Eine höllische Tragödie

Die preisgekrönte russische Fotojournalistin Viktoria Iwlewa hat schon aus vielen Krisenregionen der Welt berichtet. Hier beschreibt sie ihre Fahrt nach Irpin, das von der ukrainischen Armee zurückerobert wurde.
Was ich mit meinen eigenen Augen sehe.
Eine höllische Tragödie totaler Zerstörung, komplett erschaffen mit den Händen und dem Verstand russischer Bürger – das ist, was Hostomel, Butscha und Irpin jetzt sind. Es ist beinahe wie in Tschernobyl, die gleiche plötzliche Verwandlung blühenden Lebens in einen hässlichen Tod.
Auf das Abtauchen in die Hölle von Irpin und Butscha bereitest du dich allmählich vor – erst tauchen am Strassenrand Reklametafeln aus irgendeinem fast vergessenen, vergangenen Leben auf. Sie laden dazu ein, in Butscha eine Wohnung zu kaufen, in Irpin Sushi zu probieren, eine «podorosch» (ukrainisch für «Reise») in die Dominikanische Republik zu gewinnen. Plötzlich schiebt sich ein verlassener Lastwagen mit einem V auf der Seite ins Sichtfeld, während weiter rechts in Fahrtrichtung ein Gebilde auftaucht, das am ehesten einem gigantischen metallischen Hundertfüsser gleicht. Die Konstruktion entpuppt sich als Gerippe eines ausgebrannten Wohnwagens, alles um ihn herum ist mit kleinen Glasscherben übersät, die in der Sonne schimmern. Es weht ein Wind, der Glasstaub scheint sich zu bewegen, und das Monster erwacht zum Leben.
Doch um mich herum spielt gar keine Gruselgeschichte, sondern das ist der Kyjiwer Oblast in der Ukraine nach der Invasion der russischen Armee.
Weiter vorne ein Haufen zerknitterter, fast schon zum Akkordeon gefalteter Autos.
«Die Orks sind mit einem Panzer drübergefahren», teilt mein Bekannter mit dem Rufnamen «Banker» mit profaner Stimme mit. Vor dem Krieg war er tatsächlich Banker, und er erinnert sich noch gut daran, dass der Krieg nicht vor einem Monat begann, wie viele meinen, die gerade erst aufgewacht sind, sondern im Frühling 2014. Zumindest für ihn persönlich.
Mit ihren Panzern und Militärtransportern sind die russischen Soldaten allem Anschein nach auch durch den wohlhabendsten Teil von Hostomel gefahren, sie zertrümmerten und walzten die Tore verlassener Privathäuser platt, sich amüsierend und neidisch, und plünderten dann ausgiebig. Im Haus, in dem wir für unsere Bekannten nach dem Rechten schauen sollten, war das Glas auf der Veranda zerbrochen, waren Einbruchsspuren zu sehen. Erst nach der Arbeit des Minenentschärfungskommandos wird man das Haus betreten können, um zu sehen, ob alles noch an seinem Platz ist. Nicht einmal das Gras sollte man betreten – im Krieg kann schliesslich alles passieren …
Neben einem anderen Haus habe ich ein kaputtes Kinderauto gesehen – so eines mit Pedalen, in das der Kleine hineinklettern und damit selbst herumfahren kann.
«Was für Bastarde», sagt plötzlich der Banker. «Man sieht doch, dass sie auf der Strasse gefahren sind – hier sind ihre Spuren. Aber nein, sie sind abgebogen, haben das Kinderspielzeug plattgefahren, sich darüber gefreut und ihren Weg fortgesetzt …»
«Sie taten es, weil sie es konnten, verstehen Sie, sie glaubten, sie dürften alles. Von einer solchen Kleinigkeit wie dem Spielauto bis hin zum Mord. Und für nichts wird man ihnen etwas anhaben können», sagt Sergei, der zweite Soldat.
Ich verstehe das sehr gut. Ein Kinderauto ist in der Tat eine Kleinigkeit. Doch genau damit fängt alles an, später wird es dann immer schlimmer und schrecklicher. Und niemand ist für irgendwas verantwortlich. Und Straflosigkeit wird zur Norm.
Doch dieses Mal sind sie alle in Schwierigkeiten.
Wir fahren weiter, nach Irpin, und plötzlich fällt der Blick auf eine Plakatwand mit der Aufschrift «Romantisches Weekend in Paris».
Aus dem Weekend in Paris ist nichts geworden, stattdessen schlossen sich die Bewohner:innen von Irpin der Territorialverteidigung an, erhielten Waffen und liessen den Feind nicht nach Kyjiw, das nur etwa fünf Kilometer entfernt war … Natürlich kam die Armee zuhilfe, doch den ersten Schlag nahmen eben genau die betroffenen Städter:innen auf sich, unter ihnen waren Leute mit militärischer Erfahrung, die schon im Donbas gekämpft hatten.
Und dann ist Schluss mit den Werbetafeln.
Das Auto schlängelt sich durch endlose Panzersperren aus Beton.
Auf der rechten Seite der durch direkten Artilleriebeschuss zerstörte und halb ausgebrannte Intersport-Laden, links an der Kreuzung ist in grosser Höhe noch immer eine Hochspannungsleitung gespannt, an der parallel zueinander zwei Ampeln mit herausgerissenem Innenleben baumeln, und in Fetzen hängen irgendwelche weissen Tücher herunter. Es sieht aus wie ein Spielplatz für Seiltänzer:innen im Zirkus – nur dass dies hier Krieg ist und kein Zirkus.
