Ukraine-Konferenz: Ein Staat als Start-up

Nr. 27 –

Alle Augen richteten sich auf Ignazio Cassis. Dabei waren viele prominente Vertreter der ukrainischen Regierung in Lugano. Was ist ihr Plan für den Wiederaufbau ihres Landes? Die WOZ traf vier Minister.

Politiker:innen stehen für ein Gruppenfoto vor dem Luganersee zusammen
«Ich lade Sie ein in unser wunderschönes Land», sagte Wolodimir Selenski zum Auftakt. Zum Abschluss gabs ein Gruppenfoto vor dem Luganersee. Foto: Alessandro della Valle, EDA, Keystone

Mychajlo Fedorow zückt den Stift. «Dann lasst uns jetzt unterzeichnen!» In seinem schwarzen T-Shirt, den Jeans und den Turnschuhen wirkt der 31-Jährige wie ein Student. Doch Fedorow ist Vizepremier- und Digitalminister der Ukraine. Neben ihm auf dem Podium sitzen die Manager:innen der drei Mobilfunk- und Kabelnetzunternehmen Kyivstar, Vodafone und Datagroup-Volia. Mit ihrer Unterschrift verpflichten sie sich, dreizehn Millionen US-Dollar zur Digitalisierung der Ukraine beizusteuern. Händeschütteln, Selfies: Willkommen im digitalen Wunderland!

Der Unterzeichnung waren grosse Worte vorausgegangen. «Die digitale Infrastruktur ist für unsere Verteidigung wichtig, weil sie nicht durch Marschflugkörper zerstört werden kann», sagte Fedorow. Im Krieg biete sich aber auch die Chance, die Ukraine digital zum fortschrittlichsten Staat der Welt zu entwickeln, und zwar in den nächsten drei Jahren. «Es ist ein Experiment, eine Revolution. Eine Chance für Sie, Ihre Unternehmen und die ganze Welt.» Fedorows Ziel ist ein «bequemer Staat, von dem man nichts mitbekommt». Dazu gehören auch dystopisch anmutende Projekte wie digitale Gerichte, bei denen Roboter Urteile fällen sollen.

Die feierliche Unterzeichnung zum Abschluss des ersten Tages steht sinnbildlich für die «Ukraine Recovery Conference», die am Montag und Dienstag dieser Woche in Lugano stattfand: Zwischen den vielen pathetischen Ansagen wurden viele sehr konkrete Geschäfte gemacht. «Recovery», das heisst vor allem Marktöffnung: Fedorow etwa traf sich nicht nur mit den ukrainischen Unternehmen, sondern auch mit globalen Techkonzernen wie Google und Apple oder der umstrittenen Überwachungsfirma Palantir.

Mitten im Krieg wurde in Lugano also über die künftige ukrainische Gesellschaft verhandelt – was angesichts der Kriegsnachrichten über die blutige Eroberung der Region Luhansk bisweilen etwas Verstörendes hatte. Umso mehr lohnte es sich, das Geschehen genau zu beobachten. Oft war im Vorfeld geschrieben worden, die politische Prominenz fehle in Lugano. Frankreichs Präsident Emmanuel Macron und der deutsche Kanzler Olaf Scholz zogen es beispielsweise vor, in Paris bei einem Dinner über den Krieg gegen die Ukraine zu beraten.

Ein Energielabor für Konzerne

Viel wurde auch darüber spekuliert, ob der Schweizer Aussenminister Ignazio Cassis nun in seinem Heimatkanton einen «B-Anlass» abhalten müsse, unterstützt einzig von EU-Kommissarin Ursula von der Leyen – eine sehr westlich-überhebliche Sicht, weil aus diversen osteuropäischen Ländern die Staatschefs anreisten. Kaum jemand hatte allerdings damit gerechnet, dass eine so grosse ukrainische Delegation eintrifft, um ihren seit Wochen vorbereiteten Wiederaufbauplan zu präsentieren. Die grösste Delegation, die seit Kriegsbeginn ins Ausland gereist ist.

Die WOZ hat sich deshalb an die Fersen der ukrainischen Regierung geheftet, die neben Premierminister Denys Schmyhal gleich mit sieben ihrer mehr als zwanzig Minister:innen anreiste (eine Frau war keine darunter). Auch wenn der Plan erst ein kleiner, erster Schritt ist – was ist ihre Vision für eine Ukraine nach dem Krieg?

