Zerbrochener Spiegel

Le Monde diplomatique –

Im Jahr 1939 saß ein weißer Mann im Urwald von Neuguinea Tag für Tag an seinem Radio und lauschte ergriffen den Reden des Führers und den Gesängen der Hitlerjugend. Dafür hatten die einheimischen Träger den Apparat, den Generator und den Diesel die Berge hinaufschleppen müssen. Für eine Stunde mit den Stimmen aus Deutschland opferte er den kostbaren Strom.

Er fand es erhebend. So war es, wenn den Geschichten meiner Verwandten zu trauen ist. War es so? Was diesem Mann dabei durch den Kopf ging, weiß ich nicht. Ich habe es, wenn man so will, erfunden: Ich habe die Geschichte meiner Vorfahren als weiße Missionare und Kolonialisten auf Neuguinea in eine Fiktion umgewandelt, also: einen Roman daraus gemacht. Es war anfangs Neugier, dann Lust am Erzählen und am Ende ein Prozess des Begreifens: Was Kolonialismus und Nationalsozialismus für die Beteiligten, in diesem Fall die deutschen in der ehemals Deutschen Südsee, bedeutete und mit ihnen machte.

Wie erzählt man Geschichte? Wie erzählt sich eine Gesellschaft ihre Geschichte? Ich hätte auch fragen können: eine Nation. Aber Nation selbst ist bereits ein erzählerisches Konstrukt, Begriff einer bestimmten Selbsterzählung, die den Zusammenhang zwischen Sprache, Kultur, Verwandtschaft und Staat plausibel und politisch wirksam machen soll. Also Vorsicht damit.

Es gibt viele solcher konstruierten Begriffe in der historischen kollektiven Selbsterzählung, die – wie Nation – fest im politischen Vokabular und Denken verankert sind. Nation. Rasse.

Sie können brüchig werden, wenn sie als Konstrukte entlarvt sind, und werden womöglich geächtet. Was den Kolonialismus betrifft, ist auch der Fortschritt ein solcher hinterfragbarer Begriff: Fortschritt, verstanden als stetige Höherentwicklung der westlichen Zivilisation, war im Vokabular der weißen Kolonialisten das, was sie den Kolonisierten beizubringen gedachten. Es gibt eine Menge solcher vermeintlich stabiler Begriffe, mit denen wir zu hantieren gelernt haben, die aber bei näherem Hinsehen ihre Umrisse verlieren und ihre Bedeutung verändern.

Für die historische Forschung ist es unabdingbar, in bestimmten Kategorien und wohldefinierten Schlüsselbegriffen zu denken, um eine wissenschaftliche und faktenbasierte Ordnung in die Darstellung der Geschichte zu bringen. Dass dies nur bedingt funktioniert und immer wieder neu zu verhandeln ist, weiß die Zunft selbst am besten.

Anders verhält es sich mit dem Erzählen. Zwischen grande und petite histoire, zwischen der großen Welt- oder auch nationalen Geschichte und dem kleinen, privaten Erleben liegt ein prinzipieller Unterschied, nicht nur der Dimensionen. Der Unterschied liegt im Maß der Intimität.

Wenn man Geschichte aus der Perspektive einzelner unwichtiger Menschen erzählt, geht man über eine Brücke: vom vermeintlich sicheren Ufer der Abstraktion hinüber ins gefährlich sumpfige Gebiet der Emotionen, der Widersprüche und des Vergessens. Wobei Letzteres – so man die Metapher noch weiter strapazieren will – die Gefahr beinhaltet, dass historische Realität vollends im Morast des menschlichen Gedächtnisses versinkt.

Nietzsche formulierte es so: „Das hast du getan! sagt mein Gedächtnis. Das kannst du nicht getan haben! sagt mein Stolz. Endlich gibt das Gedächtnis nach.“

Petite histoire ist keine Lösung für den Zugriff auf historische Fakten: Sie ist zwangsläufig lückenhaft, fehlerhaft, sie ist wie ein Schlüsselloch, durch das wir in die Vergangenheit schauen können. Sie ermöglicht einen Blick in private Räume, in denen Lebensbedingungen, Gerüchte, Hoffnungen, Ambitionen, Ängste, Gefühle und kollektive Gemütslagen chaotisch zusammentreffen: all das, was uns als schlecht sortierte soziale Wesen ausmacht.

