Eine Reise durch den ethnisch reinen Staat

Sie machen sich mit ihrer eigenen Sprache lächerlich, benötigen viel Opportunismus, um ihre Nationalität zu schmieden. Und haben Sorge, trotzdem nicht vom Balkan loszukommen.

Gerade komme ich in die Küche, als die siebenjährige Alja sich irritiert vom Parterre-Fenster zurückzieht und sagt: «Die lachen!» Sie zeigt uns die Jungen, zehn Jahre alt, die uns schnell die Rücken zuwenden. Einer von ihnen hat sie gefragt: «Wie heissen deine Grossmutter und dein Grossvater?» Er wusste wohl schon, dass es ein Erfolg wird. Alja antwortet dem Grösseren bereitwillig: «Zejda und Aljo.» Muslimische Namen der Eltern ihres Vaters, die ihr als Erste einfielen, weil sie sie endlich besucht und kennen gelernt hat im fernen, bergigen Sandschak, im lange verschlossenen Serbien, an der Grenze zu Bosnien. Das andere, sehr geliebte Grosselternpaar, das kroatische, lebt nicht mehr. Sie sagt also die muslimischen Namen, und die Jungen wiehern. Die Mutter möchte die Verletzung schnell löschen: «Ärgere dich nicht, diese Jungen sind noch nicht gereist, sie kennen nur Zagreber Namen, keine fremden Namen, wie du sie kennst.» Aljas Stolz ist geweckt, sie weiss schon etwas von der Welt, aber in den Augen bleibt Skepsis.


