Der WOZ-Blog zum Ukrainekrieg

«Jetzt brauchen wir Ruhe und Frieden»

Verbrachten zwei Monate in den Bunkern von Asowstal: Tania und Ihor Trotsak, Sergei Tsybultschenko, Larissa Yurkina.

Vier Zivilist:innen, die aus dem Asow-Stahlwerk in der belagerten ukrainischen Hafenstadt Mariupol evakuiert worden sind, berichten von den schrecklichen Wochen in den Katakomben.

«Einen Monat lang hatten wir jeden Tag gehofft, dieser Hölle zu entkommen, aber nach den ersten dreissig Tagen im Bunker haben wir die Hoffnung verloren.» Ihor Trotsak hat es immer noch im Kopf, das unaufhörliche Getöse der Bomben, die über ihm explodierten, die zitternden Wände, das Gefühl, dass von einem Moment auf den anderen alles über ihm zusammenbrechen kann. Der 27-jährige Elektronikingenieur hat mit seiner Frau Tania, seinen Schwiegereltern und dem Hund Daisy zwei Monate lang in den Katakomben des Asow-Stahlwerks in Mariupol ausgeharrt – zusammen mit Hunderten Zivilist:innen und einigen Einheiten des ukrainischen Heeres.

«Wir waren in einem Gang, drei Meter unter der Erde, es war sehr feucht, kalt, die Kleider waren immer nass und die Luft schlecht. Zwei Monate lang haben wir kein Tageslicht gesehen», erzählt Tania. Im Stahlwerk schliefen sie auf dem Boden, einmal am Tag gab es eine Dose Thunfisch oder Sardinen, und sie erhielten keinerlei Informationen darüber, was ausserhalb des Bunkers und im Rest des Landes passierte. «Irgendwann haben wir ein Radio gefunden, und damit bekamen wir dann einige Informationen», berichtet Tania weiter.

Sie und ihre Familie wurden am 3. Mai mit weiteren 101 Personen in einem humanitären Konvoi evakuiert. Das Rote Kreuz und die Uno hatten ihn nach langen Verhandlungen mit der russischen Regierung organisieren können. Auch Uno-Generalsekretär António Guterres hatte sich dafür starkgemacht. Mittlerweile sind alle Zivilist:innen, die im Asowstal-Werk ausharren mussten, in Sicherheit.

Die aktuelle Situation der mehr als 2000 ukrainischen Soldat:innen im Stahlwerk hingegen ist derzeit unübersichtlich. Der «Guardian» berichtet aktuell unter Berufung auf russische Quellen, dass sich seit Anfang der Woche 1730 ukrainische Soldat:innen ergeben hätten, darunter 80 Schwerverletzte.

Wochenlang kein Tageslicht

Die evakuierten Zivilist:innen aus dem Stahlwerk haben noch Extremeres durchgemacht als die anderen Menschen aus Mariupol. In der von russischen Truppen bombardierten und besetzten Hafenstadt am Asowschen Meer im Süden der Ukraine hat es nach Schätzung der ukrainischen Regierung bis zu 20 000 Tote gegeben. Tania und Ihor Trotsak waren am 2. März in die Luftschutzbunker des Stahlwerks geflüchtet, die noch aus der Sowjetzeit stammen. Sie wussten davon, weil Tanias Mutter früher im Werk gearbeitet hatte – wie fast alle, die dort Zuflucht suchten. «In unserem Tunnel waren wir ungefähr vierzig Personen», sagt Tania, die während des Gesprächs im Sessel eines Hotelzimmers in Saporischschja sitzt, einer Grossstadt im Süden der Ukraine, etwa dreissig Kilometer hinter der Front. Mit nervösen Händen hält sie das Halsband von Daisy fest, die unter dem Tisch aus ihrem Napf frisst.

«Wir hatten einen weiteren Hund dabei, einen Cockerspaniel, der schon sehr alt war, fünfzehn Jahre. Er war nicht mehr bei guter Gesundheit», sagt Tania. «Nach den ersten Wochen im Bunker ging es ihm zu schlecht, und wir haben die Soldaten gebeten, ihn einzuschläfern», erzählt sie weiter, während sie Fotos des Hundes zeigt. «Er hiess Jerry, wie bei ‹Tom und Jerry›.»

Die Frauen und Kinder verliessen die Bunker nie, während die Männer abwechselnd einige Stunden lang hinausgingen, um Essen und Wasser zu besorgen. Aber das war sehr gefährlich. «In den letzten zwei Wochen war die Bombardierung so heftig, dass keiner mehr die Bunker verliess und wir Angst hatten, dass alles zusammenbricht und wir unter den Trümmern begraben werden», erzählt Tania.

