Schwedens Undemokraten
Bei den Parlamentswahlen am 11. September wurde die rechtsextreme Partei der Schwedendemokraten mit 20,5 Prozent zweitstärkste Kraft. Die neue konservative Regierung unter dem Ministerpräsidenten Ulf Kristersson ist nun von ihnen abhängig.
Stockholm, 18. August 2022. Auf dem Medborgarplatsen, dem „Bürgerplatz“, werden Sprechchöre skandiert: „Keine Rassisten auf unseren Straßen!“ Doch bald übertönen stämmige Rocker in schwarzen T-Shirts sie mit E-Gitarre, Schlagzeug und Synthesizer. Sie eröffnen das Folkfest der rechtsextremen Schwedendemokraten (Sverigedemokraterna, SD).
Drei Wochen vor der Wahl betritt in weißem Kleid und mit strahlendem Lächeln die SD-Europaabgeordnete Jessica Stegrud die Bühne. Zunächst schwelgt sie in Nostalgie für die gute alte Zeit: „Die Menschen waren arm, aber die Entwicklung ging schnell. In nur zwei Generationen wurde Schweden zum Wohlfahrtsstaat. Das lag vor allem daran, dass wir damals Politiker hatten, die sich um das Land sorgten!“ Stegrud lobt die „weisen Entscheidungen, die in der Vergangenheit getroffen wurden“ und erweist damit der Sozialdemokratie der 1930er Jahre die Ehre.
Der sozialdemokratische Ministerpräsident Per Albin Hansson regierte von 1932 bis 1946. Er machte das konservative Konzept des „Folkhemmet“, wörtlich „Volksheim“, zum Kern der gesellschaftlichen Veränderung und zum Synonym für den schwedischen Wohlfahrtsstaat. Alle Parteien halten seitdem mehr oder weniger an diesem Konzept fest, erläutert die Historikerin Jenny Andersson. Alle wollen die Gewissheit vermitteln, dass Schweden ein Land ist, „in dem es sich gut lebt“. Heute wird das Konzept jedoch von den Rechtsextremen gekapert, die das Folkhemmet als „nationales Heim“ einer homogenen Bevölkerung interpretieren.
Bei der Entwicklung des schwedischen Modells des Wohlfahrtsstaats spielten die sozialdemokratische Politikerin Alva Myrdal und ihr Mann, der Ökonom Gunnar Myrdal, eine wichtige Rolle. Seit 1934 entwarf das Paar verschiedene Sozialreformen, um die oft katastrophalen Lebensbedingungen schwedischer Familien zu verbessern. Die Vorschläge umfassten den freien Zugang zu medizinischer Versorgung, kostenloses Schulessen, Familienbeihilfen, geräumige und gut ausgestattete Wohnungen, bezahlbare Mieten, kurz: all das, was bis heute Schwedens Stolz ausmacht.
Das Ehepaar Myrdal kritisierte aber auch die Geburtenkontrolle. Der durch sie verursachte Bevölkerungsrückgang führe „zu einer Degeneration der Rasse, zu einem ‚Suizid der Art‘“, schrieben sie. Bei einer solchen demografischen Entwicklung „wäre das Land bald von Zuwanderern fremder Rassen mit hoher Fruchtbarkeitsrate überschwemmt. Nach dem Gesetz des Stärkeren würden sie nach unserem kostbaren kulturellen Erbe greifen und es entstellen.“ Diese „Invasion“, so die Myrdals, könne zu „einem Abstieg unseres Landes auf internationaler Ebene führen und unseren Frieden gefährden“.1
Das 1922 gegründete und vom Staat finanzierte Nationale Institut für Rassenbiologie lieferte den wissenschaftlichen Rückhalt für die politischen Reformen. Professoren maßen die Schädel der Sami, eines autochthonen Volks in Nordeuropa, ließen sie nackt fotografieren und bewahrten ihre Gebeine auf. Die Sami galten als „exotisch“ und „unfähig, sich zu entwickeln“.2 Man zwang sie, zum Protestantismus zu konvertieren. Erst 1958 änderte das Nationale Institut für Rassenbiologie seinen Namen und beendete derartige Untersuchungen.
