Kinder sollen aus der Geschichte lernen. Wessen Geschichte?: Die Schlacht um die Wandtafel

Der Weg des differenzierten Geschichtsbildes etwa von Historikerkommissionen in die Schulstuben ist lang und steinig, in der Schweiz und anderswo. In den letzten Jahren tobten diese Auseinandersetzungen besonders heftig in den USA.

Als wir SechstklässlerInnen zum 569. Jahrestag der Schlacht bei Sempach an den Ort des Geschehens geführt wurden, haben wir uns historisch nichts Besonders dabei gedacht. Wir marschierten in lockerer Formation, sangen «Bei Sempach der kleinen Stadt» und «Heisst ein Haus zum Schweizerdegen» und waren froh, dass das Rechnen ausfiel. Die alten Eidgenossen waren längst nicht so wichtig wie der neue Schüler in der Klasse. Geschichte, das waren die kopierten Blätter mit den Daten zum Ausmalen, langweilig halt, da tot; und es wunderte uns nur, dass der Lehrer den Verlust des Veltlins und die Niederlage bei Marignano so persönlich nahm. Ob den heutigen Kindern Geschichte so viel näher ist? Wo das so ist, ist es der Entwicklung der Geschichtswissenschaft beziehungsweise dem, was davon bis in die Schulstuben durchgesickert ist, zu verdanken: Weniger Daten zu Schlachten und Stammbäumen von Königshäusern, mehr Geschichte aus dem Alltag der gewöhnlichen Leute, weniger blosses Faktensammeln, mehr vergleichende Analysen und Bezug zu aktuellen Problemen: Wie haben die Frauen bei den Römern, im Mittelalter, im Zeitalter der Industrialisierung gelebt? Wie unterscheiden sich verschiedene Regierungsformen? Was macht eine Demokratie aus? Wieso gibt es Völkerwanderungen beziehungsweise Emigrationsbewegungen? Wie haben verschiedene Wirtschaftsformen die Gesellschaft und die Geschichte geprägt?

Ist Geschichte Glaubenssache?

Für andere Wissenschaften mag das Streben nach immer adäquateren Modellen zum Verständnis der Welt im 20. Jahrhundert ein weit herum akzeptierter Prozess sein. Der Versuch einer vollständigeren Rekonstruktion der Geschichte und besonders die Popularisierung dieses Wissens, sei es durch neue Schulbücher, Diamant-Feiern (Schweiz 1989) oder Kolumbus-Jubiläen (USA 1992), stösst oft auf erstaunlich entschlossenen Widerstand. «Wer die Geschichten erzählt, hat auch die Macht», sagte Plato vor 2000 Jahren. Und in der Rotunde des weissen Hauses in Washington steht es sogar in Stein gemeisselt: «Geschichte ist die Biografie grosser Männer », genauer wäre: grosser weisser Männer. Historische Kontroversen, durchaus heftig in ihrer Art, beschränkten sich bis vor wenigen Jahrzehnten auf die Auswahl des richtigen Heldensets: Als Schülerin erst im Kanton Bern, dann in Luzern hörte ich noch in den sechziger Jahren äusserst unterschiedliche protestantisch beziehungsweise katholisch gefärbte Nacherzählungen der Reformationskämpfe. Oder: In den ersten Jahrzehnten nach der Revolution von 1783 konnten die USAmerikanerInnen keinen gemeinsamen Nationalfeiertag feiern, weil sich die Kämpfer über die Bedeutung des eben errungenen Sieges komplett zerstritten. Und noch Anfang dieses Jahrhunderts wurden die BibliothekarInnen der Südstaaten von offizieller Seite angehalten, auf kritische Textbücher zum Civil War den Vermerk «Unjust to the South», unfair gegenüber dem Süden, zu stempeln. Im ehemaligen Jugoslawien geht die Betonung der ethnischen Diversität heute so weit, dass kroatisch beziehungsweise serbisch beziehungsweise muslimisch kontrollierte SchülerInnen vollständig differierende, sich widersprechende Geschichtsbücher haben, in denen die nationalistischen Helden der einen Gruppe von den anderen als hassenswerte Verräter und Schurken denunziert werden. «Wir schaffen in unseren Schulen ein System der Apartheid », urteilt Senad Pecanin, der Herausgeber des unabhängigen Wochenmagazins «Dani».

Angesichts solch dramatischer Ideologisierung der Schulstuben ist es vielleicht etwas vermessen, die Auseinandersetzung um neue landesweite Standards für den US-amerikanischen Geschichtsunterricht «Kulturkrieg» zu nennen, wie das die AutorInnen eines aktuellen Buches zu diesem Thema tun. Doch die Kontroverse ist auch im Westen heftig, emotional, oft unversöhnlich, zumindest in den Medien und einem Teil der politischen Klasse. Diesmal steht nämlich nicht mehr allein die Wahl des «good guy», des Captains, zur Diskussion, sondern die Zusammensetzung und der Aufbau des ganzen Teams. Es geht um eine Demokratisierung der Geschichte, die sich auf den Punkt bringen lässt: Wessen Geschichte ist es, die da erzählt wird?

