steigende Mietzinsniveau aus ihren Wohnungen gedrängt zu werden. Obwohl mehrheitlich aus andern Stadtgebieten stammend, beanspruchten die HausbesetzerInnen, Stimme des Quartiers zu sein: «Wir Länggässler wehren uns» war auf dem Transparent am Forstweg zu lesen. Ergebnis der ungewöhnlichen Allianz war eine vom «Blick» angeführte, schweizweite Resonanz der ersten Berner Hausbesetzung, die nach zehn Tagen von der Polizei geräumt wurde.

Die BesetzerInnen hatten die Stadt als Spielraum für von der als repressiv empfundenen Norm abweichende Lebens- und Wohnformen neu entdeckt und zur Bühne gemacht. Sanierungsanstrengungen wurden als «Stadtzerstörung» angeprangert, der Protest reihte sich in die gesellschaftskritische Tradition der 68er. Der Widerstand im Quartier vermochte zumindest kurzzeitig ein Licht auf die erstarrten Lebens-, Arbeits- und Konsummuster der nachkriegszeitlichen Wirtschaftswundergeneration zu werfen.

Unter dem Einfluss der Krise der frühen siebziger Jahre liess der Druck auf den Wohnungsmarkt nach, und alternative Wohnformen konnten relativ unbesehen erprobt werden. Zu neuerlichen Besetzungen kam es erst 1977, als rund zwanzig Personen auf einen Aufruf der Poch (Progressive Organisationen der Schweiz) hin leer stehende, vom Abbruch bedrohte Häuser im Nordquartier besetzten. Das ein Jahr zuvor in Kraft getretene neue Berner Wohnschutzgesetz erwies sich nicht nur in diesem Fall als nutzlos: Obwohl sich die städtische Exekutive unter Führung von Reynold Tschäppät gegen den Abriss der gut erhaltenen, preisgünstigen Vierzimmerwohnungen sowie der beliebten Quartierbeiz stellte, setzten der Regierungsstatthalter sowie das kantonale Verwaltungsgericht den Abbruch durch.

In den achtziger Jahren wurden Besetzungen zum probaten Mittel von linksautonomen Gruppierungen, auch wenn ein Kommentator des «Berner Tagblatts» (16. 8. 1977) schrieb, diese seien «genau besehen, Import aus fremden Ländern». In Taktik und Selbstverständnis vollzog die neue Bewegung einen Bruch mit den 68ern, ein Beteiligter meint: «Die Wenigsten der Häuserbewegung hatten Marx oder Engels gelesen. Man war nicht intellektuell.»

Besetzerhandwerk

Fürs Besetzerhandwerk entwickelte man ausgeklügelte Strategien: Der Stadtplan wurde zerteilt, und einzeln begab man sich auf die Suche nach leer stehenden Häusern. Anschliessend wurden die Besitzverhältnisse sorgfältig abgeklärt. Mit der AG Wohnnot erhielt das Wissen vom Besetzen einen Ort, von dem aus gezielt auch jüngere AktivistInnen unterstützt wurden. Das Repertoire des Widerstands reichte von Auszugsverweigerung und Besetzungen über die Gründung von Quartiervereinen, Herausgabe von Broschüren, Dokumentation von «Luxussanierungen» bis hin zu routinemässigen Einsprachen. Als besonders öffentlichkeitswirksam erwiesen sich Besetzungen, wenn sie auf der Basis bereits bestehenden Unmuts im Quartier eine breitere Mobilisierung, oft bis ins Stadtparlament hinein, erreichten – eine Konstellation, die die Bewegung gezielt anstrebte. So auch im in den achtziger Jahren massiv unter den Druck der Cityausweitung geratenen Mattenhof, wohin sich im 19. Jahrhundert noch die wohlhabenden Patrizierfamilien auf ihre Landsitze zurückzuziehen pflegten. Die Besetzung des legendären Zaff folgte der Einreichung der «Villetten-Initiative» auf den Fuss. Die Initiative war von einem Komitee bestehend aus QuartierbewohnerInnen lanciert worden und wollte den Abbruch mehrerer Häuser in der Unteren Villette verhindern. Das Zaff wurde gleichsam zur Brutstätte der nur wenige Monate später neu aufflammenden Achtzigerbewegung: Man hatte mobile Bars entworfen, die bei Besetzungen rasch aufgebaut waren, organisierte Öffentlichkeitsarbeit, gab die «Mattehofzytig» heraus, schlug sich mit den unterschiedlich gearteten Subgruppen – Punks, Hippies und Junkies – herum und führte nicht zuletzt jene Vollversammlungen ein, die im Zusammenhang mit der zwei Jahre später wieder besetzten Reitschule zum grundlegenden politischen Instrument werden sollten. Die anschliessend von der Demokratischen Alternative formulierte Mattenhof-Initiative zum Schutz der quartiereigenen Bausubstanz hatte durch eine Beschwerde beim Bundesgericht immerhin eine Verzögerung der Räumung des Zaff zur Folge.

