«Eine verzweifelte Massnahme in verzweifelten Zeiten»
Was es braucht, damit humanitäre Korridore für Zivilpersonen funktionieren. Und warum sie kein Allheilmittel sind.
Seit Wochen harren Menschen im Azovstal-Werk in Mariupol unter Dauerbeschuss in Bunkern, Tunnels und Kellern aus. Sie haben Hunger und Durst, ihnen fehlen Medikamente, es gibt keine Toiletten, sie frieren. In der ersten Maiwoche konnten erstmals über 550 Personen aus dem belagerten Stahlwerk sowie aus der zerstörten Stadt Mariupol mit Hilfe der Uno, dem Internationalen Komitee des Roten Kreuzes (IKRK) und in Absprache mit den Kriegsparteien evakuiert werden. Die Evakuierung der Zivilist:innen gelang nach wochenlangen Verhandlungen und stellt einen seltenen Erfolg im seit bald drei Monaten anhaltenden Krieg dar.
Humanitäre Korridore sind organisierte, sichere Fluchtwege für Zivilist:innen aus den gefährlichsten Kriegsgebieten. Damit sie funktionieren, brauche es ganz spezifische logistische Vereinbarungen zur Route, dem genauen Zeitrahmen des für eine sichere Evakuierung nötigen Waffenstillstandes sowie zum Start- und Endpunkt des Korridors, sagt Crystal Wells, Sprecherin des IKRK in Genf. «Es ist absolut zentral, dass die getroffenen Vereinbarungen nach oben und unten in der militärischen Befehlskette weitergegeben werden. Es sind schlussendlich die Streitkräfte vor Ort, die dafür verantwortlich sind, dass der Waffenstillstand hält.»
Auch eine Imagepflege
Gemäss internationalem Völkerrecht sind Zivilist:innen in Konfliktgebieten immer vor Angriffen geschützt – ob sie zu Hause sind, in der Schule, im Bus oder eben in einem humanitären Korridor. Doch humanitäre Korridore seien kein Allheilmittel, führt Wells aus. «Solche Korridore sind eine verzweifelte Massnahme in wirklich verzweifelten Zeiten.»
Auch Maelle L’Homme von der Forschungsstelle für humanitäre Angelegenheiten der Organisation Médecins Sans Frontières in Genf warnt vor falschen Illusionen: Humanitäre Korridore seien nicht die ideale Lösung für Menschen, die in den von russischen Streitkräften umzingelten Städte gefangen sind.
«Sie sind ein notwendiger Kompromiss, besser als nichts. Aber es ist heikel, zu viel Hoffnung in ein zeitlich begrenztes und eingeschränktes Durchgangsrecht zu setzen, dessen Einhaltung vom fragilen guten Willen der Konfliktparteien abhängt. Der Schutz ist nie zu hundert Prozent garantiert.» Das habe man in der Ukraine und in anderen Kriegen oft gesehen. «Menschen dachten, ein Fluchtweg sei vereinbart worden. Dann ging etwas schief und sie starben oder wurden verletzt, weil sie ihr Haus oder ihren Keller verlassen hatten.»
Konfliktparteien würden zudem humanitäre Korridore oftmals für politische oder militärische Zwecke missbrauchen. «Man muss immer auch bedenken, was der Zusatznutzen für die Konfliktparteien ist», sagt L’Homme. Armeen könnten Feuerpausen zum Beispiel dazu nutzen, um Streitkräfte zu verlegen. Oder die politische Führung instrumentalisiere die Korridore, um ihr Image aufzupolieren.
Die eigentliche Bedrohung
Oft gehe dabei vergessen, warum Menschen sich überhaupt in einer auswegslosen Situation befinden: weil dieselben Konfliktparteien Zivilist:innen und Spitäler angreifen und ganze Städte von Strom, Wasser, Lebensmitteln und dem Zugang zu humanitärer Hilfe abschneiden würden.
Humanitäre Korridore dürfen also nicht als Schutzmassnahme, losgelöst von der eigentlichen Bedrohung – dem Krieg – betrachtet werden. Vorrangig muss es immer darum gehen, wahllose Angriffe auf die Zivilbevölkerung zu verhindern.