Blog vom G20-Gipfel

Weltregierung oder Papiertiger?

Worin liegt genau die politische Bedeutung des G20-Gipfels? Dieser Frage ging Thomas Sablowski in der unlängst mit Samuel Decker veröffentlichten Studie «Die G20 und die Krise des globalen Kapitalismus» nach. Die WOZ sprach mit Sablowski auf dem Gipfel für globale Solidarität in Hamburg über Verschiebungen in der Weltordnung, die wachsende Konkurrenz zwischen den G20-Staaten und den Aufstieg des autoritären Populismus. Sablowski ist Referent für Politische Ökonomie der Globalisierung im Institut für Gesellschaftsanalyse der Rosa-Luxemburg-Stiftung.

In Ihrer Studie stellen Sie die Frage: »Sind die G20 eine informelle Weltregierung oder ein Papiertiger?» Was ist die Antwort?

Thomas Sablowski: Die G20 tragen Züge von beidem. Die Regierungen haben gemeinsame Interessen an der Reproduktion des Kapitalismus, aber sie stehen eben auch in Konkurrenz zueinander, was das gemeinsame Handeln blockiert. Es stimmt also, dass über die G20 Regeln für die globale Ökonomie festgelegt wurden und dass sie in diesem Sinne gemeinsam mit Organisationen wie dem IWF Teil eines Dispositivs sind. Aber gleichzeitig sind sie eben auch ein Forum, wo der Streit zwischen unterschiedlichen Interessen ausgetragen wird.

Eure Studie bietet einen sehr präzisen Überblick darüber, wie der Kapitalismus im 20. Jahrhundert unterschiedlich reguliert wurde. Für die letzten Jahre konstatiert Ihr wichtige Veränderungen. Was ist neu an der Situation?

In den 1990er Jahren hat sich die neoliberale Weltordnung global durchgesetzt. China und Osteuropa wurden mit Hunderten Millionen Arbeitsplätzen und Konsumenten integriert, und damit entstand ein wirklich globaler Kapitalismus. Man könnte den WTO-Beitritt Chinas 2001 wohl als Höhepunkt dieser Entwicklung bezeichnen.

Heute ist die neoliberale Weltordnung in der Krise, und es gibt eine Tendenz zu einer gewaltförmigeren Austragung von Konflikten. Weil es beim G20 in Hamburg ja auch um Afrika gehen wird, sollte man vielleicht daran erinnern, dass in Deutschland nicht zum ersten Mal auf einer internationalen Konferenz über Afrika gesprochen wird. 1884 haben sich die europäischen Kolonialmächte in Berlin getroffen, um den Kontinent unter sich aufzuteilen. Dreissig Jahre später haben diese Staaten dann gegeneinander Krieg geführt. Es gab also auch damals schon beides: imperialistische Kooperation und imperialistische Konkurrenz.

Wo verlaufen die Konfliktlinien heute?

Aufstrebende Länder wie die BRICS-Staaten, also Brasilien, Russland, Indien, China und Südafrika, der Iran oder die Türkei wollen sich nicht länger auf ihre Rolle als semiperiphere Staaten festlegen lassen. Sie verfolgen eigene Entwicklungsstrategien, durch die sie dann in Konflikt mit den Interessen der alten Industriestaaten geraten. Chinas Multis sind das deutlichste Beispiel dafür.

Ausserdem gibt es noch eine zweite Konfliktlinie, nämlich die zwischen Ländern mit Leistungsbilanzüberschuss und denen mit einem Defizit. Das Problem haben wir in der EU aber auch global. Donald Trump vertritt wegen des US-Defizits teilweise protektionistische Ideen, und dadurch gerät die Führungsmacht USA in einen Konflikt mit jenen Staaten, die weiter auf Freihandel setzen. Das hat nun Deutschland und China einander näher gebracht.

Wenn das neoliberale Freihandelsregime weiter zerfällt, können wir aber auch vom Regen in die Traufe kommen: Wir haben den Neoliberalismus völlig zurecht kritisiert, aber wir dürfen nicht vergessen, dass es noch schlimmer kommen kann.

Sind offene, kriegerische Konflikte zwischen den grossen Staaten wirklich so leicht vorstellbar? Immerhin sind die Kapitalverflechtungen und damit auch die gemeinsamen Interessen durch die Globalisierung viel grösser geworden.

Es gab schon vor dem 1. Weltkrieg eine Phase der Globalisierung, auf die dann ein Zerfall des Weltmarkts und ein massiver Protektionismus in den 1930er Jahren folgte. Sicherlich ist richtig, dass die Globalisierung der letzten drei Jahrzehnte transnationale Produktionsnetzwerke hervorgebracht hat, wie es sie früher nicht gab. Aber der Prozess der Internationalisierung des Kapitals verläuft nicht linear. Rückfälle sind möglich, und dann können Konflikte eskalieren. In dieser Hinsicht gibt es leider durchaus Anzeichen für eine Phase des Chaos.