Zwischen 1934 und 1976 wurden in Schweden fast 63 000 Jugendliche und Erwachsene – zu 95 Prozent Frauen – zwangssterilisiert, die als „rassen- oder erbmäßig minderwertig“ bezeichnet wurden. Damit sollte die Fortpflanzung geistig Behinderter und „Schwachsinniger“3 verhindert werden, aber auch „sexuell enthemmter“ Frauen, die ein „lasterhaftes“ Leben führten, weshalb man sie für unfähig hielt, Mütter zu sein.
Die vier Hauptparolen der Schwedendemokraten im jüngsten Wahlkampf könnten eine alte Postkarte Schwedens einrahmen: „Echter Wohlfahrtsstaat“, „Sicherheit“, „Seriöse Einwanderungspolitik“, „Billiges Benzin“. Der letzte Slogan sollte vor allem die Mitglieder des „Bensinupproret 2.0“ (Benzinaufstand 2.0) anlocken, eine 2019 gegründete Bewegung nach dem Vorbild der französischen Gelbwesten.
Hinzu kommt die Energiesouveränität, die man zurückerobern müsse, wie Stegrud, die selbst in der Energiewirtschaft tätig ist, auf der Folkfest-Bühne fordert. Die derzeit explodierenden Energiepreise sind der Grund für Stegruds Auftritt an der Seite von Jimmie Åkesson, dem Vorsitzenden der SD.
„Jimmiiie!“, ruft ein Mann in der Menge. Åkesson, beige Hose, die Ärmel seines weißen Hemds hochgekrempelt, wird als der „wahre König“ Schwedens angekündigt. Er betritt die Bühne mit Musik und Feuerwerk, ein Bodyguard begleitet ihn. Vor neun Jahren hat der Parteiführer mit den zurückgegelten, braunen Haaren auf diesem Platz eine Torte abbekommen und musste die Flucht ergreifen. Diesmal sind seine Fans den Gegendemonstrant:innen zahlenmäßig überlegen.
Sehnsucht nach dem Folkhemmet
„Höchste Zeit, die sozialdemokratische Regierung abzusetzen!“, ruft Åkesson in das übersteuerte Mikro unter dem Beifall der Zuhörenden. Zwanghaft rückt er mit beiden Händen die Brille zurecht und streicht sich übers Haar. „Viele Schweden haben genug von der Unsicherheit, genug von der Gewalt, genug …“ Er liebt offenbar Anaphern und wiederholt, „es ist Zeit, Schweden an die erste Stelle zu setzen“ und „Schweden wird es wieder gutgehen“.
Die Schwedendemokraten gründeten sich 1988, ihr erster Vorsitzender, Anders Klarström, war zuvor in der neonazistischen Nordischen Reichspartei aktiv gewesen. Von dieser Tradition zeugte auch die brennende Fackel als Parteisymbol der SD, die 2006 durch ein unschuldiges blau-gelbes Leberblümchen ersetzt wurde. Anlässlich der Einführung des neuen Logos fantasierte Åkesson damals: „Die Blüten, die für uns die Frühlingsfelder leuchten lassen, erwachsen vielleicht derselben Pflanze, die den Menschen, die hier lebten, als Schweden noch in den Kinderschuhen steckte, den nahenden Frühling ankündigten.“4
Die rechtsextreme Partei bleibt zwar dem Gestern zugewandt, nutzt aber gekonnt die Werkzeuge der Gegenwart. Nach dem „Maktbarometern“ (Machtbarometer) 2022, das die reichweitenstärksten Social-Media-Konten in Schweden auflistet, steht ihr offizieller Facebook-Account auf Platz eins. Åkessons Account steht auf dem dritten Platz.
Das ist kein Zufall: Im Wahlkampfendspurt war das Budget der SD für Facebook und Instagram dreimal so hoch wie das der wichtigsten konservativen Partei, der Moderaten Sammlungspartei. Deren Vorsitzender, Ulf Kristersson, wurde am 18. Oktober zum Ministerpräsidenten gewählt, obwohl seine Partei mit 19,1 Prozent nur drittstärkste Kraft hinter den Sozialdemokraten (30,3 Prozent) und den Schwedendemokraten wurde. Nun führt er eine Minderheitsregierung mit den Christdemokraten (5,3) und den Liberalen (4,6) an. Zusammen kommen sie auf 103 Sitze (von 349) und sind auf die Duldung der Schwedendemokraten mit ihren 73 Abgeordneten angewiesen.