«Die Umverteilung des Besitzes an Geschichte entstand, als die Historikerzunft die Diversität der gesamten amerikanischen Gesellschaft zu widerspiegeln begann», schreiben Gary B.Nash et al. in «Culture Wars and the Teaching of the Past» (Kulturkriege und das Lehren der Vergangenheit). Und sie zeigen eindrücklich, wie wenig die Kritik der neueren Geschichtsschreibung mit wissenschaftlicher Methodenkritik und wie viel sie mit politisch motivierter Besitzstandwahrung zu tun hat. Auch in Europa und insbesondere in der Schweiz ist noch nicht entschieden, ob Geschichte eine per definitionem kritische – aufklärende und daher reformerisch wirkende – Wissenschaft sein darf oder doch lieber als Vehikel des Amor Patriae, der Vaterlandsliebe, dienen soll. Zumindest in der Volksschule, am ersten August und bei anderen populären Anlässen ist Wilhelm Tell vielen immer noch wichtiger als Paul Grüninger. Und in den USA, wo noch bei jeder Dichterlesung eine grosse Flagge mit Stars and Stripes und der unsichtbaren Aufschrift «Befreier im Zweiten Weltkrieg» auf der Bühne steht und wo an vielen Schulen nach wie vor zwischen dem Fach amerikanische Geschichte und dem Fach Weltgeschichte unterschieden wird, ist das Kratzen am patriotischen Stolz – und sei es durch historische Faktizität – besonders heikel.

Bücherverbrennung in Chicago

1995, auf dem Höhepunkt der Auseinandersetzung um die historischen Schulstandards in den USA, wurde eine ganze Generation von HistorikerInnen in den Medien als Nestbeschmutzer, als «intellektuelle Elite, die sich ihres Landes schämt» beschimpft. «Schlimmer als äussere Feinde, ein Krieg gegen amerikanische Werte», nannte der damalige Präsidentschaftskandidat Bob Dole die neuen Richtlinien. Die meist republikanischen KritikerInnen, die hinter dem neuen Geschichtsbild das Schlimmste und vor allem die Clinton-Regierung – die sich übrigens aus opportunistischen Gründen (Wiederwahl) von den Standards absetzte – vermuteten, vergassen ganz, dass auch der Antiamerikanismus- Vorwurf bereits eine ziemlich lange, genau genommen bis zur Geburt der Vereinigten Staate zurückreichende Geschichte hat.

Zum Beipiel hat Oregon in Vorwegnahme einer entsprechenden «Empfehlung» des Senats zu den neuen Geschichtsstandards bereits 1926 ein Gesetz erlassen, das den Gebrauch von Schulbüchern verbietet, die «abschätzig über die Gründerväter der Republik reden, ihre Arbeit herabsetzen oder unterschätzen».

Ein Gesetz mit viel Interpretationsfreiheit: Kann die Hinrichtung von Quäkern in Boston Common 1650 noch erwähnt werden? Die Massakrierung von Indianern, der Slavenbesitz der ersten Präsidenten?

Der Bürgermeister von Chicago liess 1927 Exemplare eines Geschichtsbuches von Arthur Schlesinger, «Neue Ansichten zur amerikanischen Geschichte», das Kapitel zur Immigration und zur Stellung der Frauen enthielt, als «unamerikanisch und unpatriotisch» verbrennen. Ein anderes vergleichbares Buch von Harald Rugg ging in Ohio in Flammen auf, wurde von organisierten Amerikanismuswächtern landesweit verfolgt und aus den Schulen entfernt. «Die alte Geschichte hat mein Land gelehrt, was gut und böse ist. Das ist die Einstellung, die unsere Kinder lernen sollen. Wir können es uns nicht leisten, ihnen unvoreingenommenes Denken statt echten Amerikanismus beizubringen», schrieb die Schwesternorganisation Daughters of the Colonial Wars in den vierziger Jahren.

Die Geschichtsidee

Viele HistorikerInnen zogen sich zurück. Für eine Weile herrschte punkto Geschichte eine fast vollständige Arbeitsteilung: moderne Wissenschaft an den Universitäten, langweilige Faktensammlungen oder patriotische Erzählungen an der Volksschule. Doch selbst ein McCarthy konnte den Demokratisierungsprozess in der Geschichte nur verzögern, nicht aufhalten. Als Ende der sechziger Jahre die sozialen Bewegungen erwachten, pochten sie neben anderem auch auf das Recht auf ihre eigene Geschichte. Besonders der Einfluss der Frauen und der afroamerikanischen Bevölkerungsgruppe auf die Geschichtsschreibung war enorm. Gleichzeitig strebte auch das Establishment – Stichwort Sputnikschock – eine grosse Bildungsoffensive an. Der Standard des Unterrichts – auch des Geschichtsunterrichts – sollte vereinheitlicht und angehoben werden.

