Kroatien hat sich längst von Franjo Tudjman verabschiedet

Vor zehn Jahren feierten die KroatInnen Präsident Franjo Tudjman als Vater der Unabhängigkeit. Nun verfolgten sie seinen Todeskampf mit morbidem Spott. Denn sie haben sich nicht geändert.

«Na, ist der Alte schon tot?», fragte mich der Schaffner, der eine Zeitung in meinen Händen sah. Der Zug hatte gerade den Bahnhof von Zagreb verlassen, und wir waren noch allein im Coupé. Die Antwort aber wussten wir beide nicht.
Angeblich lebte unser Präsident Franjo Tudjman zu der Zeit noch. Angeblich lebt er noch heute. Seit Wochen liegt er im Spital am Stadtrand von Zagreb, ohne dass jemand irgendein Lebenszeichen von ihm gehört oder gesehen hätte. Als damals, im Frühjahr 1980, Tito auf dem Sterbebett lag, haben sie uns zumindest ein Foto von ihm gezeigt. Er sass im Bett und lachte. Offensichtlich hatte er noch einmal genug Kraft gesammelt, um sich von uns in anständiger Weise zu verabschieden. Ganz anders bei Tudjman: Auf einmal verschwand er, als ob er nie da gewesen wäre. Spärliche, aber nichtsdestoweniger widersprüchliche offizielle Informationen über seinen gesundheitlichen Zustand liessen das Gerücht aufkommen, dass er längst gestorben, seine Gefolgschaft aber noch nicht auf die Zeit nach ihm vorbereitet sei. Und tatsächlich, die Zeichen einer Panik unter den Mitgliedern der Parteispitze von Tudjmans Kroatischer Demokratischer Gemeinschaft (HDZ) sind offensichtlich. Die Parlamentswahl steht vor der Tür, und ihnen ist klar, dass sie ohne Tudjman nicht zu gewinnen ist. Eine wachsende Nervosität unter seinen AnhängerInnen, aber auch ein bislang unbekannter Trotz der Opposition führte in der Bevölkerung zu einer Aufbruchstimmung. Endlich scheint man es satt zu haben, ständig an der Nase herumgeführt zu werden. Eine gedämpfte Wut wandte sich gegen den sterbenden oder auch schon toten Präsidenten. Plötzlich waren überall böse, morbide Witze auf dessen Kosten zu hören; bei Publikumsbefragungen im lokalen Zagreber Fernsehen erklärte ein Anrufer, der kranke Präsident solle leiden, wie das Volk unter ihm gelitten hat; Radiomoderatoren machten sich lustig über die täglichen Mitteilungen des Ärztekonsiliums zum «zufrieden stellenden» Zustand des Kranken; anderes als Spott scheint keiner für ihn übrig zu haben: Auch wenn er zu dieser Zeit wahrscheinlich noch lebte, war Franjo Tudjman schon seit Tagen tot.
«Er soll noch am Leben sein», antwortete ich dem Schaffner mit einem gewissen Vorwurf im Unterton. Ob bereits tot oder noch im Sterben liegend, der Mensch Franjo Tudjman sollte ein bisschen Mitleid verdienen. Der Schaffner warf mir einen verächtlichen Blick zu und verliess das Coupé. Die Tür liess er demonstrativ offen: Ich sollte büssen für das kleine Zeichen der Sympathie, die ich dem sterbenden Präsidenten nicht vorenthalten konnte.

