Humanitäre Katastrophe in Gaza : «Es gibt keinen sicheren Platz»

Nr. 34 –

Thorsten Schroer war in diesem Jahr zweimal als Nothelfer in Gaza im Einsatz. Ein Gespräch über medizinische Versorgung im Krieg und die palästinensische Bevölkerung als Spielball politischer Interessen.

Operation in einem improvisierten Operationssaal in Chan Junis
«In den Spitälern mangelt es einfach an allem»: Operation in Chan Junis im Juli. Foto: Haitham Imad, Keystone

WOZ: Thorsten Schroer, Sie sind Mitte Juli aus Gaza zurückgekehrt. Welches Erlebnis geht Ihnen nicht mehr aus dem Kopf?

Thorsten Schroer: Sicherlich die Befreiung von vier israelischen Geiseln in Nuseirat im Juni. Wir arbeiten als medizinisches Notfallteam mit der WHO. Zu dem Zeitpunkt waren unsere beiden Teams – je ein:e Ärzt:in und zwei Pflegerinnen oder Rettungssanitäter – in den Trauma Stabilization Points (TSP) des Al-Auda-Spitals in Nuseirat und des Al-Aksa-Spitals in Deir al-Balah. Das sind Zelte, die zwischen den Spitalgebäuden aufgebaut werden und als Notaufnahmen dienen. Ich selbst bin als Einsatzleiter die meiste Zeit koordinierend im Gästehaus, das war ich auch an diesem Tag.

Was ist genau passiert?

Seit der Nacht hatte es ständig Luftschläge gegeben. Am Vormittag gab die israelische Armee eine Warnung heraus: Die Patient:innen des Al-Aksa-Spitals sollten weder auf die Strasse noch ans Fenster gehen. Wir rechneten also damit, dass dort etwas passiert – bis wir dann erfuhren, dass die Armee in Nuseirat Geiseln befreite. Das Haus, in dem eine der Geiseln festgehalten wurde und das die Armee später gesprengt hat, war nur wenige Hundert Meter vom Spital entfernt. Weil die Handyverbindung in Gaza schlecht ist, konnte ich die Teams kaum erreichen. Zu dem Zeitpunkt hatte die israelische Armee zudem in ganz Gaza einen Lockdown verhängt: Die Menschen sollten sich nicht draussen aufhalten, sondern den nächsten sicheren Punkt ansteuern und die Entwicklungen des Tages abwarten. Trotz des spärlichen Informationsflusses kamen immer wieder Berichte von einem riesigen Andrang schwerstverletzter Patient:innen: Die Teams mussten über Verletzte und Tote steigen, um andere Verletzte zu versorgen. Die Operation zur Befreiung der Geiseln geriet völlig ausser Kontrolle: 250 Menschen starben.

Erfahrener Sanitäter

Thorsten Schroer (43) arbeitet seit 2022 als «Head of Mission» bei der Berliner Hilfsorganisation Cadus. Nach der Schule ging er für sechs Jahre zur Bundeswehr, anschliessend arbeitete er als Rettungssanitäter und immer wieder als humanitärer Helfer. Seit der Gründung 2014 leistet Cadus medizinische Nothilfe und bietet humanitäre Unterstützung an, etwa (gemeinsam mit anderen Organisationen) mit einem Rettungsboot im Mittelmeer, mobilen Spitälern im Irak und in Syrien, an der polnisch-belarusischen Grenze oder auf Lesbos. Derzeit sind Teams in der Ukraine und in Gaza im Einsatz.

Schroer war in diesem Jahr zweimal in Gaza – im Februar für zwei und im Sommer für sieben Wochen.

 

Thorsten Schroer

Sie sagen, die israelische Armee habe die Menschen aufgefordert, einen sicheren Ort aufzusuchen. Gibt es das in Gaza überhaupt?

Das ist mehr ein geflügeltes Wort. In Gaza ist es nirgends sicher. Wir Helfer:innen haben die Möglichkeit, unsere Aufenthaltsorte zu «deconflicten», wir teilen also die Koordinaten unserer Gästehäuser und die Bewegungen unserer Fahrzeuge mit den Israelis. Das gibt uns ein wenig Sicherheit, aber auch nur ein wenig – und die Regelung gilt für internationale Organisationen, aber in keinster Weise für die Zivilbevölkerung. Es gibt keinen sicheren Platz in Gaza. Punkt.

Der Gazastreifen ist extrem dicht besiedelt. Gibt es Unterschiede zwischen den verschiedenen Gebieten, was die humanitäre Situation angeht?

