Der G20-Gipfel und die Proteste dagegen sind vorbei. Das WOZ-ReporterInnenteam – Raphael Albisser, Florian Bachmann, Anna Jikhareva, Kaspar Surber und Raul Zelik – ist gut nach Hause gekommen. (Nur einer hinkt ein bisschen, weil er einem brüsk wendenden Wasserwerfer ausweichen musste.) Wir bedanken uns bei allen LeserInnen für das Interesse, die vielen sehr positiven Reaktionen und auch für die erwartbare Kritik. Ein spezieller Dank gilt dem Medienzentrum FC/MC im St.Pauli-Stadion sowie dem ProWOZ-Recherchierfonds für die finanzielle Unterstützung.
Blog vom G20-Gipfel
Am 7. und 8. Juli findet in Hamburg der G20-Gipfel statt, an dem die mächtigsten StaatschefInnen der Welt ihre «vernetzte Welt gestalten» wollen. Mit der Zusammenkunft von Donald Trump, Wladimir Putin oder Recep Tayyip Erdogan ist der Gipfel auch ein Gipfeltreffen der Autokraten. In Hamburg werden 100 000 DemonstrantInnen erwartet, die zu einem Gegengipfel und Protesten laden. Die WOZ berichtet ab Dienstag, dem 4. Juli, an dieser Stelle in einem Blog über die Ereignisse: aus dem Sonderzug nach Hamburg, von den Demonstrationen sowie vom G20-Gipfel selbst.
Alle Blicke und Kameras sind auf die weisse Tür gerichtet. Das weitläufige Medienzentrum am G20-Gipfel ist an Künstlichkeit nicht zu übertreffen: Speziell hässlich ist die Plastikpflanzenlounge geraten, knapp gefolgt von einer wellenförmigen Neondeckenlampe. Die weisse Tür dagegen nimmt sich fast schon bescheiden aus, als könne sie so umso mehr zu einem grossen Auftritt beitragen. Als sie sich endlich öffnet, knipsen die Kameras im Stakkato. Die deutsche Bundeskanzlerin betritt den Saal, um die Resultate des G20-Gipfels zu verkünden.
Merkel wertet den Gipfel als Erfolg: Man habe versucht, sagt sie in ihrer bekannten Sowohl-als-auch-Sprache, «Kompromisse zu finden, ohne den Dissens zu übertünchen». Wenig überraschend konnte man sich schon am Vortag auf die Bekämpfung des Terrorismus einigen, bis zum Schluss wurde um den Klimaschutz gestritten: Die USA konnten nicht überzeugt werden, ihre Kündigung des Pariser Klimaabkommens zurückzunehmen.
Auch wenn in den Medien fast nur über angezündete Autos, Polizeigewalt und die Strassenschlachten vom Schanzenviertel geredet wird, ist das Entscheidende der vergangenen Tage doch etwas anderes: Hamburg hat sich der G20-Weltordnung aus neoliberalem Freihandel, Krieg, wachsender Ungleichheit, Umweltzerstörung und Demokratieabbau auf vielfältige und bunte Weise widersetzt. Jene KritikerInnen, die die Mobilisierung zum G20-Gipfel schon im Vorfeld als «in die Jahre gekommenes Ritual» abstempelten, haben Unrecht behalten. Die Proteste von Hamburg waren jenseits der Strassenschlachten von einer Kreativität und Lebendigkeit geprägt, wie sie auch die meisten OrganisatorInnen des Gipfelprotests wohl nicht für möglich gehalten hätten.
Die zweite gute Nachricht lautet: Obwohl die Polizei auch gegen friedliche Proteste mit grösster Brutalität vorging und am Ende sogar mit Sturmgewehren gegen Protestierende vorrückte, haben sich Hunderttausende nicht einschüchtern lassen. Unmittelbar nach dem Polizeiangriff auf die «Welcome to Hell»-Demonstration am Donnerstagabend fanden sich an die zehntausend Menschen erneut zusammen und demonstrierten weiter. Auch die Blockadeaktionen am frühen Freitagmorgen, die immer wieder zusammengeschlagen und mit Pfefferspray angegriffen wurden, fanden wie geplant statt: Unter dem Motto «Shut down the Logistics of Capital» blockierten antikapitalistische und gewerkschaftliche Gruppen den Frachtverkehr am Hamburger Hafen, um auf den Zusammenhang von freien Warenströmen und repressiver Migrationsbekämpfung hinzuweisen.