Farbspritzer

Letztlich sind die Ergebnisse des auf mehreren Ebenen betriebenen Widerstands allerdings eher zwiespältig: Für das Quartier wurde eine rigide Überbauungsordnung rechtsgültig, die weder die Zerstörung aufzuhalten noch den Rahmen für eine qualitative, architektonische Aufwertung zu bieten vermochte. Die Bewegung selbst erhielt in der Folge erheblichen Auftrieb, der im Oktober 1985 in der Besetzung des Gaswerkareals mündete, wo das Zaffaraya sich etablierte.

Das Mattenhofquartier wurde nach dem Wahlsieg der Rot-Grün-Mitte-Koalition 1992 erneut zur Plattform des Widerstands, als mit den gleichzeitigen Besetzungen mehrerer Liegenschaften zu Beginn der Legislaturperiode 1993 die Umsetzung des Wahlversprechens gefordert wurde. Die etwas unverhofft zur Mehrheit gelangte Koalition hatte angekündigt, sich für Zwischennutzungen einzusetzen, und sollte nun in die Pflicht genommen werden. So im Beispiel der Herrengass-Besetzung von 1993, als die BesetzerInnen gleich selbst zu Feder und Faxgerät griffen, um die Zeitungsredaktionen im Namen des städtischen Pressesprechers «Häuslein» (der echte hiess sinnigerweise Häusler) über den Willen der Stadt zu informieren, Wohnraum für kollektive Lebensformen zu schaffen. Mit solchen Farbspritzern gelang es den BesetzerInnen immer wieder, Verwirrung zu stiften und im Gespräch zu bleiben. In Verhandlungen mit den Behörden reizten die BesetzerInnen die eingegangenen Vertragsbestimmungen maximal aus. Im erwähnten Beispiel etwa dadurch, dass die Gruppe die im Vertrag genannten Zimmer termingerecht geräumt und geputzt hatte, nur um ihre Matratzen unter dem Dach, im vom Vertrag nicht erwähnten Estrich, erneut auszurollen. Derweil war die Stimmung im Stadt- und Gemeinderat buchstäblich blockiert. Zwar schien der Umgangston freundlicher, inhaltlich aber verengte sich der Handlungsspielraum, setzten die bürgerlichen Stadtregierungsmitglieder ihre rot-grünen KollegInnen doch erheblich unter Druck. Hatte der freisinnige Polizeidirektor Marco Albisetti das ohne Patent wirtschaftende Restaurant Sous le pont noch als Familienbetrieb einstufen können, wurde das der neuen Regierung sofort als Verletzung der Aufsichtspflicht angelastet. Zudem spielte die Regierung zuweilen geplante soziale Nutzungszwecke gegen bestehende Besetzungen aus oder lud bekannte BesetzerInnen kurzerhand ein, eine Liegenschaft zu bewohnen, um damit einer unliebsamen Besetzung zuvorzukommen.

Die konkreten Resultate waren dennoch ernüchternd. Nicht nur krebste die Stadtregierung vom ursprünglichen Ziel des «Duldungsrechts» zurück. Das Ergebnis eines umfangreichen Gutachtens ergab, dass ein Duldungsrecht lediglich über eine Wohnnutzungspflicht durchsetzbar sei – eine Massnahme, gegen die der Widerstand von Bürgerlichen und Gewerbe vorprogrammiert war. Somit blieb es der Jungen Alternative überlassen, mit der Zwischennutzungsinitiative die Diskussion um leer stehenden Wohnraum nochmals aufs Tapet und später – erfolglos – vors Volk zu bringen.