Energieminister Herman Haluschtschenko findet noch vor der offiziellen Konferenzeröffnung Zeit für ein Gespräch im Hotel Admiral, gut bewacht von einer Einheit der St. Galler Kantonspolizei. «Schon alles etwas surreal hier», meint ein Polizist bei der Einlasskontrolle. Rechtsanwalt Haluschtschenko, seit Jahren Teil des Staatsapparats, gibt sich derweil als Realist: «Ich muss rasche Entscheidungen treffen – unabhängig davon, ob sie populär sind oder nicht.» So habe er kürzlich zur Sicherung der Energieversorgung den Export von Gas und Kohle aus der Ukraine verboten. «Da haben einige Firmen viel Geld verloren.»

Haluschtschenko fällte aber noch einen anderen umstrittenen Entscheid. Kürzlich schloss die staatliche Atombehörde Energoatom einen Deal mit dem US-Konzern Westinghouse. Dieser soll die ukrainischen AKWs exklusiv mit Brennstäben beliefern, um so die Abhängigkeit von Russland zu minimieren. Und er soll neun neue Atomreaktoren bauen. Die öffentliche Kritik am Vergabeprozess wischt der Minister – freundlich lächelnd, aber resolut – beiseite: «Natürlich wird das Parlament sich noch äussern und die Regulierungsbehörde den Plan überprüfen können.»

Sicherheitsbedenken beim Bau neuer Atommeiler hat Haluschtschenko keine, auch wenn das AKW in Saporischschja zu Beginn des Krieges unter Beschuss geriet und sich derzeit noch immer unter russischer Kontrolle befindet. «Klar, bei einer militärischen Aggression kann es gefährlich werden.» Grundsätzlich sei die neue Technologie wie jene von Westinghouse aber nicht mit den alten sowjetischen Reaktoren vergleichbar.

Neben der Atomkraft setzt der Energieminister auch auf den Ausbau erneuerbarer Energien, um die Pariser Klimaziele zu erfüllen: Ihr Anteil soll auf ein Viertel des Energiebedarfs steigen. «Mein Ziel ist es, alle davon zu überzeugen, dass sich die Ukraine als Versuchslabor für die besten neuen Technologien im Energiesektor eignet», sagt Haluschtschenko. Er vergleicht die Situation mit Rüstungskonzernen: Auch die würden in der Ukraine die Effizienz ihrer neusten Waffen zeigen wollen.

«Das Gute ist», sagt der Minister zum Schluss, «dass wir als Regierung während des Krieges gesetzlich mehr Macht haben. Die Investoren können mir also einfach sagen, was sie brauchen.» Normalerweise brauche es lange, um Genehmigungen zu erhalten, jetzt könne er den Prozess beschleunigen. In Lugano trifft sich Haluschtschenko auch mit Schweizer Energieunternehmen.

Wie all die Projekte gebündelt werden sollen, wird wenig später während der Eröffnung im Kongressgebäude deutlich, zumindest in Ansätzen. Die Medien werden allerdings ausgeschlossen. Während die rund tausend Teilnehmer:innen aus Politik und Wirtschaft Zugang zum Kongresszentrum haben und Transparenz in allen Belangen überhaupt eines der grossen Schlagworte an der Konferenz ist, dürfen die Journalist:innen das Geschehen nur im Livestream verfolgen.

Aufbau als Verteidigung

Eröffnet wird die Konferenz mit den Grussworten von Cassis und einer Videoschaltung zum ukrainischen Präsidenten Wolodimir Selenski in Kyjiw. Beim Angriff Russlands handle es sich nicht um einen Krieg irgendwo im Osten, sondern um eine ideologische Konfrontation, meint dieser. «Der terroristische Staat hofft, dass solche Zerstörungen die Unfähigkeit des demokratischen Systems beweisen.» Entsprechend sei der Wiederaufbau nicht nur ein lokales Projekt, sondern eine Aufgabe der gesamten demokratischen Welt. Diese könne der Ukraine letztlich dankbar sein. «Die EU wie auch die Nato sind dank uns fest geeint.»

Selenskis Ansprache ist rhetorisch bemerkenswert. Die Planung des Wiederaufbaus erscheint als Akt der Verteidigung. Und just das Land, das erst seit wenigen Tagen EU-Beitrittskandidat ist, erinnert die müden Europäer:innen an ihre hehren Werte. Da sind diese erst recht zur Unterstützung verpflichtet. «Ich lade Sie alle in unser wunderschönes Land ein, in das beste der Welt, die Ukraine: Arbeiten Sie mit uns zusammen!», schliesst der Präsident unter Applaus.

Nach Selenski gibt EU-Kommissarin Ursula von der Leyen bekannt, dass sich die EU und die Ukraine auf ein Vorgehen beim Wiederaufbau verständigt hätten. Zwar wird Brüssel eine Koordinationsplattform einsetzen, an der sich Staaten, internationale Organisatoren wie private Kapitalgeber beteiligen können. «Den Lead wird aber die Ukraine haben», verspricht von der Leyen.