Es gibt eindrucksvolle Arbeiten, die sich dieses geschränkten Blicks bewusst bedient haben, mir fällt ein Dokumentarfilm von Volker Heise aus dem 2020 ein („Berlin 1945“), der kommentarlos Propagandafilme und Wochenschauaufnahmen aus der sogenannten Stunde null mit O-Tönen aus privaten Briefen und Tagebüchern kombinierte. Man sieht die offizielle Darstellung und hört dazu leidende, hoffende, wütende, ahnungslose, dumme Äußerungen; die Stimmen derer, die in den Großen Erzählungen als das Volk geführt werden.

Auch Volk ist so ein brüchiger Begriff, der mittlerweile eigentlich nur noch in Kriegszeiten und zu Propagandazwecken aufgerufen wird. Unsere frühere Bundeskanzlerin hat ihn durch die Menschen draußen im Land ersetzt, eine interessante Wendung.

Der großartige französisch-deutsch-spanisch-jüdische Autor Max Aub, Romancier und Chronist des Spanischen Bürgerkriegs, hat einmal behauptet: „Ein Roman ist immer näher an der Realität als an der Geschichte. Und wenn ein Roman ein Spiegel ist, der sich durch die Welt bewegt, glaube ich, daß es sich um einen zerbrochenen Spiegel handelt.“

Das ist im Kern das literarische und künstlerische Verfahren der Moderne: Picassos multiperspektivisch gesplitterte Gesichter. Das habe ich von Max Aub gelernt: Vergangenheit erzählen bedeutet, in den Spiegel der Intimitäten und der Irrtümer zu schauen, bis ein neues, ein wahrhaftigeres Gesicht hervortritt. Begreifen kann man Vergangenheit nur, wenn die unterschiedlichen Perspektiven der beteiligten Vielen sichtbar geworden sind, auch wenn oder gerade weil sie nicht zusammenpassen.

Als ich vor fast zehn Jahren in meine Familiengeschichte eintauchte, wusste ich über die Kolonien der Deutschen Südsee so gut wie nichts; bis vor etwa fünfzehn Jahren schien dieser Teil unserer Geschichte unendlich weit entfernt – für mich selbst und in den öffentlichen historischen Debatten sowieso. Mir war nur klar, dass die Kolonialepoche des Deutschen Reichs im Verhältnis zu der anderer Staaten wie England, Portugal, Holland oder Frankreich kurz war, sie dauerte nur 25 Jahre. Hätte meine Familie nicht ihren Anteil daran gehabt, hätte ich mich gar nicht damit befasst. Mein Thema, das Thema meiner Generation im Hinblick auf die Vergangenheit, war der Nationalsozialismus.

In den Briefen und Aufzeichnungen, die ich vorfand, kam der Begriff Kolonialismus nicht vor. So wenig wie in den heiteren Familienanekdoten über Neuguinea und „unsere Papua“. Als hätten meine Vorfahren nicht gewusst, was sie taten. Wussten sie es nicht?

„Wir sind alle in seelischer Stumpfheit geboren und nehmen die Welt als Euter, um unser erhabenes Selbst zu nähren“, schrieb George Eliot vor 150 Jahren.

Ich war tatsächlich überrascht, wie eng die grande histoire des Kolonialismus mit der petite histoire meiner Familie verknüpft war. Noch mehr, als ich die Logik kolonialistischer und nationalsozialistischer Haltungen darin zu begreifen begann. Vordergründig ein wesentlicher Antrieb, die Nazipartei zu unterstützen, war der Wunsch, die seit dem Ersten Weltkrieg verlorene deutsche Südseekolonie von Neuguinea bis Samoa zurückzubekommen. (Eine falsche Hoffnung. Die Nazis kolonisierten lieber den Osten Europas.)

Aber der Blick durchs Schlüsselloch der petite histoire in die geistige Verfassung dieser Menschen machte sichtbar, wie selbstverständlich und zentral für sie die Vorstellung von der Überlegenheit der weißen Rasse war und wie übergangslos sie – bei vielen – in die der germanischen Herrenrasse mündete. Was sich auch in ihrem Verhalten im einstigen Kolonialgebiet zeigte. Nicht dass sie aktive Massenmörder oder überhaupt Mörder gewesen wären. Sie kommandierten nur im Namen der Religion, des Fortschritts und der Überlegenheit ihrer Rasse diejenigen herum, die sie ihre Papua nannten. Sie zerstörten deren Würde, Lebensweise und Kultur. Sie taten das voller Überzeugung, mit den besten Absichten. Das Ergebnis war verheerend.