Im Dienste der Aufmerksamkeitsökonomie sind den Schwedendemokraten alle Mittel recht: Eine pompöse Hymne, aufwendig produzierte Youtube-Clips oder Fotos von jungen Mädchen in Bikinihöschen und T-Shirts mit politischer Message. Sie setzen auf eine der Digitalkultur entlehnte Bildsprache. Auf dem Plakat des Folkfest spielt eine Kuh mit Wikingerhelm E-Gitarre, Godzilla guckt aus dem Schornstein eines traditionellen bunten Holzhauses, und hinter Åkesson, der durch eine Ray-Ban in die Ferne blickt, gibt es eine Explosion. „In den sozialen Netzwerken funktioniert eine polarisierende Rhetorik am besten, ohne Nuancen und stark vereinfacht“, erklärt Gunilla Almström Persson, Professorin für Rhetorik an der Universität Stockholm.
Bei den jungen Wähler:innen in Schweden ist ein Verschiebung nach rechts zu beobachten. Jedes Jahr veranstaltet die Staatliche Agentur für Jugend und Bürgersinn fiktive Parlamentswahlen. Sie werden in Oberschulen und Gymnasien durchgeführt. Die Entwicklung der letzten acht Jahre zeigt: 2014 wählten die Schüler:innen mehrheitlich sozialdemokratisch, die Schwedendemokraten erhielten nur 11 Prozent der Stimmen. 2022 standen die Moderaten an der Spitze, und für die SD gab es 20 Prozent.
„Jedes Mal, wenn ich eine Benachrichtigung bekomme, geht es um Mord, kriminelle Gangs oder Drogenhändler, nur bad vibrations“, schreibt der 20-jährige Sänger Tusse Chiza. „In meiner Umgebung machen viele die alte Regierung dafür verantwortlich. Und sie wollen einen Wandel.“5 Aufgrund der Kämpfe zwischen rivalisierenden Banden ist Schweden das einzige Land in Europa, in dem die Gewalt mit Schusswaffen zugenommen hat.6
Nach Angaben des Nationalen Rats für Verbrechensprävention (Brå) sind die Täter hauptsächlich junge vorbestrafte Männer aus den „Prioritätsgebieten“, den Arbeitervierteln.7 Hier leben vor allem migrantische Familien, was die Stigmatisierung noch verstärkt. Mit den Schwedendemokraten soll Schweden wieder zu einem Paradies der Sicherheit werden: „Ich will mein Land bewahren, wie ich es als Kind erlebt habe“, verkündet die SD-Abgeordnete Anette Nyberg. „Ich will unsere Senioren ebenso schützen wie unsere Kinder.“8
Vor zwölf Jahren wollten die anderen Parteien den Schwedendemokraten den Zugang zu den Parlamentsausschüssen verweigern. Sie scheiterten. Doch die Schwedendemokraten erhielten während der letzten beiden Legislaturperioden trotz wachsender Stimmenanteile keine leitenden Posten. Mit dem Ergebnis der letzten Wahlen stehen ihnen nun alle Türen des Parlaments offen. Neben dem Amt einer Vizepräsidentin übernehmen sie den Vorsitz in vier Ausschüssen (Arbeit, Wirtschaft, Justiz, auswärtige Angelegenheiten) und den stellvertretenden Vorsitz in vier weiteren (Bürgerangelegenheiten, Transport und Kommunikation, Verteidigung, Steuern).
Um regieren zu können, hat sich die Rechtskoalition von den Schwedendemokraten abhängig gemacht, was 2018 noch als inakzeptabel galt. Damals weigerten sich die Moderaten, mit der „ausländerfeindlichen Partei“ und ihren „inkompetenten“ Abgeordneten zusammenzuarbeiten. Um den Boden zu bereiten und ihre Glaubwürdigkeit zu stärken, haben die Schwedendemokraten ihren Diskurs gemäßigt.