Als Olga loslegt, klingt Udo Jürgens aus den Boxen: «Wir haben alles im Griff auf dem sinkenden Schiff.» Die «Olga» ist ein kleines Boot, das am Freitagnachmittag versucht, möglichst nahe zur Elbphilharmonie zu gelangen. Dort werden sich die Staatschefs der G20 ein Beethovenkonzert anhören. Olga hat ein Soundsystem auf dem Dach, mit dem sich die dreissig AktivistInnen bemerkbar machen wollen, die auf der «Olga» und einem zweiten Boot, der «Gothmund», mitfahren.
Ein Boot der Wasserschutzpolizei fährt kurz backbord. Ihre einzige Auflage für die Demo: nicht näher als fünfzig Meter an die Sperrzone vor der Elbphilharmonie heranfahren. Daran will sich die gemütliche AktivistInnengruppe halten; mit der «Waschpo» pflege man ein gutes Verhältnis, sagt einer, die sei viel entspannter drauf als andere Abteilungen der Hamburger Polizei. Es herrscht viel Verkehr auf der Nordelbe an diesem Nachmittag. Zwischen Polizeischiffen und TouristInnenfähren flitzen gegen zehn kleine Schlauchboote von Greenpeace über die Wellen.
«Presse?», fragt die Polizistin. «Presse ohne Kamera?». Sie schaut ihren Kollegen ratlos an. «Ja, ich schreibe.» Die beiden winken mich durch ihre Kette. Für einen Moment komme ich mir vor wie ein Journalist aus dem 20. Jahrhundert. Doch vielleicht ist es auch eine Chance, die Ereignisse an diesem Abend im Schanzenviertel nur zu beschreiben. Auf die Fotos der Gewaltszenen, die sich hier ereignen, sind sowieso alle aus. Nicht nur die Polizei trägt ihre Robocop-Anzüge, nicht nur RandaliererInnen ziehen ihre Kapuze hoch, auch die FotografInnen und Kameraleute rennen behelmt herum. Was vor Ort klein wirkt und lokal, wird auf den Tickern der Newsportale bereits zum weltbewegenden Krawall. «Im Schanzenviertel brennen ganze Strassenzüge», heisst es auf meinem Handy. «Es ist wie im Krieg», schreibt «Spiegel Online».
Aus der Nähe
Worin liegt genau die politische Bedeutung des G20-Gipfels? Dieser Frage ging Thomas Sablowski in der unlängst mit Samuel Decker veröffentlichten Studie «Die G20 und die Krise des globalen Kapitalismus» nach. Die WOZ sprach mit Sablowski auf dem Gipfel für globale Solidarität in Hamburg über Verschiebungen in der Weltordnung, die wachsende Konkurrenz zwischen den G20-Staaten und den Aufstieg des autoritären Populismus. Sablowski ist Referent für Politische Ökonomie der Globalisierung im Institut für Gesellschaftsanalyse der Rosa-Luxemburg-Stiftung.
In Ihrer Studie stellen Sie die Frage: »Sind die G20 eine informelle Weltregierung oder ein Papiertiger?» Was ist die Antwort?
Am Ende hat die Hamburger Polizei die gewünschten Schlagzeilen bekommen. Wochenlang hatte sie «8000 Militante» und den «grössten schwarzen Block aller Zeiten» herbeigeschrieben, hatte vor Eskalationen bei der antikapitalistischen «Welcome to Hell»-Demonstration, vor vermummten KrawallmacherInnen, brennenden Autos und Barrikaden gewarnt, hatte versucht den Protest zu delegitimieren. Der Donnerstag Abend wurde zur selbsterfüllenden Prophezeiung.
