In mir die Wände (6) : Kopfgeld

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350, 200, 20, 400. Ich addiere, subtrahiere, wäge ab, zähle dazu, ohne Papier, nur in meinem Kopf: Essen. Kleider. Ausflug. Neuer Fussball. Ich kürze. Streiche. Rechne wieder. Wird es reichen? Wie werden wir reich? Werde ich reichen?

Geld macht dich zu den Möglichkeiten deines Budgets. Es übersetzt dich in Zahlen und kalkuliert dir deinen wahren Wert. Sorgt dafür, wie du sprichst, wie du sitzt, wie du gehst. Und wie du dich schämst – für die abgetragenen Kleider, die ausgelaufenen Schuhe, den Plastikfussball.

Es ist kein Zufall, dass es von Gläubigern, von Schulden und Erlös spricht. Wie die Religion vom Glauben, von der Schuld und der Erlösung. Beides verspricht das Paradies. Und es gibt bereits Auserwählte.

Dich macht es zu seiner Geisel, besetzt jede Zelle deines Nervensystems. Du spürst die Kälte seines Laufs an deiner Schläfe. Am Abzug ein Finger, der jeden Moment feuern könnte. Für immer.

Ich bin acht Jahre alt und habe begonnen zu rechnen. Es geht nicht auf. Es geht nicht auf. Noch mal. Habe ich mich verzählt?

Ich weiss noch nicht, dass es Ungleichungen gibt.

Mein kleiner Kopf ist voller Geld.

In der Serie «In mir die Wände» blickt Uğur Gültekin (geboren 1984) zurück auf seine Kindheit und Jugend: auf die Flucht aus Kurdistan und das Grosswerden in der Schweiz, auf Ausgrenzung und Aneignung – und setzt diese persönlichen Erfahrungen in einen gesellschaftlichen Rahmen, der auch von der Schweiz der neunziger Jahre erzählt. Nächste Woche: Das schönste Spiel.