«An die Angst gewöhnt man sich nicht»

Auch die 57-jährige Larissa Yurkina hat zwei Monate in den Bunkern von Asowstal verbracht, zusammen mit ihrem Mann, ihrer 24-jährigen Tochter und deren 4-jährigem Sohn. Ihren Tunnel teilten sie sich mit weiteren 72 Personen, darunter 16 Kinder unterschiedlichen Alters. «Jedes Mal, wenn wir etwas assen, dachten wir, es könnte das letzte Mal sein», sagt sie. Zuerst durften die Kinder essen, dann die Frauen, zuletzt die Männer. «Ich habe acht Kilo abgenommen, mein Mann sechzehn», erklärt sie. Yurkina war Lehrerin in Mariupol. Sie trägt lange, zusammengebundene schwarze Haare, und ihr Blick ist immer noch glanzlos, als sie sagt: «Angst ist etwas, woran man sich nicht gewöhnt.»

Ins Stahlwerk haben sich neben den Zivilist:innen auch verschiedene ukrainische Militäreinheiten zurückgezogen, darunter das Asow-Regiment. Dieses wurde 2014 als Freiwilligenbataillon gegründet und ist mittlerweile Teil der ukrainischen Nationalgarde. Die genaue Grösse des Regiments ist nicht bekannt, Schätzungen gehen von ein paar Tausend Mitgliedern aus. Das Regiment hat rechtsextreme Wurzeln, und gemäss Sicherheitsforscher:innen gibt es nach wie vor – auch ranghohe – Mitglieder, die eine rechtsextreme Gesinnung aufweisen, auch wenn es heute weit heterogener aufgestellt ist als 2014.

«Wir hatten keinen direkten Kontakt zu den Soldaten», sagt Sergei Tsybultschenko. «Sie brachten uns Essen oder Wasser, aber es gab keine Beziehung zu ihnen», fährt der 65-jährige Ingenieur fort. «Wir haben uns dort hineingeflüchtet, weil die Bombardierungen zu Beginn des Krieges so massiv waren – das Feuer kam vom Himmel, vom Meer, von überallher.» Der einzige Gedanke, der ihn am Leben gehalten habe, sei die Hoffnung gewesen, herauszukommen. «Der Lärm der Bombardements war unerträglich, wir fragten uns jeden Moment: Wann wird das ein Ende haben?» Sie hätten verschiedene Male versucht, vom Gelände zu fliehen, aber rund um das Stahlwerk seien Dutzende von Minen gelegt worden.

Alles in Trümmern

Die humanitäre Aktion, mit der am 3. Mai 101 Personen aus dem Stahlwerk befreit werden konnten, war sehr kompliziert. Die Verhandlungen dauerten fünf Tage, obwohl es eine Vereinbarung zwischen Kyjiw und Moskau über die Evakuierung gab. «Als man uns gesagt hat, dass wir den Bunker verlassen könnten, haben wir es nicht geglaubt. Wir dachten, es stimmt nicht», sagt Tsybultschenko. Die russischen Truppen inspizierten und verhörten die Evakuierten aus dem Stahlwerk und versuchten, sie zu überzeugen, nach Russland oder in die russisch besetzten Gebiete der Ukraine auszureisen; ausserdem hatten die Helfer:innen der Uno und des Roten Kreuzes keinen Zugang zum Werk und konnten daher nicht feststellen, wie viele Zivilist:innen dort noch eingeschlossen waren und in welchem Gesundheitszustand sie waren.

«Die Soldaten kamen und sagten uns, wir sollten uns bereit machen», erzählt Ihor Trotsak. Zuerst jedoch handelte es sich um «falschen Alarm», alle hätten sich vorbereitet, doch die Evakuierung konnte nicht stattfinden. Dann kamen die Soldaten noch einmal, und diesmal klappte es. Draussen hätten sie nur Ruinen gesehen. «Alles in Trümmern», wiederholen Tania und Ihor Trotsak im Chor, wenn sie an den Anblick zurückdenken, der sich ihnen bot, als sie den Bunker verliessen. Einige hätten das Stahlwerk verlassen, dann aber Angst bekommen und lieber zurückgewollt. 32 der Geretteten entschieden sich, im russisch besetzten Gebiet zu bleiben. «Wir haben das Stahlwerk am 1. Mai verlassen, sind aber erst am 3. Mai in Saporischschja angekommen, zwei Tage lang wurden wir immer wieder kontrolliert», erzählt Sergei Tsybultschenko. «Nach den ersten vierzig Kilometern hat man uns gestoppt, wir waren noch auf von Russland besetztem Gebiet.»

«Vor dem Krieg hatten wir ein normales Leben», sagen Ihor und Tania Trotsak, seit sieben Jahren sind sie ein Paar, seit fünf Jahren verheiratet. «Wir waren glücklich. Jetzt brauchen wir nur Ruhe und Frieden. Wir gehen in die Karpaten, dort ist die Situation ruhig und einige Freunde werden uns aufnehmen. «Wir besitzen nichts mehr; was wir am Leib tragen, bekamen wir geschenkt. Wir müssen ganz von vorn anfangen. Und das wird seine Zeit dauern. Aber wir haben Glück, dass wir leben», schliesst Tania mit feuchten Augen ihre Erzählung.

Aus dem Italienischen von Elke Mählmann.