Es gibt die «humanitäre Zone» an der Küste – die Anführungszeichen sind in diesem Fall sehr wichtig –, Rafah im Norden und den Ostteil. Vergleicht man es mit Berlin, sind das eher Stadtteile. Je nachdem, wo gerade israelische Bodenoffensiven stattfinden, ist die Intensität der Luftschläge unterschiedlich. Aber das wechselt ständig, teilweise täglich. Und Luftschläge können sowieso überall und jederzeit stattfinden. Haben die Israelis jemanden als «person of interest» oder Bedrohung identifiziert, greifen sie die Person oder Gruppe an. Und es ist völlig egal, wo die sich zu dem Zeitpunkt aufhält.

Wie sieht die Arbeit in Gaza konkret aus?

Seit März 2022 arbeiten wir in der Ukraine im «MedEvac»-Bereich, also bei der Evakuierung von Verletzten aus frontnahen Gebieten. Auch nach Gaza kamen wir zuerst dafür. Weil es aber ein so kleines Gebiet mit zu wenigen Spitälern ist, verlagerten wir unsere Arbeit relativ schnell in die TSPs. Weil unsere palästinensischen Kolleg:innen immer wieder Probleme an den israelischen Checkpoints haben und für uns das Passieren viel leichter ist, evakuieren wir aber zwischendurch immer noch Menschen von Nord nach Süd.

Welche Verletzungen haben Sie bei Ihrer Arbeit am meisten angetroffen?

Die meisten stammen von Explosionen oder Schüssen: innere Blutungen, abgerissene oder zerfetzte Körperteile. Entsetzliche Verletzungen! Da wird in einem extrem dicht besiedelten urbanen Gelände Krieg geführt – die Anzahl getöteter oder verletzter Zivilist:innen ist exorbitant hoch. Die Menschen können nicht ausweichen, sich nirgends in Sicherheit bringen, nichts tun, um das Risiko für sich zu minimieren. Sie sind komplett ausgeliefert, und das Land verlassen können sie auch nicht.

Wie ist die medizinische Versorgung in Gaza derzeit?

Es gibt noch Spitäler, aber es werden immer weniger, und viele sind beschädigt. Vielerorts ist medizinisches Equipment zerstört worden, die Infrastruktur ist zusammengebrochen und wird nur notdürftig aufrechterhalten. Strom gibt es nur aus Fotovoltaik oder Generatoren. Benzin ist extrem teuer und kommt nur schwer nach Gaza hinein. Zugleich sind die Spitäler heillos überfüllt. Rein zahlenmässig gibt es zwar genug Personal, aber das ist auch vom Krieg betroffen: Als Binnenvertriebene haben sie mehr als genug mit dem eigenen Leben zu tun, und dann müssen sie noch unter schwersten Bedingungen arbeiten. Die Spitäler werden teilweise als Unterschlupf genutzt: Auch Patient:innen, die entlassen werden, bleiben, weil sie die relative Sicherheit dort nicht aufgeben wollen. Wohin sollten sie auch gehen?

Wie geht es dem medizinischen Personal?

Wie allen Einwohner:innen von Gaza. Die meisten sind innert zehn Monaten mehrfach vertrieben worden – vier, fünf, sechs Mal. Sie müssen immer wieder zusammenpacken, umziehen, immer wieder kommen neue Evakuierungsbefehle. Die Leute werden von A nach B gedrängt, dann nach C, nach D und E. Das Personal des palästinensischen Roten Halbmonds, mit dem wir sehr eng zusammenarbeiten, ist völlig am Ende. Gerade die Notfallteams waren immer wieder Ziel von Angriffen, Ambulanzcrews wurden im Einsatz getötet oder an den Checkpoints verhaftet und teils für mehrere Tage festgehalten.

Ist denn über die Erstversorgung von Schwerverletzten hinaus medizinisch überhaupt noch etwas möglich?

Das Personal in den Spitälern ist sehr resilient, aber es mangelt einfach an allem – an Dingen des täglichen Bedarfs, aber auch an Bettenkapazität und an spezialisierten Eingriffsmöglichkeiten. Um die 8000 Personen müssten dringend zur weiteren Behandlung aus dem Gazastreifen evakuiert werden. Die WHO konnte zusammen mit uns bloss um die 300 Patient:innen ins Ausland bringen.

Was wird am dringendsten benötigt, um das Leid zu lindern?