Wir fahren nach Irpin hinein, eine Stadt, die bis vor kurzem nach Kyjiw die schnellste Entwicklung im Wohnungsbau aufwies und in der mehr als 60 000 Menschen lebten.
Es scheint, als sei hier kein einziges Haus mehr übrig, das man als «ganz» bezeichnen könnte. Zerbrochene oder zersplitterte Scheiben, herausgesprengte Türen, beschädigte Gitter, eine Metallarmatur, klaffende Löcher in den Gebäuden durch direkten Panzerbeschuss, ausgebrannte Wohnungen – die Brandspuren darin sind von weitem zu sehen. Die leeren Fensterhöhlen werden schwarz, manchmal hängt aus so einem Fenster ein verwaister Vorhang heraus, den der Wind aufwirbelt und an der Wand ausbreitet, wie eine Erinnerung an ein vergangenes, vor gerade mal einem Monat noch existierendes Leben. Die Wände selbst sind übersät mit winzigen Splittern von Kugeln und Schrapnellen.
Besonders grausig sieht das alles an den neuen, stylischen neun- und zwölfstöckigen Gebäuden aus.
Auf den Strassen sind praktisch keine Menschen in ziviler Kleidung zu sehen – in der Stadt herrscht totale Ausgangssperre. Bloss Militärfahrzeuge fahren herum, Krankenwagen und städtische Dienste.
Noch immer gibt es weder Licht, Strom, Wasser noch eine Kanalisation. Das Internet funktioniert nur schwach, und auch das nicht überall. Die Leichen haben sie von den Strassen entfernt, doch was einen in den Höfen und Wohnungen erwartet, ist unklar.
Wieder beschleicht einen das Gefühl, sich in einem Filmpavillon zu befinden, wo sie einen Film über einen Angriff auf den Planeten durch hässliche Ausserirdische drehen, deren einziges Ziel es ist, alles, was die Menschen für sich und ihre Kinder aufgebaut haben, sinnlos, grausam und abscheulich zu zerstören.
Doch dies ist kein Film. Es ist das Werk der Armee meines Landes. Und plötzlich wird mir klar, dass ich das schon einmal gesehen habe.
In Tschetschenien. In den Neunzigern und zu Beginn der nuller Jahre. Die russische Armee machte damals Grosny platt, ebenso sinnlos und grausam, zerstörte den Ort Novye Aldi, trieb in Samaschki Unvorstellbares. (In Novye Aldi, einem Vorort von Grosny, verübte die russische Armee im Februar 2000 ein Massaker an der Zivilbevölkerung; in Samschki ermordeten die russischen Soldaten im April 1995 zahlreiche Zivilist:innen; Anm. d. Red.). Die Omon-Einheit bereicherte sich genauso, sie schickten Teppiche, Gold, Kristall nach Hause oder nahmen sie mit, und bei manchen hingen die marodierten Teppiche sogar direkt an den Checkpoints. Und es gab speziell ausgehobene Gräben, vollgestopft mit Leichen.
In Sweet Home, einer Ansammlung von Häusern im Landhausstil am Rand von Irpin, liegt direkt neben dem Schild mit dem Namen des Städtchens ein verbrannter russischer Panzer. Bei einem Angriff wurde er in einen Haufen verbranntes Metall verwandelt, aus dem die Räder herausschauen, Trümmer, Teile der Panzergleisketten, irgendwelche Zahnräder, Kabel. Spuren der Panzerbesatzung konnte ich nicht entdecken. Möglicherweise sind die Soldaten komplett lebendig verbrannt, bei einem direkten Angriff kann die Temperatur über tausend Grad betragen, womöglich haben die ukrainischen Soldaten die verkohlten Leichen aufgesammelt, und sie liegen in Plastiksäcken im Kühlschrank und warten darauf, in die Heimat geschickt zu werden. Nur die Reste einer zerrissenen, versengten Weste in der Farbe einer alten Moorkröte lagen in der Nähe auf dem Boden herum. Ich habe die Weste von der Erde aufgehoben und sie an die Stange gehängt, an der das Schild mit der Aufschrift «Sweet Home» befestigt ist.
Einfach aus Respekt vor dem Sakrament des Todes.
Irpin, 5. April 2022
* Viktoria Iwlewa (66) ist eine mehrfach preisgekrönte russische Fotojournalistin. Nach dem Journalismusstudium in Moskau berichtete sie aus verschiedenen Krisengebieten, darunter aus Ruanda während des Genozids, Bergkarabach, Tschetschenien und später aus dem Donbas. Iwlewa arbeitete unter anderem für die «Nowaja Gaseta» und ist für diverse russische und westliche Publikationen wie den «Guardian», den «Spiegel» und die «New York Times» tätig. 1992 erhielt sie für ihre Geschichte aus dem zerstörten Reaktorblock von Tschernobyl, den sie als einzige Fotojournalistin überhaupt besuchen konnte, den World Press Photo Golden Eye Award. Den vorliegenden Text publizierte Iwlewa auf ihrer Facebook-Seite.
Aus dem Russischen von Anna Jikhareva.