Der WOZ-Blog zum Ukrainekrieg

Keine Zeugin mehr

Von Tschetschenien bis in die Ukraine: Keine Zeitung dokumentierte die russischen Kriegsgräuel wie die «Nowaja Gaseta». Was ihre Einstellung bedeutet.

Zuerst hatte das Kollektiv der «Nowaja Gaseta» tapfer durchgehalten. Während unabhängige Medien die Publikation wegen der neuen Zensurgesetze einstellten, machten die Journalist:innen der kremlkritischen Zeitung mutig weiter. So wie sie es die letzten Jahrzehnte unter wachsendem Druck, Drohungen und Einschüchterungen immer getan hatten.

Die Entscheidung, die Chefredaktor Dmitri Muratow nach dem russischen Angriff auf die Ukraine treffen musste, dürfte ihm nicht leichtgefallen sein: Soll auch er die Zeitung mit einer Auflage von mehr als 100 000 Exemplaren einstellen? Oder ist es besser, sich den neuen Spielregeln eines repressiven Systems zu beugen? Muratow, der die «Nowaja Gaseta» seit 1995 leitet und Ende letzten Jahres für sein Engagement mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet wurde, wählte die zweite Option: Weil jede Verwendung des Begriffs «Krieg» Strafen nach sich zieht, war in den Beiträgen infolgedessen bloss von einer «Spezialoperation» die Rede.

Nun muss der 60-Jährige doch nachgeben. «Wir stellen unsere Arbeit bis zum Ende der ‹Sonderoperation auf ukrainischem Territorium› ein», verkündete die Redaktion heute Mittag auf ihrer Website. Der Schritt sei «schrecklich und schwierig, aber notwendig», schrieb sie in einem Mail an die Abonnent:innen: «Ohne euch werden wir nicht überleben. Vielen Dank und bis bald!» Den Anlass dafür gab eine Verwarnung der Medienaufsichtsbehörde Roskomnadsor – bereits die zweite seit Beginn des Kriegs. Das Blatt soll es versäumt haben, in einem Artikel den Zusatz «ausländischer Agent» zu erwähnen. Einem drohenden Entzug der Lizenz kam die Redaktion nun zuvor.

Politkowskajas Erbe

Die wechselhafte Geschichte der «Nowaja Gaseta» spiegelt die schwierige Lage der Pressefreiheit in Russland wider. 1993 startete Muratow zusammen mit ein paar anderen Journalist:innen das Projekt, das rasch zur favorisierten Publikation der liberalen Intelligenzija wurde. Einer der frühen Förderer war Michail Gorbatschow, der die Zeitung bis heute unterstützt. Die Aktienmehrheit hält derweil nach wie vor die Belegschaft.

Immer wieder machte das Team mit investigativen Recherchen über Korruption, Machtmissbrauch und die Unterdrückung von Minderheiten von sich reden. Legendär sind auch die Beiträge zum Tschetschenienkrieg von Reporterin Anna Politkowskaja und anderen. 2006 wurde die Journalistin vor ihrer Haustür erschossen. In den nuller Jahren bezahlten fünf weitere Redaktionsmitglieder ihre Recherchen mit dem Leben, immer wieder wurden Reporter:innen verfolgt und angegriffen.

Die letzte Reportage

Auch in den vergangenen Wochen zeichnete sich die «Nowaja Gaseta» durch wegweisende Texte zum Krieg des Putin-Regimes aus. So dokumentierte sie etwa die Geschichte einer jungen Mutter, deren Sohn in die Ukraine geschickt wurde und dort ums Leben kam. Und in der neusten (und nun vorerst letzten) Ausgabe veröffentlichte sie eine herausragende Reportage aus der ukrainischen Stadt Cherson, die seit Anfang März von der russischen Armee besetzt ist.

Die Journalistin Jelena Kostjutschenko, die seit Wochen im Kriegsgebiet unterwegs ist, berichtet darin von einer prekären humanitären Lage, langen Schlangen bei der Essensverteilung und einem Mangel an Medikamenten, von einem russischen Geheimgefängnis und Entführungen – und sie erzählt von einer Bevölkerung, die Widerstand leistet. In Zukunft werden Recherchen wie jene von Kostjutschenko, mutige Zeugnisse des Kriegshorrors, schmerzlich fehlen.