Geschichte in der Schule: Ein historischer Eiertanz
Welches Geschichtsbild wird heute in der Volksschule vermittelt? Ein Blick hinter die Kulissen eines pädagogisch und politisch umkämpften Terrains.
«Siehst du, ich bin ein echter Ritter», sagt Helvetio, der einen mittelalterlichen Ritterhelm auf dem Kopf trägt. «So, wie du aussiehst, eher ein verkleideter Hofnarr», antwortet Tellina. Helvetio und Tellina – beide im rot-weissen T-Shirt und mit coolen Turnschuhen – begleiten SchülerInnen ab der fünften Klasse durch das Lehrbuch «Spuren – Horizonte. Mensch – Raum – Zeit – Gesellschaft». Im Buch dominieren bunte, teils historische Bilder, Liedtexte und kleine Aufgabenstellungen: «Betrachte die Bilder und such dir drei aus, die dich neugierig machen. Du musst nichts über die Bilder wissen.» Die Kinder sollen beschreiben, was sie sehen, darüber spekulieren, aus welcher Zeit ein Bild stammen könnte.
Bildanalyse ist ein zentraler Bestandteil des heutigen Geschichtsunterrichts an Volksschulen. Auch die aktuellen Lehrbücher für die Oberstufe kombinieren Bilder, Quellen, AutorInnentexte, Aufgabenstellungen – und bisweilen gar methodische Zugänge. Während früher die reine Wissensvermittlung im Zentrum stand – Geschichtsbücher waren oft regelrechte Bleiwüsten, geschrieben von GeschichtslehrerInnen in ihrer Freizeit, durchsetzt mit mittelalterlichen Holzschnitten –, geht es heute um die Vermittlung von sogenannten Kompetenzen.
Der Ahnen Trotz und Treu
Kompetenzen sind nicht erst mit dem umstrittenen Lehrplan 21 zum Thema geworden. Das zugrunde liegende Konzept entstand bereits in den siebziger Jahren, als Ansätze wie Alltags- oder Frauen- und Geschlechtergeschichte die Geschichtsschreibung erweiterten. «Diese Ausdifferenzierung und Ausweitung der Materie führten dazu, dass es immer weniger möglich war, im Geschichtsunterricht den gesamten Stoff in der zur Verfügung stehenden Zeit und in einer angemessenen Tiefe zu behandeln», sagt Jan Hodel, Dozent für Geschichtsdidaktik an der Fachhochschule Nordwestschweiz in Windisch (FHNW). Zurzeit entwickelt er ein neues Geschichtslehrmittel, das den Anforderungen des Lehrplan 21 entsprechen soll.
In drei Jahren Sekundarschule müssen gut 500 Jahre Weltgeschichte vermittelt werden. Zur Verfügung stehen im Schnitt drei Wochenlektionen, die sich das Fach Geschichte jedoch meist mit Geografie teilen muss. «Was wir den Kindern zu vermitteln suchen, ist: Wir können euch unmöglich alles erzählen», so Jan Hodel. «Vieles müsst ihr später im Leben selbst herausfinden – und dazu wollen wir euch befähigen. Zum Beispiel ob die Ukraine früher einmal Teil von Russland war.» Kompetenzförderung bedeutet deshalb vor allem, dass SchülerInnen befähigt werden sollen, sich selbst schlauzumachen.
Doch welches Geschichtsbild wird den SchülerInnen so vermittelt? Laut Hodel stehen zwei treibende Kräfte hinter dem Inhalt von Lehrmitteln: die Geschichtswissenschaft und die Gesellschaft. Ein anschauliches Beispiel ist die Aufarbeitung der Geschichte der Schweiz im Zweiten Weltkrieg und ihr Bezug zum Nationalsozialismus. Wer durch Geschichtsbücher für die Volksschule blättert, stösst auf verschiedene Darstellungen.
Bei Tellina und Helvetio werden Erster und Zweiter Weltkrieg in knappen fünf Sätzen abgehandelt. Thematisiert wird allein das Bedrohungsszenario für die Schweiz. Dann folgen Liedtexte. «Es wächst ein hart und zäh Geschlecht hier der Berge Schweigen. Der Ahnen Trotz, der Ahnen Treu, mach Herr in unserm Herzen neu, dass wir das Knie nie beugen.» Aufgabe an die Kinder: Bastelt daraus einen Rap.