Am Nachmittag herrscht auf dem Fischmarkt gelöste Stimmung. Bei strahlendem Sonnenschein und sommerlichen Temperaturen berichten AktivistInnen aus Mexiko, Russland und den USA, der Goldene-Zitronen-Sänger Schorsch Kamerun wünscht den zu dieser Zeit mehreren Tausend DemonstrantInnen «einen erfolgreichen Abend», die Hamburger Band Neonschwarz übt Kapitalismuskritik in Rapform. Aus den Lautsprechern ertönen die Nummer des anwaltlichen Notdiensts und Verhaltenstipps bei Festnahmen. «Sagt der Polizei Namen und Wohnort, sonst nichts.» In einer Volksküche wird Kartoffelgulasch mit Tofuwurst serviert, an einem Wagen gibt es «Kaffee gegen Spenden». Nach der «gewalttätigsten Demonstration» der Gipfeltage sieht es hier nicht aus.
In Hamburg findet nicht nur der G20-Gipfel statt, sondern auch der Gegengipfel «Solidarity Summit». BasisgewerkschafterInnen aus Indien, Frankreich, Argentinien und Deutschland diskutierten über dabei über die Möglichkeiten einer Gewerkschaftsarbeit von unten. Dass es ohne Gegenmacht keine Veränderung gibt, dürfte bekannt sein. Doch gerade jene Bewegung, die im 20. Jahrhundert am meisten Druck zu mobilisieren verstand, nämlich die Arbeiterbewegung, steckt in einer tiefen Krise. Die WOZ sprach mit Vervaine Angeli, Aktivistin der französischen Basisgewerkschaft SUD, und Ezéquiel Roldán von der argentinischen Branchengewerkschaft Aceiteros – CGT (Agraröl verarbeitende Industrie).
Ihr habt bei euren Beiträgen die Notwendigkeit gewerkschaftlicher Organisierung verteidigt. Das Problem ist doch aber, dass es immer mehr untypische Arbeitsformen gibt: Prekarisierte, Ich-Unternehmer usw. Die werden von den klassischen Gewerkschaften überhaupt nicht mehr erreicht. Habt ihr da neue Ideen?
Nach dem verzögerten Start in Basel flog der Sonderzug förmlich nach Hamburg. Die Zwischenstopps von Stuttgart bis Dortmund verliefen reibungslos; sie hätten an den Bahnhöfen keine Polizeikontrollen angetroffen, berichteten die Zugestiegenen. So verbrachten die rund achthundert Mitreisenden in den zwölf Waggons eine weitgehend ungestörte Nacht: Sie verspiesen Vegi-Gulasch, deckten sich am Infopoint mit Lesestoff ein, genossen die pumpende Musik im Gemeinschaftswagen, fanden etwas Schlaf in den Ruheabteilen. Als der Zug morgens schliesslich in Hamburg einfuhr, war die Verspätung von vier auf rund zwei Stunden geschrumpft, und auch der polizeiliche Empfang war zurückhaltender als befürchtet. Hallo Hamburg, dein Widerstand kriegt Nachschub!
Um 18.18 Uhr rollt der Zug endlich los in Richtung Hamburg. Gut vier Stunden später als geplant. «Von uns aus hätte der Zug auch um 15 Uhr schon losfahren können», sagte kurz zuvor einer der vielen deutschen BundespolizistInnen auf dem Perron – nicht, ohne dabei ein überlegenes Grinsen aufzusetzen.
Natürlich hätte der Zug schon früher fahren können, doch bloss ein Bruchteil der geschätzten zweihundert Passagiere hätte zu diesem Zeitpunkt mitreisen können. Denn der grosse Rest wartete vor dem Basler Badischen Bahnhof noch immer auf Einlass. Eine Handvoll BeamtInnen der Schweizer Grenzwache hatten sich im Eingang aufgebaut, um bloss tröpfchenweise Leute durchzuwinken. Und wer dann endlich drin war, musste sich oben auf dem Perron von der deutschen Bundespolizei durchsuchen lassen. Man wurde abgetastet, während nebenan der Inhalt von Rucksäcken und Reisetaschen wie auf Wühltischen ausgebreitet wurde. Eilig hatten es die BeamtInnen dabei nicht – und auch nicht ihre Dutzenden von KollegInnen, die zwischen den Gleisen gelangweilt herumstanden, bereit für einen Einsatz mit Schutzhelm.