Premierminister Denys Schmyhal präsentiert darauf im Stakkato erstmals den Plan zum Wiederaufbau. Zuerst soll direkte Nothilfe im Krieg geleistet werden, dann die zerstörte Infrastruktur erneuert, schliesslich sollen langfristige Ziele für eine Reform des Staates umgesetzt werden. 21 Bände umfasst der Plan, 3000 Expert:innen sollen mitgewirkt haben. Wie das Wirtschaftsmagazin «Forbes» vor der Konferenz schrieb, ist einer der prominenten Berater ausgerechnet Francis Fukuyama, der nach dem Zerfall der Sowjetunion das «Ende der Geschichte» ausrief. Die Kosten zur Instandstellung des Landes schätzt Schmyhal derzeit auf 750 Milliarden US-Dollar.

Ihr Motto wiederholen die ukrainischen Vertreter:innen in Lugano wie ein Mantra: «Build back better!» Das Land soll nicht bloss wiederaufgebaut, sondern aus dem Krieg heraus neu erfunden werden. Die Zukunft der Ukraine soll grüner, digitaler und gesellschaftlich aufgeschlossen sein – und das Land für Investoren und Konzerne neoliberal offen bleiben. Bisweilen fragt man sich beim Zuhören: Reden die von einem Staat – oder von einem Start-up?

Einsicht bei der Bahn

Dazu passt der «Ukrainian Swiss Business Hub», der sich im Hotel Pestalozzi ausgebreitet hat, mit freundlicher Unterstützung des Schweizer Gewerbeverbands. Junge Geschäftsfrauen stöckeln durch die Lobby zum nächsten Networkevent, junge Männer unterhalten sich angeregt über ihre anstehenden Kryptogeschäfte. Im Restaurant hat am frühen Dienstagmorgen der ukrainische Infrastrukturminister Olexandr Kubrakow zum Pressefrühstück geladen. «Wir befinden uns in einer Überlebensphase», sagt er.

Der Fokus des Wiederaufbaus hänge von der jeweiligen Situation in einer Region ab, erklärt Kubrakow. In den befreiten Gebieten brauche es vor allem Strassen und Brücken, «möglichst günstige und schnelle Lösungen» seien vor dem Winter auch für die Hunderttausenden von Menschen nötig, die ihre Häuser und Wohnungen verloren hätten. «Wir brauchen nicht sofort Milliarden, auch ein paar Hundert Millionen können einen grossen Unterschied machen», sagt Kubrakow zur Finanzierung.

Um die globale Nahrungssicherheit zu garantieren, müssten die Exportkapazitäten der Ukraine gesteigert werden. Für die Errichtung sogenannter grüner Korridore im Schwarzen Meer arbeite man mit der Uno zusammen. Der Frachtverkehr auf dem Landweg mit den Nachbarstaaten soll ebenfalls verbessert werden. Und auch die drei Häfen an der Donau liefern gute Resultate: «Wir haben dreissig bis vierzig Prozent der Vorkriegskapazitäten erreicht.»

Als die WOZ den Minister nach dem Zustand der Eisenbahn fragt, leuchten seine Augen kurz auf. Die Zerstörung sei dort zwar ähnlich – die Schäden müssten wegen der strategischen Bedeutung der Bahn für Personen- und Waffentransporte aber laufend repariert werden. «Die Züge verkehren immer noch nach Plan», wirft der ebenfalls anwesende Chef der staatlichen Eisenbahngesellschaft ein.

Und wie steht es um die früheren Pläne, Teile der Bahn zu privatisieren? «Da müssen wir unsere Haltung überdenken», sagt Ökonom Kubrakow. Im Krieg habe man schlechte Erfahrungen mit privaten Unterhaltsfirmen von Strassen gemacht. Diese hätten sich geweigert, Schäden zu reparieren. Selbst wenn also viele der in Lugano diskutierten Ideen nach Start-up klingen mögen, in der Kriegswirtschaft zeigt sich auch der Wert von Gemeingütern. «Mir scheint es besser, wenn die Eisenbahn nahe beim Staat bleibt», meint Kubrakow. Der Eisenbahnchef nickt.

Ein paar Stunden später sitzt Kubrakows Kollege aus dem Umweltministerium unter den schattigen Bäumen im Garten des Medienzentrums. Auch Ruslan Strelets ist keine vierzig und als Minister erst seit wenigen Wochen im Amt. «Unser grösstes Problem ist die Verschmutzung des Wassers und der Böden durch die Zerstörungen des Krieges.» Das Umweltbewusstsein sei im Krieg merklich gestiegen. «Wer mit dem Überleben konfrontiert ist, spürt die Auswirkungen von Naturzerstörungen viel deutlicher, etwa beim Zugang zu Trinkwasser.»

