Kroatien nach den Parlaments- und Präsidentschaftswahlen

Bereits vor zehn Jahren hätte die Demokratie in Kroatien ankommen sollen, doch offenbar kommt sie erst jetzt. Jene politischen Kräfte, die 1990 den jugoslawischen Sozialismus in freien, demokratischen Wahlen besiegt und das Land in die Unabhängigkeit, aber auch in den Krieg geführt hatten, wurden jetzt gnadenlos von der politischen Bühne gefegt. Bei den Parlamentswahlen vom 3. Januar hat eine Mehrheit der WählerInnen nicht nur die seit zehn Jahren regierende Kroatische Demokratische Gemeinschaft (HDZ) abgewählt, sondern das ganze vom kürzlich verstorbenen Präsidenten Franjo Tudjman aufgebaute System zum Einsturz gebracht. Es war nicht nur Machtwechsel, sondern auch ein erneuter Sieg der Demokratie. Die Frage aber, warum die Demokratie, um eine «richtige» zu werden, in Kroatien zweimal siegen musste, ging in der verbreiteten Euphorie unter. Man feierte den Sieg und vergass die verlorenen zehn Jahre. Und stellte sich auf die nächste Wahlkampagne ein: An diesem Montag gingen die KroatInnen wieder zu den Urnen, diesmal um einen Nachfolger für Tudjman zu bestimmen.

Mit über 40 Prozent der Stimmen gewann Stipe Mesic den ersten Wahlgang. In einer Stichwahl wird er sich nun mit Drazen Budisa auseinander setzen, dem Kandidaten des bei den Parlamentswahlen siegreichen Bündnisses von Sozialdemokraten und Sozialliberalen, der am Montag 28 Prozent erhielt. Der offizielle Kandidat der HDZ, der Arzt und bisherige Aussenminister Mate Granic, war anfänglich als unbestrittener Favorit gehandelt worden – und fiel ganz aus dem Rennen. Das erst demonstriert das ganze Ausmass des Sieges der Opposition über den Tudjmanismus.

Als Mesic vor ein paar Wochen die Wahlkampfarena betrat, galt er allen KommentatorInnen als nicht ernst zu nehmender Aussenseiter. Heute ist er der haushohe Favorit für den Posten des kroatischen Präsidenten. Im politischen Leben Kroatiens scheint fast nichts mehr im Voraus bestimmbar, Freiheit und Offenheit werden wieder als eigentlicher Inhalt der Demokratie gespürt, nicht bloss als ihre ordinäre Form. Dabei galt das Land noch vor zwei Monaten als eines der politisch rückständigsten Länder Europas. Das Land eines primitiven, barbarischen Nationalismus, dessen Bevölkerung niemand zutraute, in absehbarer Zeit das Joch autokratischer Herrschaft abzuschütteln. Quasi über Nacht dann die radikale Verwandlung, von der viele geträumt haben, die aber niemand voraussah.

Warum also ging Mesic, der lange chancenlose Aussenseiter, als Sieger aus dem ersten Wahlgang hervor? An seiner Partei, der Kroatischen Volkspartei, liegt es nicht, sie ist kein nennenswerter politischer Faktor. Kaum mehr Gewicht bringt das oppositionelle Bündnis der vier kleineren Parteien auf, die Mesic portierten. Der Kandidat hat eine bewegte Vergangenheit. Anfang der neunziger Jahre war er das letzte Mitglied Kroatiens im jugoslawischen Staatspräsidium und der letzte Präsident Jugoslawiens gewesen. Zugleich gehörte er zum Führungskreis der HDZ Tudjmans, der die Abtrennung Kroatiens von Jugoslawien betrieb. Zum Bruch zwischen dem inzwischen zum Präsidenten aufgestiegenen Tudjman und dem prominenten Parteifreund Mesic kam es nach Beginn des kroatisch-bosniakischen Krieges in Bosnien-Herzegowina (1993). Fortan profilierte sich Mesic nicht zuletzt dank seiner Kenntnisse aus dem Innenhof der Macht als scharfer Kritiker einer Politik, die Kroatien in internationale Isolierung, wirtschaftliche Rezession und eine tiefe gesellschaftliche und moralische Krise führte. Nach einer Zeugenaussage vor dem Haager Kriegsverbrechertribunal galt er dem Regime nur noch als Verräter und sah sich einer Hetzjagd in der kroatischen Öffentlichkeit ausgesetzt.

