Atomkraft in Osteuropa: Der AKW-Bau soll ungehindert weitergehen

Nr. 13 –

Osteuropa hält an der Atomkraft fest. Gründe dafür sind das Streben nach energiepolitischer Unabhängigkeit von Russland und die Aussicht auf lukrative Stromexporte in die EU.

In der polnischen Öffentlichkeit sprach man bis vor kurzem kaum noch über den Super-GAU von Tschernobyl. Eine grosse Mehrheit der Bevölkerung befürwortete den geplanten Bau des ersten Atomkraftwerks in Polen, das ab 2020 ans Netz gehen soll. Bis 2030 will Warschau insgesamt zwei Atommeiler mit einer Gesamt­kapazität von 6000 Megawatt errichten. Nun erinnert die Katastrophe in Fukushima plötzlich viele Polinnen und Polen an den Sommer 1986. Damals wurde in der damaligen Volksrepublik millionenfach das jodhaltige Getränk «Lugol» vor allem an Schulkinder verabreicht, um ihre Schilddrüsen vor Verstrahlung zu schützen. Die Nachfrage nach «Lugol» und ähnlichen jodhaltigen Präparaten sei in den letzten Wochen wie­der sprunghaft angestiegen, er­klärten jüngst Warschauer Apo­­theker­Innen gegenüber dem Fernsehsender «Polsat»: «Diese Produkte sind nicht mehr erhältlich. Wir sind ausverkauft.»

Erste Umfragen des polnischen Meinungsforschungsins­tituts PBS DGA deuten auf einen erheblichen Stimmungswandel beim Thema «Atomkraft» hin. Demnach sprechen sich nur noch 30 Prozent der Befragten für die Fortführung der bisherigen Politik aus, während 32 Prozent finden, Polen solle auf den Bau eines Atomkraftwerks verzichten. 28 Prozent der Umfrageteilnehmer­Innen verlangen eine erneute Untersuchung über die Sicherheit von neuen Atomanlagen. Am 23. März brach zudem das oppositionelle sozialdemokratische Bündnis der demokratischen Linken (SLD) mit dem informellen Atomkonsens im Sejm – dem polnischen Parlament – und forderte eine Volksbefragung zum Thema.

Kein Referendum in Polen

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Polens Regierungschef Donald Tusk von der rechtsliberalen Bürgerplattform (PO) will ein Referendum über den AKW-Bau «nicht ausschliessen», da ein solches Projekt einer breiten gesellschaftlichen Akzeptanz bedürfe. Eine aktive Unterstützung eines Referendums, das laut polnischer Verfassung von der Sejmmehrheit oder vom Präsidenten initiiert werden könnte, lehnt der Premier aber ab. Dabei hält Tusk an seiner Einschätzung fest, wonach Atomkraft «sichere und saubere Energie» liefere. Tusks Parteikollege, der polnische Präsident Bronislaw Komorowski, ist gegen eine Volks­befragung. Er sehe lieber Atomkraftwerke «unter der Kontrolle des polnischen Staates» als «gleich hinter der Grenze».

Polens Präsident spielte mit seiner Bemerkung auf mehrere Atomkraftwerke an, die im Baltikum, in Weissrussland und in der russischen Exklave Kaliningrad geplant oder bereits im Bau sind. Dieses baltische Atomkraftrennen wurde ausgerechnet durch die Stilllegung des litauischen Atomreaktors Ignalina ausgelöst, die im Rahmen der EU-Beitrittsverhandlungen vereinbart wurde. Seit Litauen den sowjetischen Atommeiler Ende 2009 endgültig vom Netz nahm, muss der eins­tige Stromexporteur einen Teil seines Strom­bedarfs mit Importen aus dem autoritär regierten Weissrussland decken. Der Betrieb des Öl- und Gasturbinenkraftwerks Elektrenai, das zum wichtigsten Stromerzeuger Litauens avancierte, ist von russischen Rohstofflieferungen abhängig. Der Import grösserer Mengen Elektrizität aus dem Westen ist bislang nicht möglich, da die notwendigen Starkstromleitungen nicht vor 2015 fertiggestellt werden.

Als Reaktion auf diese ungewollte Abhängigkeit von Russland planen die drei baltischen Staaten gemeinsam die Errichtung eines Atomkraftwerks in Ignalina. Dieses Projekt scheint aber aufgrund der ungesicherten Finanzierung kaum noch realisierbar, wie Wiktor Szewaldin, der ehemalige Direktor des alten AKWs, gegenüber der litauischen Zeitung «Respublika» erklärte. Mit den Ereignissen in Fukushima habe das jedoch nichts zu tun. Es herrsche vielmehr «in der Region eine grosse Konkurrenz beim AKW-Bau», die durch den geplanten Bau der AKWs in Weissrussland und in Kaliningrad noch intensiviert würde, so Szewaldin.

Ausbau statt Ausstieg

Der weissrussische Präsident Alexandr Lukaschenko konnte sich jüngst bei einem Treffen mit seinem russischen Amtskollegen Wladimir Putin auf die Finanzierung des Baus eines Atomkraftwerks in der Region Grodno im Westen von Weissrussland verständigen. Der Reaktor soll durch einen russischen Kredit von rund sechs Milliarden Franken finanziert und vom russischen Atommonopolisten Rosatom bis 2016 gebaut werden. Das neue AKW wird nur knapp fünfzig Kilometer vor der litauischen Hauptstadt Vilnius entfernt stehen. Auch in der russischen Exklave Kaliningrad baut Rosatom an einem neuen Meiler. Ab 2015 soll das in der Nähe der Stadt Nemen geplante AKW ans Netz gehen. Diese beiden Atom­projekte werden vor allem im Hinblick auf einen eventuellen Energieexport in die EU konzipiert, wodurch das baltische Atomkraftwerk in Litauen bei einer Realisierung mit einem gesättigten Energiemarkt konfrontiert wäre. Das derzeitige Energiedefizit im Baltikum würde sich so in einen Energieüberschuss verwandeln, der die milliardenschweren Investitionen risiko­reicher macht.

Auch die tschechische Regierung hält am geplanten Ausbau der Atomkraft fest. Ausgerechnet der berüchtigte tschechische Pannenmeiler Temelin soll weiter ausgebaut werden. Mehr als hundert Störfälle mussten hier schon offiziell gemeldet werden. An die zwanzig Milliarden Euro will der Staatskonzern CEZ in den Aufbau von zwei neuen Reaktorblöcken investieren. Den zusätzlich produzierten Atomstrom möchte Prag in das nur achtzig Kilometer entfernte Deutschland exportieren.