Der Plan zum Wiederaufbau müsse deshalb von ökologischen Überlegungen durchdrungen sein, folgert Strelets. Auch er schwärmt von einer grün-digitalen Zukunft – genauer von einer App, auf der die Ukrainer:innen Umweltschäden an die Behörden melden können. So nützlich diese sein kann – aus den besetzten Gebieten lägen keine ausreichenden Informationen vor, räumt Strelets ein. Und gerade im Schwarzen Meer und im Asowschen Meer sei die Überprüfung der Wasserqualität derzeit schwierig. «Wegen der russischen Kriegsschiffe können wir keine Proben nehmen.»

Strelets will sich in seiner Politik an den Umweltvorgaben der EU orientieren. Auch mit der Schweiz ist er im Gespräch. So konnte er in Lugano ein Klimaabkommen mit Umweltministerin Simonetta Sommaruga abschliessen. «Es schafft eine gesetzliche Grundlage für die Zusammenarbeit, unter anderem für den Handel mit CO₂-Emissionszertifikaten.» Die Ukraine wird so finanziell belohnt, wenn sie in den ökologischen Umbau investiert. Und die Schweiz kann sich vom schlechten Gewissen freikaufen, diesen im eigenen Land nicht konsequent voranzutreiben.

In Lugano betonen die ukrainischen Regierungsvertreter immer wieder, dass ihr Plan breit abgestützt sei. In der Tat wurden auch NGOs wie die ukrainische Umweltorganisation Ecodia angehört. Das Endresultat habe sie zwar noch nicht gesehen, sagt deren Klimaexpertin Anna Ackermann vor dem Kongressgebäude. «Der Plan scheint bisher aber eine reine Wunschliste der verschiedenen Lobbys und Akteure zu sein. Die Regierung benutzt viele schöne Worte, hat aber keine klare Vision, wie sie die Energiewende vollziehen kann.» Bloss die Integration in die EU sei ständig Thema. Auch einen Ausbau der Atomenergie sieht Ackermann kritisch. Ohnehin müsse der weitere Prozess inklusiv gestaltet sein, unter Einbezug der Bevölkerung, der Städte und der Gemeinden.

Während neben Ecodia auch viele liberale Organisationen in Lugano die Wichtigkeit der «Zivilgesellschaft» beim Wiederaufbau betonen, scheint es für die Gewerkschaften keinen Platz zu geben – auch wenn die Frage der Arbeitsplätze wohl eine der inskünftig entscheidenden ist. Ebenfalls in Lugano anwesend, aber nicht in den Plan involviert ist Amnesty International. Im Luganer Büro der Organisation kritisiert die ukrainische Direktorin Oxana Pokaltschuk, dass der Wiederaufbau nicht von der Situation der Bevölkerung ausgehe – sondern vor allem von den Interessen der Wirtschaft. «Die Menschenrechte wurden an der Konferenz kaum erwähnt.»

Oligarchen zur Kasse

Eine Frage, auf die in Lugano auch noch keine befriedigende Antwort gefunden wurde, ist die nach den Kosten: Wer soll den Aufbau bezahlen? Für den ukrainischen Premierminister ist die Antwort klar: «Der Aggressor.» Die wichtigste Finanzierungsquelle seien die Gelder von Oligarchen, die weltweit gesucht und dann konfisziert werden müssten. Schmyhal fordert dies in seiner Eröffnungsrede, und er fordert es nochmals an der abschliessenden Pressekonferenz mit Ignazio Cassis. Der Bundespräsident des Landes, auf dessen Banken Milliarden an Franken von Oligarchen liegen, schweigt daneben. Bis eine Journalistin Cassis doch noch fragt, ob er sich nicht angesprochen fühle.

Da setzt der Gastgeber zu einer fulminanten Rede für die Menschenrechte an. Genauer: für das Menschenrecht auf Eigentum. «Der Bürger muss vor dem Staat geschützt werden!» Gesetzeswidrig wäre eine solche Konfiskation, ein gefährlicher Präzedenzfall. Die Schweiz als diplomatische Vermittlerin, die Schweiz als egoistische Profiteurin: Selten zeigte sie sich so offensichtlich zwiespältig wie an diesen beiden Tagen in Lugano.

Ausführliche Interviews mit Energieminister Herman Haluschtschenko und Amnesty-Direktorin Oxana Pokaltschuk folgen diese Woche im WOZ-Blog zur Ukraine: www.woz.ch/ukraine.