Am Dienstagabend pünktlich um 18 Uhr war es so weit. Im Hamburger St.-Pauli-Stadion ging ein einzigartiges Medienexperiment auf Sendung: das FC/MC. Die Abkürzung MC steht ganz einfach für Mediencenter. Das FC davor für alles Mögliche: für «Free Communication», für «Free Commons», für «Fruitful Collaborations», für «Finalize Capitalism». Oder natürlich auch, man ist hier ja im Stadion, für «Football Club».
Der erste Programmpunkt des Mediencenters war eine Pressekonferenz, die live per Stream übertragen wurde. Solche Konferenzen sollen während des G20-Gipfels täglich stattfinden, auf der Südtribüne mit bester Aussicht: Von dort aus sieht man direkt auf den Fernsehturm und das Messeviertel, wo sich die Staatschefs der G20 versammeln. Daneben sollen über den Stream alle möglichen Beiträge zu den Protesten gegen den Gipfel gesendet werden. Auch in den sozialen Medien wird laufend über die Ereignisse informiert.
Die «Partnerschaft mit Afrika» ist einer der Schwerpunkte, den die deutsche Präsidentschaft für den diesjährigen Gipfel der G20 festgelegt hat. Weshalb es mehr als berechtigt ist, gegen den Gipfel der Industriestaaten und die dort zu erwartenden politischen Rezepte für Afrika zu protestieren, lässt sich beispielhaft an der sogenannten Pandemic Emergency Financing Facility zeigen. Diese «Finanzierungsdienstleistung» wurde vor wenigen Tagen von der Weltbank offiziell aufgelegt. Sie gilt als direktes Resultat des G7-Gipfels 2015 auf Schloss Elmau. Auf der Website der internationalen Entwicklungsbank heisst es dazu stolz: «Weltbankgruppe startet bahnbrechende Finanzierungsfazilität zum Schutz der ärmsten Länder vor Pandemien.»
Hinter der kryptischen Bezeichnung versteckt sich eine nicht minder kryptische Finanzoperation, die das ganze Elend multinationaler «Governance» sichtbar macht. Hintergrund des Projekts war der Umstand, dass die internationale Staatengemeinschaft bei der Ebolaepidemie 2014 mehrere Monate benötigte, um Hilfsgelder zur Verfügung zu stellen. Um in Zukunft schneller handlungsfähig zu sein, hat die Weltbank nun sogenannte Cat-Bonds (Katastrophenanleihen) ausgegeben. Das bedeutet, dass private Investoren das Risiko eines Pandemieausbruchs (von Ebola sowie fünf weiterer Seuchen) absichern können, indem sie eine entsprechende Anleihe bei der Weltbank kaufen.
Die grösste Suite der Stadt, die Royal Suite im Hotel Vier Jahreszeiten mit 435 Quadratmetern, war für König Salman ibn Abd al-Asis reserviert: Der Monarch aus Saudi-Arabien, so berichtete die Boulevardpresse, werde von Kamelen begleitet, die ihm täglich frische Milch liefern sollten. Doch nun ist Salman krank, oder er muss sich um die Unruhe in seiner Dynastie oder um die Krise mit Katar kümmern. Jedenfalls schickt er nur den Finanzminister. Auch das Gerücht mit den Kamelen hat die saudische Botschaft leider dementiert.
Doch auch die übrigen Staats- und RegierungschefInnen der G20-Staaten geben sich bei ihrem Einzug in Hamburg wie Könige: Wladimir Putin soll in der Präsidentensuite des Park Hyatt logieren, immerhin noch 231 Quadratmeter gross. Emmanuel Macron wird die Tower Suite im Mövenpick beziehen, in der 17. Etage mit Rundumblick auf die ganze Stadt. Bloss mit dem Namen von Donald Trump wollte kein Hotel in Verbindung gebracht werden, der US-Präsident wird im Gästehaus des Hamburger Senats einquartiert.