Ich glaube, ich habe Rassismus, weiße Arroganz und Antisemitismus erst begriffen, als ich mich in diese Gedankenwelt hineinbegab, sie beschrieb1 und meine Romanfiguren hineinsetzte wie in einen bösen Garten Eden. Zu meinem Erschrecken habe ich mich in meinen Figuren und deren realen Vorbildern wiedererkannt, obwohl ich mich doch viel lieber in den Anderen gespiegelt hätte: den Kolonisierten.

Mein Buch hat mir den Vorwurf eingebracht, Kolonialgeschichte aus der Perspektive der herrschenden Weißen erzählt zu haben. Aber genau darum ging es: Ich habe einen weißen Kopf. Ich bin die Erbin weißen Denkens, auch wenn es mir nicht gefällt. Ich kenne es gut. Ich kann seine Muster nachzeichnen. Ich kann es karikieren. Ausradieren kann ich es nicht. Allein deshalb wäre der erzählerische Seitenwechsel eine Flucht gewesen – und eine Anmaßung ohnehin.

Ich habe für diese Erzählung auch Worte benutzt, die damals ganz selbstverständlich gesprochen wurden und heute verfemt sind. (Viele habe ich am Ende gestrichen.) Aber sie waren da, und es war notwendig zu erkennen, was sie bedeutet haben. Ich dachte Gedanken, von denen ich niemals geglaubt hätte, dass sie in meinem Kopf zu finden wären. Aber sie waren da.

Anscheinend überleben Gedanken auch dann, wenn das zugehörige Vokabular außer Gebrauch gestellt ist. Und mit ihnen ihre Schablonen und Assoziationen. Es war erschreckend und überraschend leicht, rassistische, ignorante und zynische Denkmuster erzählerisch zu reproduzieren.

Ich glaube nicht, dass dieser Schmutz weggeht, wenn man nur die Wörter weglässt. Es macht einen großen Unterschied, ob man die Begriffe der Historie lediglich kennt und sie theoretisch korrekt anzuwenden weiß – oder ob man gelernt hat, sie als Teil des eigenen Erfahrungshorizonts zu begreifen. Das setzt voraus, dass man den eigenen Nazi- und kolonialen Hintergrund ausleuchtet und es akzeptiert, Teil davon zu sein.

Die petite histoire, das ist meine Erfahrung, hilft dabei. Sie offenbart das Innenleben derer, die beteiligt waren: der taktischen, der opportunistischen, der dummen Täter oder der zumeist gedankenlosen Mitläufer. Das Innenleben unserer Verwandten, auch im Geiste. Derer, die am Euter der Welt Bedeutung saugten, im Kolonialwarenladen Kokosseife und Kaffee kauften, mit Stolz und klopfendem Herzen Nazireden im Radio hörten und Hitler glaubten, Deutschland, die weiße Rasse, die Zivilisation seien in Gefahr.

Ein schlagendes Beispiel für die Wirksamkeit einer Erzählung der petite histoire ist die Serie „Holocaust“, die 1979 im westdeutschen Fernsehen lief (zunächst nur im dritten Programm des WDR). Sie machte auf einfache und emotionale Weise begreiflich, was geschehen war. Andererseits schenkte sie den Deutschen die trügerische Gnade des Seitenwechsels, der Identifikation mit den Opfern. Nur dass wir eben nicht die Opfer waren, die allermeisten von uns nicht.

Diese Identifikation hat nicht aufgehört, bis heute, und das gilt auch für den Kolonialismus: Befreiungskämpfe sind der letzte Rest von Heroismus, den wir uns gestatten; auch heute wieder im Hinblick auf die Ukraine.

Was unsere Gegenwart betrifft, wissen wir nicht, welches Etikett die künftige Geschichtswissenschaft für unsere Zeit finden wird. Wir leben in ihr, sind beteiligt, während wir unseren Alltagskram tun. Wir kaufen Flugmangos und nähren unsere Bedeutung am Euter der sozialen Medien. Wir haben Meinungen, Ängste, Ansprüche. Ob wir aus der Vergangenheit tatsächlich lernen können, weiß ich nicht.

1 Katharina Döbler, „Dein ist das Reich“, Berlin (Claassen) 2021.

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