Der WOZ-Blog zum Ukrainekrieg

«Ich habe in Lugano nichts von Menschenrechten gehört»

Oxana Pokaltschuk im Amnesty-Büro in Lugano
«Der Wiederaufbau sollte sich nicht an den Interessen der Staaten oder Firmen ausrichten, sondern an jenen der Menschen»: Oxana Pokaltschuk im Amnesty-Büro in Lugano. Foto: Sarah Rusconi

Oxana Pokaltschuk ist Direktorin von Amnesty International in der Ukraine. In einem Interview am Rand der Lugano-Konferenz fordert sie mehr Aufmerksamkeit für die Binnenvertriebenen und spricht über die schwersten Kriegsverbrechen.

WOZ: Oxana Pokaltschuk, an der Ukrainekonferenz in Lugano letzte Woche wurde viel über den Wiederaufbau des Landes geredet, über eine blühende Ukraine der Zukunft. Die humanitäre Situation und die benötigte Hilfe waren kaum ein Thema. Ist das ein Fehler?

Oxana Pokaltschuk: Die Konferenz ist ein Anfang, ein erster Schritt hin zur Solidarität. Wir sind sehr dankbar, dass so viele Staaten und Institutionen die Ukraine unterstützen, die Infrastruktur und die Wirtschaft. Doch leider habe ich in Lugano nichts von den Menschenrechten gehört. Einzig die EU-Kommission will fünfzig Millionen Euro für die demokratische Entwicklung der Ukraine zur Verfügung stellen. Das wars dann aber auch schon. Meiner Meinung nach hätte an der Konferenz die Zivilgesellschaft weit mehr involviert und angehört werden sollen. Denn ohne einen klaren Fokus auf die Menschenrechte wird auch keine dauerhafte Stabilität des Landes erreicht werden.

Amnesty International forderte bereits vor der Konferenz, die Menschenrechte müssten im Zentrum des Wiederaufbaus stehen. Was meinen Sie damit konkret?

Dass der Wiederaufbau nicht an den Interessen des Staates oder der grossen Firmen ausgerichtet wird – sondern nach den Bedürfnissen der Individuen. Wenn wir uns überlegen, wie wir das Land wieder aufbauen sollen, müssen wir zuerst an die Leute denken, die unter dem Krieg leiden und Unterstützung brauchen. Ich bin überzeugt: Ohne einen angemessenen Einbezug der Menschenrechte in den Entwicklungsprozess werden wir in drei Jahren ohne Geld dastehen – und keine positiven Ergebnisse erzielt haben.

Die ukrainische Regierung hat in Lugano erstmals ihren Wiederaufbauplan präsentiert. War Amnesty eingeladen, Ideen zu diesem Plan beizutragen?

Wir waren nur eingeladen, an der Konferenz teilzunehmen, doch im Vorfeld wurden wir nicht angehört. Amnesty ist eine grosse, internationale Organisation und wir haben eine Menge Erfahrung mit Konflikten. Es ist schade, dass unser Know-how – wie auch das von Grassroots-Bewegungen – nicht für diesen Prozess genutzt wird.

Und was denken Sie über den Wiederaufbauplan?

Wir müssen zuerst mehr Details sehen, im Moment klingt der Plan noch sehr wolkig. Frei nach dem Motto: Gebt uns Geld, wir halten uns dafür an einige Prinzipien. Für uns ist es sehr wichtig, dass die Ukraine zuerst Hilfe für marginalisierte Gruppen erhält, besonders für die Binnenvertriebenen. Der Winter wird kommen, und wo sollen dann all die Leute wohnen? Auch die medizinische Unterstützung ist wichtig.

Können Sie die Situation der Binnenvertriebenen näher beschreiben?