Wir haben Kroatien

Vor kaum zehn Jahren war alles ganz anders: Dasselbe Volk, das ihn heute pietätlos bespuckt, jubelte demselben Franjo Tudjman zu. Im Mai 1990 wurde er zum ersten demokratisch gewählten Präsidenten Kroatiens. Damals hatte Tudjman einen Traum: den von einem unabhängigen kroatischen Staat. Der Traum hätte sogar ein tausendjähriger sein können, beteuerte der Präsident. Und er sei gekommen, um ihn zu verwirklichen. Das Volk glaubte ihm und zeigte sich bereit, ihm zu folgen, allen Hindernissen und Gefahren zum Trotz. Der Führer und sein Volk – vereint im gemeinsamen Streben nach dem gleichen politischen Ziel. Dann kam der Krieg gegen die jugoslawisch-serbische Armee, und Kroatien wurde von der internationalen Gemeinschaft endgültig anerkannt. Wie Phönix aus der Asche, hiess es damals, sei der kroatische Staat nach tausend Jahren wieder auferstanden.
«Wir haben Kroatien!», verkündete im Winter 1991 der Präsident von einem Balkon auf dem Zagreber Jelacic-Platz die historische Nachricht. Das Volk war begeistert. In der allgemeinen Euphorie vergass man die unzähligen Toten, Verwundeten und Vertriebenen, all die Zerstörung und das Elend, das der Krieg mit sich gebracht hatte. Es schien für einen Moment, als hätte das alles doch einen Sinn gehabt.
«Hätten wir nicht den selbständigen Staat gewollt, wäre es nie zum Krieg gekommen», sagte ein paar Jahre später Franjo Tudjman und zerstörte – ohne dass sein Volk es bemerkt hätte – mit einem einzigen Satz die offizielle Version, nach der die KroatInnen die unschuldigen Opfer einer serbischen Aggression geworden seien, nach der ihnen der Krieg aufgezwungen worden und die Verantwortung für das unermessliche Elend anderswo zu suchen sei. Dieser Widerspruch verstörte damals nur wenige.
Noch war der Glaube an einen Präsidenten ungetrübt, der nicht nur mit seiner scheinbar überwältigenden Persönlichkeit auftrumpfen konnte. Tudjman hatte noch etwas anderes, was ihn entscheidend von den anderen Politikern abhob, die ihre Karrieren auf den Trümmern des Titoismus aufbauten, etwas, das aus ihm eine fast einmalige politische Erscheinung in der ganzen postkommunistischen Welt machte: Er vertrat ein kohärentes Weltbild, an welchem er jahrelang gebastelt hatte. Eine historisch vermittelte Nationalideologie der Kroatinnen und Kroaten, die sich, durchaus unoriginell, wie jede andere fast ausschliesslich um die Staatsgründung dreht, verband Tudjman mit einer kompletten Weltanschauung. Bevor er sich also in die Politik einliess, konnte er schon die wichtigsten Fragen beantworten, jene zum Beispiel nach dem Sinn des Lebens oder nach dem Zweck der Weltgeschichte. Die historische Entwicklung interpretierte er vollkommen getrennt von jeder moralischen Zielsetzung. In der Menscheitsgeschichte herrschte für ihn das gleiche Gesetz wie in der Natur – das Gesetz des Stärkeren.

Mit Gott und dem Genozid

In seinem Hauptwerk «Die Irrwege der Geschichtswirklichkeit» gewann er sogar dem Genozid einiges ab: Ein Völkermord könne durchaus positive Auswirkungen haben, da er in letzter Konsequenz zu einer Harmonisierung des gesellschaftlichen Lebens führe. Obwohl solche Gedanken schon vor Tudjmans Aufstieg auf die politische Bühne bekannt waren, schadeten sie seiner Karriere in keiner Weise. Im Gegenteil: Für seine politischen Ambitionen fand er sowohl in Kroatien als auch im Ausland stets genug Unterstützung.
Die Aussenpolitiker Deutschlands und Österreichs setzten in Westeuropa die Anerkennung Kroatiens durch. Ganz entscheidend beim Ausbau von Tudjmans Macht war aber auch die katholische Kirche Kroatiens. Ihre ganze, auf die kulturelle Hegemonie ausgerichtete Infrastruktur arbeitete von Anfang an in seinen politischen Diensten. Dafür revanchierte sich Tudjman in einem Sonderabkommen mit dem Heiligen Stuhl, das der kroatischen katholischen Kirche Privilegien einräumte, welche sie seit dem Mittelalter nie genoss. Dass aus Kroatien dadurch praktisch ein katholischer Staat wurde, störte wiederum niemanden. Und genauso wenig regte sich jemand in diesem so katholischen Land über die totale moralische Verkommenheit der kroatischen Gesellschaft auf. Räuber und Mörder leben dort in aller Ruhe, weder von ihren MitbürgerInnen gestört noch von ihrem Staat bestraft. Diese seltsame moralische Unempfindlichkeit ist inzwischen zu einem der Hauptmerkmale des gesellschaftlichen Lebens im heutigen Kroatien geworden. Eine Erklärung dafür findet man im spezifischen Typus der Herrschaft von Franjo Tudjman.
Seine politische Rolle wird üblicherweise mit der eines patriarchalischen Diktators identifiziert, die typisch für die politischen Verhältnisse einer eher vormodernen Gesellschaft sein soll. Vieles unterstützt diese Annahme, vor allem auch das Bild, das Tudjman selbst von sich pflegte, mit all seinen kitschigen Uniformen und bunten Machtinsignien, die eher an einen Feudalherrn als an einen demokratisch gewählten Präsidenten erinnerten. Doch das Bild täuscht, und die Annahme ist falsch. In seinem Herrschaftsstil gehörte Franjo Tudjman zum modernsten Typus eines Massenführers. Er versuchte nie, die Triebe seiner AnhängerInnen zu hemmen, ganz im Gegenteil unterstützte er sogar ihre ungehinderte Entladung. Das, was ein patriarchalischer Herrscher normalerweise verbietet, hat Tudjman erlaubt, bis hin zu Mord und Plünderung. Einen Kindermörder ernannte er zu seinem Leibwächter, Kriegsverbrecher berief er in die höchsten Militärposten, fast 30 000 serbische Häuser liess er einäschern. Er sicherte seine Macht gerade dadurch, dass er dergleichen zuliess.