Das Wunder von Bern West

Fühlt man heute der Bewegung den Puls, so scheint dieser geschwächt. «Es gelingt nicht mehr, denselben Druck aufzubauen, wie damals, in den Achtzigern», meint ein junger Besetzer und Anti-WTO-Aktivist, und sowieso laufe heute immer alles aufs Verhandeln und einvernehmliche Lösungen hinaus. Auch wenn der Widerstand da und dort wieder aufflackert (etwa im Versuch, BesetzerInnen aus der Romandie und der Deutschschweiz virtuell zu vernetzen) bleibt der Eindruck, er sei vorübergehend auf Eis gelegt oder in andere Kanäle – etwa in globale Plattformen wie den Anti-WTO-Zusammenschluss – abgeleitet worden. Obwohl sich beispielsweise die Stadt derzeit daran macht, ihre Liegenschaften zu verkaufen, haben viele langjährige BesetzerInnen ihre politischen Ziele zugunsten des Wohnens und des Zusammenlebens zurückgestellt. «Die Leute arbeiten alle, da kannst du nicht hundert Prozent besetzen», so ein Mitglied der Steckenden Schlüssel. Berns wohl langjährigstes Besetzerkollektiv hat sich als Genossenschaft organisiert und ist auf Haussuche. BesetzerInnen aus den Achtzigern sind zu BesitzerInnen mutiert und mithin selbst zu privilegierten Adressaten der städtischen Wohnpolitik geworden.

Viel Geld und Aufmerksamkeit fliesst in jüngster Zeit an die Stadtränder, wo in imagefördernden Para-Städten neue Konsumparadiese hingezaubert und grossflächig Wohngebiete für Familien erschlossen werden sollen. Die Migros wirft für das vom Stararchitekten Daniel Libeskind entworfene Freizeit- und Einkaufszentrum Westside 350 Millionen Franken auf. Die neuen städtebaulichen Massstäbe sollen 10 000 BesucherInnen pro Tag und Investitionen in Milliardenhöhe anlocken: das Wunder von Bern West als Motor für die kränkelnde kantonale Wirtschaft.

Dass hier, sozusagen vernebelt von süssen Duft- und Klangwelten, neue Formen von Ausschlussprozessen Gestalt annehmen, liegt auf der Hand. Der konsumimprägnierte Kulturbegriff, mit dem solche Grossprojekte vermarktet werden, böte durchaus eine mögliche Angriffsfläche. Ob und wie sich die Linien des Widerstands aus den Quartieren heraus in die grünen Gürtel verlegen lassen werden, ist indes völlig offen.

Sabin Bieri ist Geografin und arbeitet an einer Dissertation zu sozialräumlichen Transformationsprozessen in städtischen Lebensumfeldern.

Die urbane Frage

Die Formkräfte moderner Städte, seien diese politischer, ökonomischer oder kultureller Natur, haben sich seit den siebziger Jahren bedeutend verändert. Diese Prozesse verlangen nach neuen Wegen der Analyse sowie der politischen Mobilisierung. Jüngere, unter dem Label der «Urban Studies» laufende Ansätze diskutieren die «urbane Frage» im Sinne einer soziopolitischen Arena, in der die durch die neofordistische Ordnung hervorgerufenen Widersprüche aufeinander prallen. Die in den siebziger Jahren erstmals erprobten und in den Achtzigern sowie den beginnenden Neunzigern unter etwas veränderten Vorzeichen professionalisierten Hausbesetzungen können als eine Interpretation eben dieser Widersprüche im städtischen Kontext gedeutet werden. Die BesetzerInnen überschreiten zunächst räumliche Grenzen, stellen damit aber unmittelbar gesellschaftliche Ordnungsvorstellungen infrage. Die Abkehr von etablierten Geografien bedeutet auch eine Absage an die darin eingelassene soziale Ordnung. Die Stärke dieser Form des Widerstands liegt in ihrer direkten Herausforderung bestehender Machtverhältnisse, die Schwäche im vorübergehenden Charakter der Ergebnisse. Überschreitungen (transgressions) wirken zwar destabilisierend, sie sind aber keine hinreichenden Bedingungen für die Einleitung eines nachhaltigen sozialen Wandels. Künftig stellt sich die Frage, inwiefern die «lten» transgressiven Formen ausgereizt sind. Noch zeichnen sich kaum adäquate Antworten auf die aktuellen Herausforderungen sozialer Ein- und Ausschlussprozesse im städtischen Raum, wie etwa dessen zunehmende Privatisierung, ab.