Immer mehr Leute fliehen aus dem Osten ins Landesinnere und nach Westen. Die Regierung stellt ihnen temporäre Bauten zur Verfügung, sie haben also im Moment ein Dach über dem Kopf und sanitäre Anlagen, verfügen aber über keine Heizungen. Diese Bauten sind sicher das Beste, was kurzfristig möglich ist – aber sie sind nicht geeignet für den Winter. Der ist in der Ukraine sehr kalt, ohne Heizung übersteht man ihn nicht. Die grosse Frage ist also, was wir für diese Leute tun können. Sicher kann man die zerstörten Gebäude wieder aufbauen, aber das geht selbstverständlich nicht so schnell. Ich hoffe, dass die Regierung hier eine Lösung findet.

Was können internationale Organisationen oder auch Staaten wie die Schweiz tun, um Hilfe zu leisten?

Am wichtigsten sind Ideen. Es gibt bestimmt irgendwo auf der Welt Lösungen, wie diesen Menschen praktisch geholfen werden kann – vielleicht auch in der Schweiz. Ich denke, es ist im Interesse aller Beteiligten, sich um die Binnenvertrieben zu kümmern. Der Krieg wird nicht bald enden, und es ist besser, die Leute in der Ukraine zu unterstützen, als dass diese nach Westeuropa fliehen müssen.

Neben dem Bedürfnis nach einer Wohnung für den Winter: Was ist derzeit das grösste humanitäre Problem für die Menschen in der Ukraine?

Die Sicherheit. Die Raketen schlagen überall ein. Sie werden zufällig abgeschossen, können überall landen, und niemand kann sich sicher fühlen. Denken wir an den Beschuss eines Einkaufszentrums in Krementschuk Ende Juni. Was war der Grund, es zu beschiessen? Wenn da eine Nato-Basis gewesen wäre, dann könnte man das immerhin noch begründen. Aber so? Und warum haben sie am Tag angegriffen und nicht in der Nacht? Sie haben die Raketen abgefeuert, als sehr viele Leute in dem Geschäft drin waren.

Was ist das bisher schlimmste Kriegsverbrechen der russischen Armee?

Für mich ist es der Raketenangriff auf das Theater von Mariupol. Es war völlig klar, dass es sich um ein ziviles Ziel handelt. Wir von Amnesty haben in einer Untersuchung klar bewiesen, dass es sich um ein Kriegsverbrechen handelt. Überhaupt ist die Zerstörung von Mariupol ein unfassbares Verbrechen. Wir haben keine Vorstellung, was dort passiert ist. Auch nicht, wie viele Menschen getötet wurden. Wir haben Bilder von Massengräbern. Wie viele Menschen sind darin begraben?

Aufgrund des russischen Angriffs ist die Ukraine selbst zur Kriegspartei geworden. Was wissen Sie über Menschenrechtsverletzungen der ukrainischen Truppen?

Es gibt grundsätzlich keine Möglichkeit, dass eine Armee während eines Krieges keine Verbrechen begeht. Unser Problem ist derzeit, dass die Gebiete, auf denen wir solche seitens der ukrainischen Armee befürchten, besetzt sind. Man muss ins Feld gehen können, um Kriegsverbrechen zu untersuchen. Sobald es möglich ist, werden wir das auch tun.

Wie ist Ihr Verhältnis zur ukrainischen Regierung? Kann Amnesty seine Arbeit unabhängig machen?

Bisher stellt sich die ukrainische Regierung unserer Kritik. Sie fragen uns, wie sie die Menschenrechte besser garantieren können. Sie sind wirklich offen. Doch leider gibt es sehr viele aggressive Reaktionen aus der Gesellschaft auf unsere Kritik. Dieser Krieg, das muss man verstehen, hat für jede und jeden eine persönliche Dimension, jede Person ist involviert. Jede Familie hat eine Geschichte: dass jemand im Militärdienst ist, verletzt wurde oder getötet. Dass das Haus zerstört wurde. Wenn man also die Ukraine kritisiert, fühlen sich viele persönlich angegriffen. Normalerweise ist das umgekehrt: Die Regierung ist nicht glücklich, wenn man sie kritisiert. Und die Gesellschaft findet es gut.

Oxana Pokaltschuk ist seit 2016 Direktorin von Amnesty International in der Ukraine. Zuvor arbeitete die Anwältin am Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Strassburg.