Ukraine-Konferenz: Der knausrige Gastgeber

Nr. 22 –

Anfang Juli findet in Lugano die erste Konferenz zum Wiederaufbau der Ukraine statt. Dabei möchte FDP-Aussenminister Ignazio Cassis noch nicht über die Finanzierung sprechen. Warum bloss?

Hat er den Schuss nicht gehört? Aussenminister Ignazio Cassis macht im Rahmen des Weltwirtschaftsforums Werbung für die Konferenz zum Wiederaufbau der Ukraine. Foto: Laurent Gilliéron, Keystone

Ein energischer Macher, bestens vernetzt, auf dem internationalen Parkett zu Hause: So sieht sich Ignazio Cassis selbst am liebsten. Bald bekommt der FDP-Bundesrat die Gelegenheit, sich auch der Weltöffentlichkeit entsprechend zu präsentieren. Anfang Juli findet in Lugano die Ukraine-Reformkonferenz statt, die seit 2017 jedes Jahr in einer anderen Stadt zu Gast ist. Ganz im Zeichen des Wiederaufbaus stehend, wurde sie kurzerhand in «Ukraine Recovery Conference» umbenannt.

Es ist die erste internationale Konferenz zur Ukraine seit Beginn des russischen Angriffskriegs. Alle Augen werden auf den Heimatkanton des Aussenministers gerichtet sein. Am Weltwirtschaftsforum (Wef) in Davos hat Cassis schon einmal kräftig für die Konferenz geweibelt: am Abendessen mit EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen, beim gemeinsamen Auftritt mit dem ukrainischen Aussenminister Dmitro Kuleba. «Kooperative Neutralität» nennt Cassis seinen neuen Ansatz. Nach einigen Verstimmungen, weil die Schweiz die internationalen Sanktionen gegen Russland bloss zögerlich übernahm, wird fast die ganze Welt zu Gast bei Schweizer Freund:innen sein.

Partnerin fürs internationale Kapital

41 Staaten sowie 19 internationale Organisationen – vom Internationalen Währungsfonds (IWF) und der Weltbank bis zu Uno und Nato – haben eine Einladung erhalten, um in Lugano über die Zukunft der kriegsversehrten Ukraine zu beraten. Auf Nachfrage erklärt das Aussendepartement (EDA), auch Repräsentant:innen der ukrainischen Zivilgesellschaft nach Lugano einladen zu wollen. Eine Forderung, die zuletzt eine Plattform von rund neunzig Schweizer NGOs gestellt hatte.

Als «Kick-off» bezeichnete Cassis am Montag im SRF den anstehenden Event. Es werde dabei «nicht um Geld» gehen; stattdessen wolle man den Prozess für den Wiederaufbau aufgleisen, die Prinzipien dieses Prozesses festlegen und die Reformen bestimmen, die mit dem Wiederaufbau einhergehen müssten. Auch solle die Konferenz dazu dienen, die involvierten Akteure festzulegen: «Wer darf neben der Ukraine am Tisch sitzen?», fragte sich Cassis.

Dass es bei der Konferenz dennoch um Geld geht, zeigt allerdings allein schon deren Geschichte: Gedacht war das Treffen, um der Ukraine die Gelegenheit zu geben, «ihren Fortschritt zu präsentieren». Die «internationalen Partner» wiederum können «ihre Unterstützung ausdrücken». Zusammen sollen die «Stakeholder untersuchen, welche nächsten Schritte im Reformprozess» nötig seien, heisst es in der Präsentation auf der Website.

Mit anderen Worten: Standortmarketing für die Ukraine, die in den letzten Jahren im Turbogang eine neoliberale Reform nach der anderen umgesetzt hat, um sich als zuverlässige Partnerin für das internationale Kapital zu präsentieren. Dieses durfte sich derweil neue Felder erschliessen und sich davon überzeugen, dass der osteuropäische Staat ein guter Ort für Investitionen ist.

Die Schweiz am Rand

Entsprechend wird es auch in Lugano um sehr viel Geld gehen, diesmal für den Wiederaufbau. Doch erst müsse man festlegen, wie viel überhaupt benötigt werde, so Cassis. Die ukrainische Regierung schätzte die Kosten Anfang Mai auf rund 600 Milliarden US-Dollar, manche rechnen gar mit bis zu einer Billion. Am Wef wiederum sprach Präsident Wolodimir Selenski von 5 Milliarden pro Monat.

Inzwischen dürften die Kosten bereits höher liegen – denn der Krieg geht unerbittlich weiter, bringt nicht nur unermessliches Leid über die Bevölkerung, sondern treibt auch die Zerstörung von Wohnhäusern, der Infrastruktur und von Agrarflächen voran. Ein Ende ist zurzeit nicht in Sicht. Hinzu kommt, dass die hochverschuldete Ukraine ihre Zahlungen an internationale Kreditgeber wie den IWF weiter begleichen muss. Und die Schuldenlast wird weiter steigen, sollte die Ukraine die Aufbaugelder in Form von Krediten erhalten. Deshalb fordern führende Ökonom:innen, darunter die Genfer Professorin Beatrice Weder di Mauro, in einer kürzlich publizierten Studie, auf Kredite zu verzichten und stattdessen Beihilfen ohne Rückzahlungspflicht zu leisten.