Stipe Mesic beteiligte sich merklich wenig an dem in Kroatien üblich gewordenen Chauvinismus gegenüber SerbInnen. So konnte er sich im Walkampf der letzten Wochen auch ohne allzu grosse Verrenkungen als einziger Kandidat direkt an alle BürgerInnen Kroatiens, nicht nur an die Kroatinnen und Kroaten wenden. Nach dem Ausgang der Parlamentswahlen befürworteten allerdings auch alle anderen ernsthaften Bewerber um die Präsidentschaft eine Rückkehr der aus Kroatien vertriebenen serbischen Bevölkerung. Mit solchen zehn Jahre lang ungehörten und unerhörten Äusserungen wollten sie dabei aber offensichtlich weniger aufgeklärte kroatische Nationalistinnen beeindrucken als diejenigen, die über die Zukunft des Landes entscheiden werden: die PolitikerInnen des Westens. Und die interessieren sich bekanntlich nicht für die Frage, was dieselben kroatischen Politiker, die jetzt als authentische Demokraten auftreten, in den letzten zehn Jahren für den Schutz der Menschenrechte aller BürgerInnen Kroatiens getan haben.

Auch die Sieger vom 3. Januar hätten Schwierigkeiten, diese Frage zu beantworten. Niemand kann sich heute an irgendeine Aussage des künftigen Ministerpräsidenten Ivica Racan zum Schutz der serbischen Minderheit erinnern. SozialdemokratInnen, Sozialliberale und fast alle Präsidentenkandidaten achteten stets auf genügend Distanz gegenüber jenem kleinen Häuflein, das zehn Jahre wider den kroatischen Zeitgeist für Menschenrechte und Demokratie gestritten hat.

Ausgerechnet diese zivilgesellschaftlichen Bewegungen, die pazifistischen und feministischen Gruppierungen erleben jetzt, wie sich Politiker und Parteien, die Tudjmans Autokratie einen parlamentarischen Anstrich gaben und damit eine Mitverantwortung für die massiven Verfassungs- und Menschenrechtsverletzungen des Regimes tragen, mit demokratischer Rhetorik ausstatten und mit Forderungen schmücken, die sie gestern noch als unrealistisch oder provokativ abgetan hatten. Ja, die neuen DemokratInnen der gerade an die Macht gekommenen Koalition versuchen jetzt, jene Kräfte von der politischen Szene zu drängen, die zehn Jahre lang auf verlorenem Posten für Demokratie gekämpft haben.

Das ist Teil der Normalisierung Kroatiens, die der Westen will und die ihm die Wahlsieger nun geben: Die zwar schwachen, aber lauten Kräfte der Zivilcourage müssen zum Schweigen gebracht werden. Denn sie wissen zu viel von zu vielen und könnten damit die jetzt angesagte «Politik der Toleranz», das heisst des Schwamm-Drübers stören. Es muss viel vergessen werden, und viele – eine Mehrheit –, die sich politisch und moralisch die Hände schmutzig gemacht haben, müssen jetzt den Anschluss an die Zukunft finden. Die neuen Machthaber werden ihnen dazu die Chance geben, dafür wurden sie gewählt.

Das grosse Rennen der Überläufer, das am 3. Januar begann, wird noch eine Weile anhalten, bis aus Kroatien wirklich ein ganz normales Land geworden sein wird. Nur ein paar allzu empfindliche Nasen werden dann noch den fauligen Gestank aus dem Keller jenes prunkvollen Palastes der kroatischen Demokratie, an dem jetzt im Nebel eines grossen Vergessens so eifrig gebaut wird, riechen wollen. Hauptsache, der Westen ist zufrieden und hilft dem ruinierten Land, wieder auf die Beine zu kommen. Und im Gegenzug darf auch er sich an dem kroatischen Beweisstück vitaler Demokratie verjüngen. Das faltenreiche und müde Gesicht seiner Gesellschaftsordnung hat dringend eine Facelifting gebraucht. Alles in Ordnung. Alles in Ordnung?
Die Frage, was wir Kroatinnen und Kroaten auf diesem zehnjährigen Weg von Racan zu Racan, von Mesic zu Mesic, von Kommunisten zu Kommunisten eigentlich gesucht haben, bleibt natürlich unausgesprochen. Es waren offensichtlich Jahre, die, wie man bei uns sagt, von Grashüpfern weggefressen worden sind. Glücklicherweise vergisst man schnell. Das ist weder gut noch schlecht, sondern einfach ambivalent, wie das Leben selbst.