Auch Alja und ihr Zwillingsbruder Zeno sind Kriegskinder, wie so unendlich viele im zerbrochenen Jugoslawien. Seit der Geburt ist ihr Leben ein Unterwegssein. Wo haben sie mit ihren sieben Jahren nicht schon gewohnt? In deutschen Städten, in Italien, jetzt in Zagreb, aber in der Erwartung, es wieder zu verlassen. Für sie ist der Krieg das Unbehaustsein der Eltern.
Die Mutter der Zwillinge war nach dem zweieinhalbmonatigen Bombardement Serbiens, Montenegros und des Kosovo ausgezehrt von Schlaflosigkeit. Es quälte sie, dass ihre Kinder aufwachsen mit der halbbewussten, aber wohl umso tiefer sich ablagernden Erfahrung, es könne jederzeit ein unberechenbarer Schrecken über sie kommen. «Dass sie mit so einem Grundgefühl ihr Leben beginnen, finde ich so unendlich traurig», sagte sie mit Blick auf die schwarzhaarige Alja und den hellen Zeno, ihre so unterschiedlichen Zwillingskinder.
Karte KroatienDie Zeitungen sind voller ängstlicher Erwägungen, ob der Stabilitätspakt für Südosteuropa das alte Jugoslawien wieder auferstehen lasse und ob Kroatien nicht Gefahr laufe, auf kaltem Wege dem Balkan wieder zugeschlagen zu werden. Dass diese Sorge etwas Groteskes hat, bleibt auch vielen Kroaten nicht verborgen. In Zagreb gibt es nur eine Hand voll Themen, um die alles Reden kreist: der zunehmende Provinzialismus, die Teuerung, die Nichtauszahlung der Gehälter, Skandale von Politikern, Korruptionsaffären, die Unverfrorenheiten der Herzegowiner, der besonders kroatisch gesonnenen Kroaten aus Bosnien-Herzegowina, die Rechte aus ihrem Kroatentum ableiten wie schon unter den Ustascha. Und eine plötzlich ausgebrochene Antipathie gegen Präsident Franjo Tudjman ist ein Thema, an der sich die langjährigen Gegner seiner Politik aber nicht freuen können, denn diese Wendung gegen Tudjman ist ohne Abkehr von seinem nationalistischen Programm. Dass Bill Clinton im Juni des Jahres Slowenien und Mazedonien besuchte, nicht aber Kroatien, dass er Gespräche mit dem albanischen und dem montenegrinischen Präsidenten führte, dass in der «New York Times» ein vernichtender Artikel über Tudjman erschien, in dem er mit Milosevic verglichen wurde, das sind Signale: Tudjman is out.
Gespräche über den Nato-Krieg gegen Serbien werden umgangen.
Als Alja und Zeno im vergangenen Jahr eingeschult wurden, sollten die Eltern in einer Liste neben den Namen auch die «Nationalität» der Kinder eintragen. Die Mutter hat einen Strich in der Rubrik gemacht. Nachher bedankte sich die Lehrerin bei ihr und erzählte: Auch sie hätte ihre Nationalität schriftlich anmelden sollen. Sie ist eine Serbin, stammt aus Zagreb, hat daher die kroatische Staatsbürgerschaft ohne Probleme erhalten. Früher hat sie sich aber als «Jugoslawin» deklariert. Sie habe keine Nationalität mehr, erklärte sie in der Schule. Die Rektorin entgegnete ihr: «Dann schreiben Sie genau das auf.»
In Kroatien lebten früher viele Serben als Bauern auf dem Land und verstreut in den Städten in allen sozialen Schichten. Das war schon so, als Kroatien der ungarischen Krone unterstand und zur K.u.k-Monarchie gehörte. Die Familien haben sich in vielen Generationen vermischt, nur die Namen geben oft noch zu erkennen, ob sie aus der katholischen oder der orthodoxen Richtung stammen. Sich jetzt zu definieren, ist im Grunde oft eine Fiktion. Manche machen sich keine Skrupel: «Ich schreibe bei Nationalität kroatisch, wer kann mir was?» So werden Nationen geschmiedet.
In Zagreb läuft zum ersten Mal wieder ein Film aus Belgrad, «Wunden» von Srdjan Dragojevic, ein satirischer, gewalttätiger Krimi aus dem Belgrader Milieu mit jugendlichen Profiteuren des Embargos und der Isolation, vor dem Hintergrund der verfallenden Gesellschaft, der ein hysterisch-einfältiger Nationalismus nicht hilft gegen den ökonomischen und moralischen Bankrott. Der Film läuft schon mehrere Wochen, er zieht das Publikum an. Am Anfang wird gelacht: denn der Film ist wie ein amerikanischer oder italienischer Film mit Untertiteln versehen. Dieser erste hier gezeigte serbische Film wird als fremdsprachiger Film behandelt. Die Untertitel wiederholen den gesprochenen Text, bereichert durch eine Reihe typischer kroatischer Wendungen und durch neu erfundene Wörter, die nun durch das Kroatische geistern.
Die Krajina, das einstige Grenzland zwischen dem Habsburger Reich und dem Osmanischen Reich, ist auf langen Strecken – bis auf die Hauptstadt Knin – menschenleer. Keiner der Verjagten konnte zurück, niemand hat sich hier wieder angesiedelt. Der Bus von Zagreb nach Split fährt durch die Landschaft mit verlassenen verbrannten Dörfern, an Flüssen und Wasserfällen vorbei, auch an den berühmten Plitwitzer Seen mit hunderten Quellen und Bächen. Die Erinnerung an den Unglauben meldet sich, als im Frühjahr 1991 die Kunde von toten Serben und Kroaten ausgerechnet aus dieser Idylle herüberdrang. Noch schossen hier militante kleine Gruppen aufeinander, noch ahnte niemand den Dauerbrand.

In den Dörfern sind die meisten Häuser ohne Dach und Fenster, zwischen ihnen stehen manchmal bewohnte Häuser. Kaputte Kirchen und zwei zerschlagene Partisanendenkmäler scheinen am meisten von den Emotionen zu verraten, mit denen im Jahr 1995 die rund 200 000 Serben von hier vertrieben wurden, aus einem Gebiet, in dem sich tatsächlich die ersten Partisanen formierten, weil die Ustascha die orthodoxen, also «serbischen» Mitbürger verfolgten. Die Bäume und Sträucher verbergen mit ihrem Wuchern fast schon die hohläugigen Bauernhäuser, alles hält still in der Julihitze. An der Landstrasse ein Werbeschild für das Gasthaus «Oluja», «Gewittersturm», der Name der Militäraktion, mit der Kroatien das Problem der Krajina für sich in der Art eines logistisch perfekten Blitzkrieges (die Reminiszenz stammt aus Kroatien selbst) gelöst hat.