Die Lehrmittel für die Oberstufe scheinen eher von einer allumfassenden Neutralität geleitet. Etwa «Viele Wege – eine Welt. Erster Weltkrieg bis Globalisierung». Das Kapitel zur Schweizer Flüchtlingspolitik im Zweiten Weltkrieg zeichnet zunächst ein Bild der Schweiz als rettende Insel, die, gemessen an der Bevölkerungszahl, so viele Flüchtlinge aufnahm wie kein anderes Land. Im nächsten Abschnitt wird relativiert, dass vor allem Jüdinnen und Juden an der Grenze abgewiesen und zurückgeschickt wurden. «Bundesrat und Armeespitzen hätten damals wissen können, dass die Nationalsozialisten die zurückgewiesenen Flüchtlinge in den meisten Fällen in osteuropäische Konzentrationslager deportierten, wo viele von ihnen ums Leben kamen.» Und auch in der Schweiz habe es Antisemitismus gegeben. Diese Feststellung wird wiederum relativiert durch einen Verweis auf die vielen mutigen SchweizerInnen, die Flüchtenden über die Grenzen halfen und ihnen Unterschlupf gewährten.
Die AutorInnen waren offensichtlich bemüht, niemandem auf den Schlips zu treten und trotzdem aktuelle Erkenntnisse aus der Geschichtswissenschaft aufzunehmen. Ein historischer Eiertanz.
Der Aktivdienst redet mit
Zu einem ähnlichen Schluss kommen die HistorikerInnen Bernhard C. Schär und Vera Sperisen in einem Anfang des Jahres in der Fachzeitschrift «Traverse» erschienenen Aufsatz. Sie analysieren das Sek-Lehrbuch «Hinschauen und Nachfragen. Die Schweiz und die Zeit des Nationalsozialismus im Licht aktueller Fragen», zu dessen AutorInnen auch Jan Hodel von der FHNW gehört.
Bereits die Entstehungsgeschichte des Buchs war von politischen Querelen geprägt. Die Zürcher Erziehungsdirektorin Regine Aeppli gab 2003 den Auftrag zur Ausarbeitung des Lehrbuchs. Aufgrund des Drucks aus rechtskonservativen Kreisen und aus dem Kantonsrat wurde ein Beirat geschaffen. Darin sassen VertreterInnen der Unabhängigen Expertenkomission Schweiz – Zweiter Weltkrieg (UEK) sowie Franz Muheim, ehemaliger Urner CVP-Ständerat und Mitglied der Aktivdienstlervereinigung «Arbeitskreis gelebte Geschichte». «Seine Qualifikation für dieses Mandat war weder geschichtswissenschaftlicher noch pädagogischer oder geschichtsdidaktischer, sondern rein geschichtspolitischer Art», schreiben Sperisen und Schär in ihrem Aufsatz. «Er sollte, wie der ‹Arbeitskreis gelebte Geschichte› festhielt, verhindern, dass im Lehrmittel zu viel ‹Unsinn› geschrieben werde.»
Sie verweisen zudem auf den auffallend zurückhaltenden Sprachgebrauch des Lehrmittels, der sich bereits im Titel zeigt. Während die UEK in ihrem Schlussbericht zu den Verfehlungen der neutralen Schweiz in der Flüchtlingspolitik deutliche Worte findet («Damit trug die Schweiz dazu bei, dass die Nationalsozialisten ihre Ziele erreichen konnten»), vermeidet «Hinschauen und Nachfragen» Formulierungen, die Verantwortung und Mitschuld implizieren – im Gegenteil: «Die Schweiz war für die von Deutschland verübten Verbrechen nicht verantwortlich.»
Vermeintlich unpolitisch
Was bedeutet es, wenn in Geschichtslehrbüchern die Vermittlung von Wissen auf solche Kernsätze zurechtgestutzt und zugunsten der Förderung von Kompetenzen in den Hintergrund gedrängt wird? «Indem man Schülerinnen und Schüler möglichst selbstständig die Vergangenheit deuten lässt, übt man sich in einer vermeintlich unpolitischen Pädagogik», so Bernhard C. Schär gegenüber der WOZ. Diese Pseudoobjektivität verschleiere, dass die Rekonstruktion der Vergangenheit immer an gesellschaftliche Machtverhältnisse gebunden sei. «Insofern steht auch der kompetenzbasierte Unterricht im Dienst der politischen Mehrheitskultur.» Deshalb mutet es noch absurder an, dass nun eine JSVP dazu aufruft, «linke» LehrerInnen zu denunzieren.
LehrerInnen sind keine Marionetten. Sie arbeiten zwar nach Lehrplänen und mit Lehrmitteln. Am Ende sind es jedoch sie – oft auch in Zusammenarbeit mit den SchülerInnen –, die darüber bestimmen, welches Thema wie intensiv behandelt und wie darüber gesprochen wird.