Doch besonders die EU, die beim Wiederaufbau eine führende Rolle für sich beansprucht, pocht bislang auf Rückzahlung. Sie will bis zu 9 Milliarden Euro in Form von niedrigverzinsten Krediten zahlen, damit die Ukraine ihre laufenden Ausgaben decken kann. Die G7-Staaten hingegen haben Hilfen von insgesamt 19,8 Milliarden Euro zugesichert, einen Grossteil davon bilden Zuschüsse, die nicht zurückgezahlt werden müssen. Immer wieder ist in Anlehnung an den Wiederaufbauplan nach dem Zweiten Weltkrieg von einem «neuen Marshallplan» die Rede.

Und die Schweiz? Dass Aussenminister Cassis die Geldfrage stets zur Seite schiebt, passt zur Politik des Bundesrats. Die finanzielle Unterstützung der Ukraine fällt bislang bescheiden aus. 30,5 Millionen Franken hat die Schweiz «als Reaktion auf die Krise in der Ukraine» ausbezahlt, 5 davon gingen nach Moldawien. Das im März gross angekündigte Hilfspaket über 80 Millionen muss das Parlament erst noch genehmigen.

Während andere Staaten Milliarden sprechen, steht die Schweiz am Rand. Deutlich macht das der europäische Vergleich. Das Kieler Institut für Weltwirtschaft hat die Hilfszahlungen von über dreissig Ländern zusammengetragen. Der für die Schweiz peinliche Befund: Gemessen am Bruttoinlandsprodukt haben bisher nur Malta und Zypern weniger Unterstützung geleistet. Auch die Konferenz im Tessin dürfte keinen Kurswechsel bringen. Vorgesehen ist, dass die Teilnehmerländer dort erste finanzielle Versprechen machen, Conférencier Cassis dürfte sich allerdings knausrig zeigen. Es werde sich «voraussichtlich eher um einen symbolischen Beitrag handeln», schreibt das EDA im Hinblick auf Schweizer Zusagen.

Solange unklar ist, wie sich die ukrainische Regierung den Wiederaufbau des Landes vorstellt, ist die Zurückhaltung begründbar. Man werde in Lugano einen ersten Entwurf präsentieren, sagte Premierminister Denys Schmyhal bei der gemeinsamen Pressekonferenz mit Ignazio Cassis in Davos. Selenski schwebt indes ein System von Patenschaften vor: Einzelne Staaten, Gemeinden und Unternehmen sollen sich Projekte oder Regionen in der Ukraine aussuchen, deren Aufbau sie dann finanzieren. Gestartet ist bereits die Crowdfundingkampagne «United24» für den Wiederaufbau, mit der Selenski bisher rund 43,7 Millionen US-Dollar gesammelt hat, das meiste davon fürs Militär.

Das Geld zurückholen

Witali Dudin hegt indes keine grossen Hoffnungen bezüglich der Ukrainekonferenz. «Unsere Regierung wird wenig Überraschendes vorschlagen: Vorteile für Unternehmen, Steuererleichterungen, weitere ähnlich populistische Dinge», sagt der Vorsitzende der linken Organisation Sozialnyi Ruch im Videocall aus Kyjiw. «Noch mehr Deregulierung, dem Kapital alle Türen öffnen und alle Barrieren beseitigen – so stellt sich unsere Regierung den Wiederaufbau vor.» Um den Aufbauplan der Regierung demokratisch zu legitimieren, brauche es aber zuerst einen Dialog mit der Bevölkerung, bevor man die Welt um Geld bitte.

Dass freie Fahrt fürs Kapital tatsächlich in etwa dem Motto der Regierung Selenski entspricht, bewies Digitalminister Michailo Fedorow am Wef, als er das Bild von der zukünftigen Ukraine als «Silicon Valley Europas» zeichnete. Stattdessen brauche es Überlegungen zu Nachhaltigkeit und sozialer Verträglichkeit, sagt der studierte Arbeitsrechtler Dudin. «Man kann die Häuser und die Städte schon wieder aufbauen, aber es bringt nichts, wenn sich die Leute die Wohnungen darin nicht leisten können, weil sie keinen Job haben.» Entsprechend solle die internationale Gemeinschaft ihre Hilfszusagen an soziale Reformen in der Ukraine knüpfen.

Fragt man den Aktivisten von Sozialnyi Ruch, woher das Geld für den Wiederaufbau kommen soll, fallen ihm gleich mehrere Punkte ein: Er plädiert dafür, der Ukraine die Auslandsschulden zu erlassen, fordert ein gerechteres Steuersystem und die Konfiszierung russischer Oligarchengelder, wie es auch der SP und vielen EU-Vertreter:innen vorschwebt. Dudin sieht aber auch einen weiteren Hebel: «In Lugano sollte die Ukraine nicht bloss darüber reden, was sie von internationalen Geldgebern bekommt, sondern auch, wie sie das Geld ukrainischer Oligarchen, das auf Schweizer Konten liegt, zurückholen kann.»