Frag die WOZ : Sollen wir alle reich und glücklich werden?

«Sollen wir alle reich und glücklich werden?»
C.Z. via Bluesky
Das ist eine sehr gute Frage!
Wobei sich gleich mehrere Fragen darin verstecken: Was meinen wir mit «reich»? Wen alles mit «alle»? Was mit «glücklich»? Und wäre das überhaupt realistisch? Der Philosoph Ernst Bloch hat in «Naturrecht und menschliche Würde» (1961) den Begriff des «Glücks» in verschiedenen politischen Systemen hinterfragt. Demnach zielen Sozialutopien «überwiegend auf Glück, mindestens auf die Abschaffung der Not und der Zustände, die diese erhalten oder produzieren». Wogegen Naturrechtstheorien «überwiegend auf Würde, auf Menschenrechte, auf juristische Garantien der menschlichen Sicherheit oder Freiheit» ausgerichtet sind.
Während die Sozialutopie also eher auf die Abschaffung menschlichen Elends setzt, zielt das Naturrecht auf jene der Erniedrigung. Daraus jedoch folgen weitere Fragen: Wieweit sind diese beiden Ansätze überhaupt miteinander vereinbar? Was für materielle Einschränkungen wären allenfalls für alle nötig, um die Freiheit aller zu ermöglichen? Und umgekehrt: Was für Einschränkungen individueller Freiheiten, um ein würdevolles Minimum am Wohlstand aller zu ermöglichen? Eine Gesellschaft, in der alle glücklich und reich sind: Nein, sie ist kaum realisierbar. Eine jedoch, in der alle möglichst gute Voraussetzungen für ein möglichst gutes Dasein haben und materiell mindestens so abgesichert sind, dass sie in Würde leben können, womöglich schon.
Nun aber ist persönliches Glück nicht messbar – und lässt sich nicht staatlich verordnen. Materieller Reichtum wiederum ist zwar messbar – ab einem gewissen Grad aber höchstens innerhalb einer Gesellschaft, die auf Kosten anderer Gesellschaften reich geworden ist, realisierbar. Wenn wir den Begriff «alle» global denken, kann uns vielleicht Rosa Luxemburg weiterhelfen: Im Hinblick auf eine möglichst freie und gerechte Gesellschaft liesse sich ihr berühmter Satz «Freiheit ist immer Freiheit der Andersdenkenden», den sie 1918 im Gefängnis als Kritik an der bolschewistischen Partei nach der Oktoberrevolution schrieb, auf Glück und Reichtum ausweiten: In diesem Sinn wäre auch individueller Reichtum immer Reichtum der Anderen – und zwar aller. Und individuelles Glück immer auch Glück der anderen – aller! Es ginge also wie bei der Freiheit immer auch um gegenseitige Rücksichtnahme, Kollektivierung – und eine gewisse Bescheidenheit. (An eine solche Gesellschaft, «worin die freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für die freie Entwicklung aller ist», dachte ja auch schon Karl Marx im «Kommunistischen Manifest» von 1848.)
Zum Glück zwingen kann man niemanden. Aber zusammen Voraussetzungen dafür zu schaffen, dass alle ohne unnötige Barrieren den individuellen Weg verfolgen können, von dem sie sich am ehesten so etwas wie Glück versprechen: Das wäre anzustreben. Um dieser Utopie in der Realität näher zu kommen, bräuchte es neben Gesetzen aber auch ein hohes Mass an kollektivem und sozialem Bewusstsein aller (oder zumindest vieler). Dass sich das nicht einfach von oben herab verordnen lässt, hat sich im real existierenden Sozialismus gezeigt. Eine solche ideale Gesellschaft müsste wohl eher so sein, wie sie Michail Bakunin 1866 skizziert hat: im Sinne eines antiautoritären kollektivistischen Gemeinwesens, das nicht von oben nach unten, sondern von unten nach oben realisiert wird – so, dass alle Beteiligten so autonom und in weitestmöglicher Chancengleichheit leben könnten. Das wiederum aber wäre wohl nur in überschaubaren föderalen Gesellschaften möglich. In einem grösseren Rahmen würde es einen ausgesprochen hohen Reifegrad kollektiven Bewusstseins und gegenseitiger Rücksichtnahme voraussetzen.
Um auf Ihre ursprüngliche Frage zurückzukommen: Ja, wir sollten alles dafür tun, Voraussetzungen dafür zu schaffen, dass möglichst alle sich so frei entfalten können und materiell abgesichert sind wie nur möglich. Dafür allerdings müssten gerade auch hierzulande doch recht viele auch etwas weniger reich werden. Es muss ja nicht immer Kaviar sein.
Immer Montags beantworten wir in der Rubrik «Frag die WOZ» jeweils eine wirklich (un)wichtige Leser:innenfrage. Noch Fragen? fragdiewoz@woz.ch!