In mir die Wände (5) : Unter Ratten

Ich schwimme im Dunkel eines Meeres. Über mir, in der Ferne, ist ein Licht. Es regnet heftig, ich höre das dumpfe Pulsieren der Tropfen, wie sie auf die Oberfläche trommeln. Ich strecke mich nach dem Licht, glaube, es fassen zu können. Doch je näher ich dem Licht zu kommen glaube, desto weiter zieht es sich zurück. Plötzlich taucht eine Ratte über mir auf. Sie gleitet mühelos durchs Wasser, so leichtfüssig, während ich vom Tauchen immer müder werde, so schwerfällig, bis ich zum Stillstand komme. Die Ratte bremst ab, schaut mir ins Gesicht, fletscht die Zähne, faucht laut.
«Mama!» – Ich war wach geworden.
Fast sieben Jahre lang bewohnten wir im Rheintal den Dachboden an der Rosenstrasse. Die Wohnung bestand aus einer kleinen Stube, einem Schlafzimmer, in das kaum ein Doppelbett passte, und einer kleinen Küche. Der Bereich in der Küche unterhalb der Dachschräge sollte mit der Zeit zu meinem Kinderzimmer werden. Als ich 2022 nochmals in die Wohnung zurückkehrte, war sie fast dieselbe. Dort, wo ich geträumt hatte, stand aber kein Bett mehr. Eine Toilette oder ein Badezimmer gab es in dieser Wohnung nie. Das WC befand sich drei Etagen weiter unten im Erdgeschoss, und ein paar Stufen darunter, im Keller, hatten die Vermieter eine alte Badewanne auf vier graue Ziegelsteine gestellt. Das war unser Badezimmer.
In der Türkei hatten meine Eltern zur Mittelschicht gehört, ökonomisch ging es ihnen um einiges besser als hier, als Geflüchtete in der Schweiz. Jetzt mussten sie hier oben im Dachstock nochmals ganz unten beginnen. Unsere Wohnung war nicht nur eng, sondern auch in einem miserablen, maroden Zustand: kaum isoliert, die Wände dünn wie Papier. Jeder Schritt, alle Seufzer, die Stimmen meiner Eltern drangen durch sie hindurch. Manchmal klangen sie laut, prallten aufeinander, manchmal waren sie leise und fein, wie ein gemeinsames Gebet.
Ich habe gehört, dass es nicht reicht. Dass der Monat noch lang ist. Dass man das alles doch vorher hätte wissen müssen, und immer wieder Fragen: ob man für das hierhergekommen sei, wann denn endlich mein Bruder zu uns kommen könne. Aber auch, dass wir jetzt auf die Zähne beissen müssten, dass es ein wenig Geduld brauche. Es ging um Briefe aus Bern, um «Pasaport», «Gemayinde», Heks, um den Antrag, den Rekurs, um Ausweisung. Um «Almanya». «Hollanda?» «Fransa?»
Mama war schnell zu mir geeilt, nachdem ich nach ihr gerufen hatte. Die Matratze und die Decke waren durchnässt. Der Regen war über die Dachschräge in mein Bett gedrungen. «Nein, Mama», sagte ich, «das ist kein Regen, das ist Wasser aus dem Meer. Und eine Ratte war auch da!» Sie strich mir über den Kopf, nahm mich so nah zu sich, dass ich ihr nicht in die Augen schauen konnte, und sagte: «Ach ja, meine Seele, eine Ratte? Das musst du wirklich nur geträumt haben.»
In der Serie «In mir die Wände» blickt Uğur Gültekin (geboren 1984) zurück auf seine Kindheit und Jugend: auf die Flucht aus Kurdistan und das Grosswerden in der Schweiz, auf Ausgrenzung und Aneignung – und setzt diese persönlichen Erfahrungen in einen gesellschaftlichen Rahmen, der auch von der Schweiz der neunziger Jahre erzählt. Nächste Woche: Mäuse.