Anders als in England, das die Eruptionen der neueren Geschichte mittels einer zentralistischen, regierungsgesteuerten Regelung der Unterrichtsinhalte und -methoden bei gleichzeitiger Budgetkürzung – keine Extravaganzen! – in die gewollten Bahnen wies, begannen jetzt in den USA die grossen, sehr kontradiktorischen Diskussionen, die gemeinhin «culture wars» genannt werden. «Die ‘Standards’ sind nicht mehr als eine zynische List, mit denen die Historiker die Kinder ihren eigenen Hass auf Amerika lehren wollen. Die Minderheiten-Lobby versucht die Balkanisation von Amerika zu vervollständigen. Die Zunahme ethnischer Spannungen und der Gewalt im heutigen Amerika sind ein direktes Resultat der Erfolge, welche die Multikulturalisten bereits verbuchen konnten», lautete der Schlachtruf des konservativen Publizisten Kim Weissman im «Wallstreet Journal» (4.November 1994). «Die weihevolle Geschichte mit dem nationalistischen Unterton hat einen Grossteil ihrer Eindeutigkeit durch Ignorierung und Auslassung bestimmter Gruppen gewonnen », entgegnet Mark H.Leff, ein Vertreter der neueren Historikergeneration.

Die «culture wars» sind ein Medienevent und unterstehen den Regeln der Massenkommunikation. Geschichte sei doch ganz einfach, betonten die rechten Kritiker in den Talkshows. «Weisst du, was Geschichte ist? Einfach das, was passiert ist.» Wer, wie, wann, wo. Warum, wenn die Zeit noch reicht. Die Verteidiger eines moderneren Geschichtsbildes fanden sich in der Defensive. Wie erklärt man in wenigen Sekunden methodologische Probleme? Wie Objektivität? Wie die Notwendigkeit einer fortlaufenden Revision von Geschichte? Wie die Begründung dafür auf TV-Spot-Länge bringen, dass gesellschaftliche Prozesse wie die Frauenbewegung, wie der Anti-Vietnam-Protest, das Civil Rights Movement einen anderen, weiteren Blick nicht nur auf die Zukunft, sondern auch auf die Vergangenheit verlangen? Sowohl in den Medien als auch in der politischen Klasse hatten die UnterstützerInnen der Standards, unter ihnen ein schöner Teil der GeschichtslehrerInnen an den Volksschulen, einen schweren Stand. Die Entwürfe wurden wieder und wieder überarbeitet, intern und von glaubwürdigen Aussenstehenden. Der grösste Sieg der KritikerInnen ist vielleicht, dass die Unterrichtsbeispiele, die wegen ihrer Anschaulichkeit am meisten Sprengstoff für die Kontrovese, aber auch die farbigsten Anregungen für die Lehrpersonen lieferten, entfernt werden mussten. Keine expliziten Fragen mehr zum Einfluss von MTV auf die Populärkultur im Kapitel «Totalitarismen im 20.Jahrhundert». Die Comicfigur Bart Simpson wird nicht mehr im gleichen Atemzug mit Präsident George Washington genannt.

Doch wie sich zeigt, können die HüterInnen des einzig echten Amerikanismus die Geschichte nicht aufhalten. Helden wie Washington werden auch von anderer Seite in Frage gestellt: Eine öffentliche Schule in New Orleans hat im letzten Herbst beschlossen, ihren Namen von George Washington zu Dr. Charles Richard Drew zu ändern. Ihre Begründung: Präsident Washington war ein Sklavenbesitzer, Drew ein schwarzer Chirurg (1904–1950), der gegen medizinische Apartheid – die US-Armee separierte Blutspenden nicht nur nach Blutgruppe, sondern auch nach Rasse – kämpfte. Und: 98 Prozent der SchülerInnen an besagter Schule sind schwarz. Die Namensänderung war die zweiundzwanzigste in New Orleans, seit vor fünf Jahren ein Gesetz erlassen wurde, das solche antirassistischen Korrekturen erlaubt. – Nicht, dass jetzt in einer konzertierten Säuberungsaktion alle historischen Benennungen geändert werden müssten. Aber dass es Schulen wie die Drew Elementary oder in der Schweiz eine Paul-Grüninger-Strasse gibt, dass Geschichte vorwärts führt, ist für offene Gesellschaften lebenswichtig. Sogar meine neunzigjährige Nachbarin Grace, sehr charmant und sehr WASP («white Anglo-Saxon protestant»), die zutiefst bedauert, dass in den USA die Präsidenten zu einem Feiertag zusammengefasst werden, während Martin Luther King einen eigenen Gedenktag hat, fragt mich dann immerhin, wohin diese Geschichte uns führen wird.

Gary B. Nash, Charlotte Crabtree and Ross E. Dunn: «History on Trial. Culture Wars and the Teaching of the Past».