Wir humanitären Helfer:innen müssen uns frei bewegen, unsere Hilfsgüter und Dienste frei verteilen können. Darüber hinaus braucht es zuallererst und am dringendsten einen Waffenstillstand, damit zumindest das akute Töten, Verletzen und Zerstören aufhört. Es gibt derzeit keine verlässlichen Pläne, die über die nächsten 24 Stunden hinausgehen, alles ist unglaublich aufwendig und gefährlich. Und ich rede vom sehr privilegierten Standpunkt eines humanitären Helfers aus, der sieben Wochen dort ist. Ich kann mir nur in sehr groben Zügen ausmalen, wie es für die Zivilbevölkerung ist. Ohne Waffenruhe sind alle anderen Massnahmen bloss Augenwischerei.

Wie haben Sie den Umgang der Kriegsparteien mit Zivilist:innen erlebt?

Mein persönliches Gefühl ist: Die Bevölkerung von Gaza ist gefangen zwischen Hammer und Amboss, politischer Spielball grosser Mächte, auf deren Goodwill die Menschen komplett angewiesen sind. Dass sich die Israelis mindestens nicht für ihr Wohlbefinden interessieren, ist mehr als offensichtlich. Aber das Gleiche gilt für die Hamas, deren Kämpfer sich um Zivilist:innen herum bewegen und die ihre politischen Ziele vor deren Wohlbefinden stellen. In meinen Augen tragen sie alle einen Teil der Schuld.

Hinzu kommt: Laut einem Bericht der Integrated Food Security Phase Classification sind 96 Prozent der Menschen in Gaza von akuter Unterernährung bedroht.

Im Norden gab es immer wieder Fälle von Unterernährung, aber bisher keine grossflächige Hungersnot. Was wichtig zu verstehen ist: In Gaza selbst wird nichts produziert, alles muss importiert werden, und die Grenzen werden komplett von der israelischen Armee kontrolliert. Insgesamt scheint es im Moment genug zu essen zu geben – auch wenn von ausgewogener Ernährung sicher nicht die Rede sein kann, vor allem nicht für Kinder oder Menschen mit speziellen Bedürfnissen. Würden die Grenzen aber ganz dichtgemacht, würden die Leute zu hungern beginnen.

Sie waren auch schon als «Head of Mission» in der Ostukraine. Wie hat sich der Einsatz dort von jenem in Gaza unterschieden?

Das hört sich vielleicht zynisch an, und ich möchte nichts kleinreden – individuelles Leid zu vergleichen, verbietet sich: Aber die Ukraine ist ein linearer Konflikt zwischen zwei Ländern. Es gibt eine klare Frontlinie und einen rund zwanzig Kilometer tiefen, extrem gefährlichen Bereich dahinter, aber jenseits davon existiert ein relativ normales Leben. Natürlich schlagen auch in Kyjiw oder Dnipro Raketen ein, aber die Menschen gehen ihren Jobs nach, sie können reisen und das Land verlassen, es gibt eine funktionierende Gesundheitsversorgung und Lebensmittel. Das lässt sich kaum mit der irregulären Kriegsführung in Gaza vergleichen. Dort kämpft eine der technisch am meisten hochgerüsteten Armeen gegen eine Terrorgruppe, die ihre Kriegsführung ebenfalls perfektioniert hat.

Was bedeuten diese Unterschiede für Ihre Arbeit?

In der Ukraine kannst du langfristig planen, frei ein- und ausreisen, du hast keinen Mangel an essenziellen Dingen. In Gaza, wo es keine Frontlinie gibt, ist alles weniger planbar. Als ich im Mai zum zweiten Mal dort ankam, fühlte sich das an wie ein komplett neuer Einsatz. Die Situation ist viel volatiler – und gefährlicher. In der Ukraine kann ich als Einsatzleiter mit relativ geringem Aufwand meine Leute zu 95 Prozent sicher halten. In Gaza mache ich mit dem riesigen Aufwand, den ich betreibe, vielleicht einen Unterschied von 5 Prozent, was die Sicherheit angeht, weil so vieles ausserhalb meiner Kontrolle liegt.

Sie waren in verschiedenen Krisengebieten unterwegs. Welche Folgen hat der Krieg für eine Gesellschaft?

Tendenziell verroht man, stumpft ab, gewöhnt sich an Gewalt. In Gaza wird es Generationen dauern, sich von Leid und Traumata zu erholen. Wie soll man die Leute mit posttraumatischen Belastungsstörungen behandeln? Was passiert mit den physisch Verletzten? Rehabilitationsmassnahmen in dem Ausmass wären schon für jedes reiche Land eine riesige Herausforderung … Und sobald die Leute Gaza verlassen können, wird es wohl eine riesige Fluchtbewegung geben – da entwickelt sich dann das nächste Vertreibungstrauma.