Ein viel zu grosses Schiff nimmt die wenigen Passagiere und Autos auf und legt ab zu den Inseln. Die dalmatinische Küste hat die Kriege unbeschadet überstanden, bis auf die Verluste im Tourismus. Sie gehört nun mit ihren tausend Inseln von Istrien bis hinter Dubrovnik zu Kroatien und wartet auf bessere Zeiten. Alles ist vorbereitet, die Stühle und Sonnenschirme sind aufgestellt. Nur «türkischen Kaffee» bekommt man nirgends mehr, und die mazedonischen und albanischen übersüssen Konditoreien sind verschwunden. Endlich ist doch eine zu sehen, aber über den wenigen Strudeln und Baklava-Imitationen bedient bedächtig eine blonde Frau statt der früheren albanischen Knaben. Ohne Touristenströme ist in den Orten alles sichtbar wie nie: die Plätze und Stufen aus den glatten hellen Kalksteinplatten, die schönen Architekturen mit Toren, schweren Steinbalkonen, Bögen. So liegen diese Städtchen an den Ufern der Inseln und des Festlandes, von unzähligen Generationen gebaut und von verschiedenen Kulturen bestimmt, unter Venedigs Einfluss zu einer lang währenden Blüte gebracht, dann so stehen geblieben, in sich geschlossen, intakt, unzerstört.
In Stari Grad, der «Alten Stadt» auf der Insel Hvar, sind an der Kirche die Steinbänke noch bis in den Abend warm von der Sonne. Aus drei offen stehenden Türen tönen abwechselnd die Stimme des Pfarrers und der ihm antwortende Chor der Frauen, die vorher über den Platz zum Abendgottesdienst geeilt waren, wobei ihre goldenen Kreuze am Hals blinkten. Die Kirchenmauer mündet in einen Stein mit einem Relief, darauf ist ein Dionysos mit üppigen Weintrauben zu erkennen. Hier, wo eine tiefe Bucht einen natürlichen Hafen bildet, haben schon rund 400 Jahre vor Christus Griechen die Stadt Pharos gegründet. Sie haben in der milden Gegend Wein angebaut und eine Aussenstelle der griechischen Kultur geschaffen. Ein seit langem bewohnter Ort, ein glücklicher, möchte man annehmen.
Der Vater der Zwillinge hat Ovids Metamorphosen übersetzt. Auch diese Arbeit war eine glückliche. Sie dauerte acht Jahre. Er hat sich in das Dorf zurückgezogen, aus dem er stammt. Sein Projekt wurde von der intellektuellen Szene Jugoslawiens mit wachsendem Interesse begleitet, ein Film wurde über ihn gedreht: Er geht mit ruhigen Schritten durch die schroffe Berglandschaft, immer geht es bergauf oder bergab, zur Oberschule war er als Junge täglich fünfzehn Kilometer gelaufen. Und er spricht im Film so ruhig, wie er geht, über die Sprache, über die Rhythmen, über den Wortschatz. Er nutzte für die Übersetzung den grossen Wortreichtum der serbokroatischen Sprache mit ihren Varianten und Lehnwörtern aus den benachbarten Sprachen und dem Türkischen. Das Werk wurde erwartet als eine kulturschöpferische Tat. Es wurde fertig, als Jugoslawien aufhörte zu existieren und die neuen Staaten krampfhaft ihre Identität beweisen wollten, besonders heftig auf dem Feld der Sprache. Der Vater der Zwillinge wird sicher seine Geschichte eines Tages selbst erzählen. Hier nur das vorläufige Ende: Für Sinan Gudzevics Übersetzung der Metamorphosen und seine Kommentare zu ihnen gibt es keinen Verlag mehr.