Für den Wahlkampf haben sie auch ihre Website aufpoliert, das Layout ist nun klarer, und einige Artikel, die das SD-Programm erklärten, wurden entfernt. Wesentliche Forderungen des Programms sind nicht mehr zu finden, wie etwa nach einer medizinischen Pflichtuntersuchung für neuankommende Geflüchtete und Migranten, die Abschaffung privater Schulen oder die bis 2019 lautstark geäußerten Zweifel an der EU-Mitgliedschaft. Dafür wird auf der Webseite zum ersten Mal eine Kehrtwende hinsichtlich des geplanten Nato-Beitritts angedeutet. Bis Ende der 2010er Jahre hatten sich die Schwedendemokraten gegen den Beitritt ausgesprochen.
Forderungen, mit denen man schnell in die Schlagzeilen kommt, wurden präzisiert. So wollen die SD inzwischen nur noch islamische Privatschulen verbieten. Im Frühjahr 2022 verbrannte der dänisch-schwedische Rechtsextremist Rasmus Paludan von der Partei „Stram Kurs“ (Strammer Kurs) in mehreren Städten Exemplare des Koran. Diese Bücherverbrennungen, die von der schwedischen Polizei genehmigt und geschützt wurden, stießen bei der muslimischen Bevölkerung auf große Empörung und lösten zum Teil gewalttätige Proteste aus.
Die Bilder von Straßenkämpfen und ausgebrannten Autos schockierten die Öffentlichkeit. Und die Rechten nutzten sie, um Angst zu schüren. SD-Generalsekretär, Richard Jomshof, goss Öl ins Feuer mit Twitter-Statements wie: „Der Islam, dieser Avatar einer Religion, hat in unserem Land nichts zu suchen.“ Mit ähnlichen Thesen spickte Jomshof seine Reden im Wahlkampf, der im Vergleich zu den krawalligen Folkfesten ansonsten eher diskret daherkam. Heute ist er Vorsitzender des Justizausschusses im Parlament.
Der im Oktober präsentierte Koalitionsvertrag (Tidöavtalet) der Minderheitsregierung unter Ulf Kristersson, macht in der Zuwanderungs- und Sicherheitspolitik deutliche Zugeständnisse an die Schwedendemokraten. Zu den Plänen der Regierung gehören zum Beispiel die Einschränkung des Asylrechts und härtere Strafen für „Gang“-Mitglieder. Die Videoüberwachung soll ausgeweitet, Hausdurchsuchungen sollen erleichtert werden.
Bei anderen Themen haben die Schwedendemokraten allerdings eine liberale Wende vollzogen. Kaum zum Königsmacher aufgestiegen, verzichten sie auf die Kritik an der EU, akzeptieren das Ende des Mietendeckels und Steuersenkungen für Unternehmen. In der Opposition hatten sie das noch abgelehnt. Auch von ihrer Forderung nach einer Übergewinnsteuer für Unternehmen, die von staatlichen Aufträgen profitieren, sind sie abgerückt. Von ihrem Versprechen, zum „Folkhemmet“ zurückzugehen, ist offenbar nur ihr identitärer Rassismus übriggeblieben.
1 Alva und Gunnar Myrdal, „Kris i befolkningsfrågan“, Stockholm (Bonnier) 1934.
2 David Naylor, „How the Sami were affected by research in ‚racial biology‘ “, Universität Uppsala, 10. Dezember 2021.
3 Maija Runcis, „Steriliseringar i folkhemmet“, Stockholm (Ordfront) 1998.
4 „Sverigedemokraterna byter partisymbol“, SD-Presseerklärung, 26. Mai 2006.
5 „Unga kulturskapare om valresultatet: Det har blivit töntigt att vara sosse“, Dagens Nyheter, Stockholm, 30. September 2022.
6 „Dödligt skjutvapenvåld i Sverige och andra europeiska länder: en jämförande studie av nivåer, trender och våldsmetoder“, Nationaler Rat für Verbrechensprävention, Stockholm 2021.
7 „Tydliga skillnader bland unga i särskilt utsatta områden“, Nationales Statistikamt, 19. Oktober 2022.
8 „SD-väljare: Därför röstar vi på Sverigedemokraterna“, Expressen, Stockholm 2021.
Aus dem Französischen von Claudia Steinitz
Violette Goarant ist Journalistin in Stockholm.