Alte Krankheit, neue Symptome

Nichts bestätigt das besser als Tudjmans Sentimentalität. Der Staatschef erlaubte es sich mehrfach, in aller Öffentlichkeit in Tränen auszubrechen. Das wirksamste Mittel zur Sicherung seiner Macht war die Demonstration seiner tiefen Gefühle, vor allem seiner Vaterlandsliebe, die buchstäblich grenzenlos war, nicht nur moralisch, sondern auch geografisch.
Der wahre patriarchalische Führer war seinerzeit Tito. Franjo Tudjman steht im Vergleich zu ihm trotz aller äusserlichen Ähnlichkeiten eher für den Bruch als für die Kontinuität.
Entsprechendes gilt für einen weiteren Gemeinplatz zur politischen Identität des Franjo Tudjman, nämlich für die These, er sei ein als Nationalist getarnter Altkommunist gewesen. Zwar hatte Tudjman zu realsozialistischen Zeiten erfolgreich politische Karriere gemacht und sich die höchsten politischen Posten im damaligen jugoslawischen Staat und seiner Volksarmee erkämpft, bis er in Ungnade fiel. Doch das erklärt kaum seinen politischen Erfolg unter den neuen nationalistischen Voraussetzungen. Eine Kontinuität zwischen dem gestrigen Realsozialismus und dem heutigen Nationalismus scheint unwiderlegbar zu sein. Die entscheidende Frage ist jedoch, wo wir sie suchen. Gemeinhin wird behauptet, die Kontinuität liege in der autoritären Herrschaftsstruktur. Demzufolge wäre der Nationalismus eine Fortsetzung der alten Herrschaftsstruktur mit anderen ideologischen Mitteln: Um ihre alten Machtpositionen zu sichern, hätten die realsozialistischen Eliten zur nationalistischen Ideologie gegriffen, und mit deren Hilfe wäre es ihnen gelungen, die Massen weiter zu manipulieren. Die Voraussetzung eines solchen Verständnisses der Kontinuität von Kommunismus und Nationalismus ist die Vorstellung einer etwas naiven, im Grunde aber gesunden Gesellschaft, die sich freilich immer wieder von bösen Ideologen verführen lässt.
Das realsozialistische System aber hat nicht dank der Stärke seines Unterdrückungsapparats so lange überlebt, sondern als Folge des weit verbreiteten Opportunismus. Die Massen, die Tudjman 1990 feierten, identifizierten sich denn auch weniger mit einem nationalistischen Helden als mit dem altkommunistischen Opportunisten – denn den kannten sie, das war einer von ihnen.
So ist auch die Art, in der die KroatInnen heute von ihrem jahrelang unkritisch bewunderten Präsidenten Abschied nehmen, kaum als endgültiger Durchbruch der Demokratie zu verstehen. Da zeigt sich vielmehr ein neues Symptom der Kontinuität des alten Opportunismus, der dem verstorbenen Präsidenten Tudjman volle zehn Jahre eine unbestrittene Herrschaft ermöglicht hat.
In Kroatien hat zuletzt weder die Demokratie noch die Opposition, sondern nur eine Krankheit gesiegt. Und das allein ist Grund genug für tiefe Traurigkeit.