Der WOZ-Blog zum Ukrainekrieg

Eskalation mit Ansage

Seit Mitte Juni sperrt Litauen für bestimmte Güter den russischen Transitverkehr in die Ostseeexklave Kaliningrad. Nun hat der baltische Staat die Sanktionsliste abermals verschärft. Ein riskantes Vorgehen.

Russland kann bestimmte Hightechprodukte und Baumaterialien weder auf der Strasse noch den Schienen in seine Exklave Kaliningrad liefern. Diese faktische Blockade des russischen Transitverkehrs durch Litauen birgt gefährliches Potenzial. Der knapp drei Millionen Einwohner:innen zählende Staat im Baltikum wendet die Sperrung seit dem 17. Juni an; der Transit für Personen und manche Güter wie etwa Lebensmittel ist weiter möglich.

Gescheiterte Verhandlungen

Russland kann die Teilblockade des rund eine Million Einwohner:innen zählenden Oblast Kaliningrad via See- und Luftweg zwar umgehen. Doch es geht auch um symbolische Faktoren – und militärische Fragen. Daher wollte die EU-Kommission vor dem 10. Juli, dem Inkrafttreten des nächsten Sanktionspakets, den Transitverkehr durch Litauen – wie vor dem 17. Juni – wieder zulassen.

Die Verhandlungen zwischen Brüssel und Vilnius sind laut Medienberichten aber vorerst gescheitert, weil Litauen nicht nachgeben will. Und so stehen seit Sonntag zusätzlich auch Stahl, Zement, Beton, Holz, Alkohol und Industriechemikalien auf Alkoholbasis auf der Liste der Sanktionsgüter. Der Kreml kündigte «harte Massnahmen» an.

Der Streit um den Kaliningradtransit ist ein Lehrstück, wie Kurzschlussreaktionen, fehlende Abstimmung und ein Mangel des Denkens «vom Ende her» zu ungewollter Eskalation beitragen. Denn laut Medienberichten wusste die EU-Spitze im Juni nicht davon, dass Litauen eine Blockade auf Basis des vierten Sanktionspakets erwogen hat. Laut Angaben der «Süddeutschen Zeitung» hatte die litauische Regierung vor dem 17. Juni die EU zwar um Weisung gebeten und als Antwort ein Ja zur Blockade erhalten – doch offenbar habe die Entscheidung «die oberste Etage der Kommission nicht erreicht, und unklar ist, ob Falken in der Kommission in Absprache mit der litauischen Regierung Fakten schaffen wollten», berichtete die Zeitung am Sonntag.

Regierung unter Druck

In Litauen, neben Estland und Lettland einer der drei baltischen Staaten, die sich 1990 und 1991 die Unabhängigkeit von der zerfallenden Sowjetunion erstritten und erkämpften, will die Regierung nichts von einem Ende der Transitsperre wissen. In der Öffentlichkeit dominiert die Position, man dürfe vor Russland keinen Rückzieher machen.

Politologieprofessor Andrzej Pukszto von der Vytautas-Magnus-Universität im litauischen Kaunas sagte jüngt in einem Interview für mehrere deutsche Zeitungen: «Litauen verweist auf die Sanktionsbeschlüsse der EU. Man kann sich zwar die Frage stellen, ob Litauen das nicht unter den Tisch fallen lassen könnte. Aber das würde der gesamten litauischen Politik sowie der Politik aller Länder Mittel- und Osteuropas widersprechen. Gerade diese Staaten haben die Notwendigkeit von Sanktionen gegen Russland stets betont. Litauen, ebenso wie Polen, haben sich sogar beschwert, dass die Sanktionen nicht weit genug gingen. Und jetzt soll Litauen die Sanktionen einfach vergessen? Das geht nicht.»

Nun besteht das Szenario, die Mitte-rechts-Regierung von Premierministerin Ingrida Simonyte könnte auseinanderfallen, sollte sie zum Rückzieher gegenüber Russland gezwungen werden – ein Umstand, der wohl kaum im Sinne der EU wäre. Litauens Präsident Gitanas Nauseda, im semipräsidentiellen System Litauens mit einem starken aussenpolitischen Mandat ausgestattet, befürwortet die Blockade nachdrücklich. «Wir möchten betonen, dass es keinen grünen Korridor für spezielle Waren geben sollte», sagte er Ende Juni. Als Nato-Mitglied wähne sich Litauen zudem in militärischer Sicherheit, so Nauseda.

Polens Premierminister Mateusz Morawiecki indes hat zuletzt einen «Plan zwischen Russland und der EU» über die Regelung des Transits angemahnt. Das heisst: Die polnische Regierung beharrt nicht auf der Teilblockade. Das Land grenzt auf etwa hundert Kilometern an Litauen. Diese Landgrenze zwischen den beiden Nato-Mitgliedern, der sogenannte Suwalki-Korridor, stellt gleichzeitig die kürzeste Verbindung zwischen Kaliningrad und Belarus dar. So ist sie zuletzt in den geopolitischen Fokus gerückt – als mögliches Angriffsziel der russischen Streitkräfte.

Im hochexplosiven Raum

In der EU ist es die deutsche Bundesregierung, die am stärksten an einer Beendigung der Sperrung interessiert ist. Deutschland ist Führungsnation der multinationalen «Nato-Battlegroup» in Litauen und hat dort gut 1000 eigene Soldat:innen stationiert, bald sollen es 1500 werden – und die sollen möglichst nicht in Gefahr geraten.

Zugleich dürften der jüngst erfolgte Stopp der Gaslieferungen über die Nord-Stream-1-Pipeline nach Deutschland und das Katz-und-Maus-Spiel um die Wiederaufnahme der Lieferungen Teil der «praktischen Reaktion» Russlands auf die Transitbeschränkungen sein. Es verwundert daher nicht, dass Bundeskanzler Olaf Scholz für ein Ende der Transitblockade eintritt, «im Lichte der Tatsache, dass es hier um den Verkehr zwischen zwei Teilen Russlands geht», wie er beim Nato-Gipfel in Madrid sagte. Es gehe darum, «hier eine Deeskalationsdynamik zu etablieren», so Scholz.

Seine Position ist nachvollziehbar, denn die Ostsee ist ein hochexplosiver Raum. Wladimir Putin kann die strategisch wichtige Ostsee kaum aufgeben. Der Seeweg aus Russland nach Kaliningrad führt durch den Finnischen Meerbusen – und somit zwischen Nato-Mitglied Estland und Finnland durch, ebenfalls bald Nato-Territorium. Die Hafenstadt Kaliningrad ist Heimat der russischen Ostseeflotte, Moskau hat nach eigenen Angaben dort rund 50 000 Soldaten und seit 2016 atomwaffenfähige Iskander-Raketen stationiert.