Ivo Andric: Jugoslawisches Vermächtnis

Der Band «Die verschlossene Tür» zeigt den bosnischen Literaturnobelpreisträger als Meister kürzerer Erzählformen.

«In Bosnien gibt es mehr Geist und Witz, als ein Fremder, der das Land nur aus dem Zug betrachtet, sich vorstellen kann. Aber diese Spässe sind oft grob und schwerfällig, ja unlustig, wenn man das von einem Spass sagen kann; sie treffen den, auf den sie gemünzt sind, schwer und sind selbst ihrem Urheber schwer gefallen.» Diese Bemerkung hat ihr Autor, der Bosnier Ivo Andric (1892– 1975), in Klammern gesetzt, in «Buffet Titanic», einer erschütternden Erzählung über den Angriff der kroatischen Faschisten des Ustascha-Staats auf die bosnischen Juden im Zweiten Weltkrieg. Der bosnische Witz als Versuch, sowohl die aktuelle als auch die latente Tragik zu tarnen – oder noch zu verschärfen.

Zerfall vorausgesagt

Es war an der Zeit, daran zu erinnern, dass Andric, Nobelpreisträger von 1961, nicht nur ein begnadeter Epiker («Die Brücke über die Drina», «Wesire und Konsuln»), sondern auch ein Meister kürzerer Erzählformen war. Und ein unbestechlicher Kenner seiner engeren und seiner weiteren Heimat: Bosnien-Herzegowina und Jugoslawien. In einer Lizenzausgabe des Wiener Zsolnay-Verlags sind seine Erzählungen jetzt wieder auf Deutsch zugänglich, darunter auch «Brief aus dem Jahre 1920» – eine Art prophetische Schlüsselgeschichte autobiografischer Prägung, die das grauenhafte Auseinanderbrechen Bosniens in den neunziger Jahren gleichsam voraussagt: «In Bosnien und der Herzegowina gibt es mehr Menschen, die aus verschiedenen Motiven und mit den verschiedensten Ausreden in den Ausbrüchen dieses unbewussten Hasses bereit sind, zu töten und sich töten zu lassen, als in anderen an Bevölkerungszahl und Raum viel grösseren Ländern, seien es slawische oder nicht.»

Andric, der von 1924 bis 1941 im diplomatischen Dienst Jugoslawiens tätig war, ist ein sehr genauer, realistischer Erzähler, der seine Kunst virtuos beherrscht. Hintergrund seiner Erzählungen ist die Geschichte des fast immer fremdbestimmten Landes – von der türkischen über die österreichische Herrschaft bis zur Invasion der Deutschen im Zweiten Weltkrieg und zur frühen Nachkriegszeit. Die souveräne Darstellung menschlicher Schicksale, verhängnisvoller Abhängigkeiten, des Geschlechterkampfs, hartnäckiger Ungerechtigkeit und sozialer Spannungen lässt allerdings die Grenzen historischer Erzählungen weit hinter sich. Immer wieder überrascht der Schriftsteller als unbestechlicher Beobachter menschlichen Fehlverhaltens, das zumeist ein gewalttätiges ist. Kein Wunder, dass ihn die Nationalisten jeglicher Couleur verabscheuen. Ivo Andric ist mehr nur als ein Symbol für jene Idee übernationaler Zusammengehörigkeit und Solidarität, die Optimisten während einiger Zeit in Jugoslawien verwirklicht sahen. In diesem Sinne erscheinen seine Erzählungen jetzt als jugoslawisches Vermächtnis.

Bosnier und Kroate

Ein besonderes Lob verdient der Herausgeber Karl-Markus Gauss für das Nachwort, das nicht nur für junge Leser­Innen unentbehrlich ist. Es orientiert auf knappem Raum über die Kontroverse, der sich Andric seit der Zerstörung Jugoslawiens ausgesetzt sah: Seinem Geburtsort Travnik nach war er Bosnier (er lebte auch lange in Sarajevo), von seiner Herkunft und Religion her jedoch Kroate (katholisch getauft), während des Zweiten Weltkriegs zog er aus Protest gegen den faschistischen «kroatischen Staat von Hitlers und Mussolinis Gnaden» nach Belgrad und entschied sich bei seiner serbokroatischen Sprache für die in Serbien übliche Schreibweise. Gauss: «Während religiöse Fanatiker Strassen, die nach ihm benannt sind, umbenennen, seine Denkmäler stürzen, seine Literatur verketzern, lieben viele ihrer bosnischen Landsleute Andric gerade deswegen, weil er noch in der Kritik und gerade in der Verzweiflung unverkennbar jener Vielfalt und Weltoffenheit verfallen war, die ihnen heute ein Anliegen ist, das sie gegen Nationalisten aller Nationalitäten und Frömmler aller Religionen behaupten möchten. Keiner hat das Recht zu sagen: Er war unser. Aber alle, die dem Wahn widerstehen, ausgerechnet auf dem Balkan ethnisch purifizierte Regionen zu schaffen, können sich auf ihn berufen. Und wer den Balkan verstehen möchte, sollte ohnedies mit der Lektüre von Ivo Andric beginnen und zu ihr immer wieder zurückkehren.» Der Rat eines Sachverständigen, den es zu beherzigen gilt.

Paul L. Walser: Die verschlossene Tür. Erzählungen. Herausgegeben und mit einem Nachwort von Karl-Markus Gauss. Paul Zsolnay Verlag, Wien 2003