Wenn wir ansehen, wie die USA im Mittleren Osten agieren oder wie sich der Ukraine-Konflikt entwickelt hat, dann sehen wir sehr deutlich, wie instabil die Lage geworden ist. Mit den ökonomischen Interessen der grossen Kapitalfraktionen lässt sich das Verhalten der Staaten nämlich nicht mehr befriedigend erklären. Im Ukraine-Konflikt müsste die EU aus ökonomischen Gründen eigentlich den Ausgleich mit Russland suchen. Aber genau das passiert nicht. Es lassen sich also starke Verschiebungen beobachten. Wir haben eine Krise der US-Hegemonie, und damit kehren offene Konflikte zurück. In Asien versuchen die USA China als aufstrebende Macht einzukreisen. China wiederum versucht durch das Seidenstrassenprojekt, also die Partnerschaft mit Staaten in Eurasien, daraus auszubrechen.

Wie real ist diese Krise der USA überhaupt? Die Vereinigten Staaten haben zwar Industriestandorte verloren, verdienen aber über Patente und Direktinvestitionen weiter munter mit. Ausserdem profitieren sie massiv von der Leitwährungsfunktion des Dollar. Die Krise ist also gar nicht so eindeutig.

Schon in den 1970er Jahren, am Ende des Vietnam-Kriegs wurde eine Krise der US-Hegemonie konstatiert. Die Recycling der Petrodollars der Golfstaaten und die neoliberale Offensive der 1980er Jahre, die die USA zum globalen Finanzzentrum machten, haben diese Krise dann erst einmal wieder aufgefangen.

In der Imperialismusdebatte der letzten Jahre gab es mindestens drei kontroverse Positionen: Antonio Negri und Michael Hardt sprachen von einem transnationalen Imperium, in das die Nationalstaaten eingegliedert werden. Leo Panitch und Sam Gindin haben dagegen die Herausbildung eines US-Empire diagnostiziert, in dem die USA als «globaler Staat» die Reproduktion der kapitalistischen Verhältnisse garantieren. Andere haben sich auf die klassische Imperialismustheorie gestützt und eine erneute Zuspitzung imperialistischer Rivalitäten prognostiziert. Der reale Prozess bewegt sich wohl zwischen diesen Polen.

Wo müsste sich die Linke in dieser Situation positionieren?

Sie sollte sich auf jeden Fall davor hüten, nur einzelne imperialistische Mächte oder einen Teil der jeweiligen Machtblöcke zu kritisieren. Der Logik des kleineren Übels – Clinton statt Trump, Macron statt Le Pen – sollten wir uns verweigern. Ansonsten werden wir vom neoliberalen Machtblock vereinnahmt.

Das Problem des Rechtspopulismus ist ja nicht neu, und hier den richtigen Weg zu finden, ist nicht einfach. Um eine rechte Regierung unter Silvio Berlusconi zu verhindern, hat die italienische Rifondazione Comunista, damals eine bewegungsnahe und ganz gut verankerte Partei, in den 1990er und 2000er Jahren zweimal eine Mitte-Links-Regierung unterstützt. Bei dem Zickzackkurs zwischen Opposition und Regierung hat die Partei zuerst ihren rechten Flügel verloren und dann ist ihr organisches Verhältnis zu den sozialen Bewegungen zerbrochen. Schliesslich war sie nicht mehr im Parlament vertreten und weitgehend bedeutungslos.

Was ich sagen will: Statt uns der Logik des kleineren Übels zu unterwerfen, sollten wir eine eigene Alternative aufbauen, die sich gleichermassen gegen den autoritären Populismus und gegen die neoliberalen Kosmopolitismus richtet.

Was wäre schlecht daran, «kosmopolitisch» zu sein?

Bei Antonio Gramsci gibt es eine Unterscheidung zwischen linkem Internationalismus und Kosmopolitismus, die ich für wichtig halte. Der Internationalismus erkennt die Notwendigkeit an, Transformationsstrategien auf der Basis der Analyse der jeweiligen konkreten Situation in einer Gesellschaft, in einem Nationalstaat zu entwickeln. Linker Kosmopolitismus setzt sich über die Analyse konkreter Situationen einfach hinweg und kann daher nichts erreichen.

Im Übrigen trifft die Unterscheidung zwischen «autoritärem Populismus» à la Trump und vermeintlich progressivem Neoliberalismus à la Clinton auch nicht die realen Verhältnisse. Stuart Hall hat den Begriff des autoritären Populismus für die Analyse des Thatcherismus der 1970er und 1980er Jahre entwickelt. Margaret Thatcher konnte nur durch den autoritären Populismus die Regierung erobern und betrieb zugleich neoliberale Politik par excellence. Das können wir aber auch für Trump oder Le Pen heute sagen: Es gibt da zwar protektionistische Versatzstücke, aber in vieler Hinsicht haben sie neoliberale Programme.