Tunesien : Noch gibt es queeres Theater

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Vor zwölf Jahren demonstrierten die Tunesier:innen für «Arbeit, Freiheit, Würde» und zwangen den Diktator Ben Ali zum Rücktritt. Heute steckt das Land in einer schlimmen Wirtschaftskrise, und Präsident Kais Saied regiert immer autoritärer. Was ist von den Forderungen geblieben? Eine Reise quer durchs Land, vom Jugendtreff am Rand der Wüste an die Küste.

Szene mit tunesischen Jugendlichen in einem Café.
Die letzte Oase vor der Sahara: Im Café Downtown träumen die Jugendlichen von Gafsa von der Zukunft.

Noor kommt fast jeden Tag ins «Downtown». Dicht gedrängt sitzen junge Frauen und Männer in dem Café, im Hintergrund dröhnt Musik, die Luft ist getrübt vom Rauch der Zigaretten. Das «Downtown» ist eines der wenigen Cafés in Gafsa, in denen Noor sich wohlfühlt. Denn für Jugendliche, erst recht für junge Frauen, gibt es sonst kaum Orte in dieser Stadt tief im Landesinnern Tunesiens.

Es ist Dezember 2022. Fast zwölf Jahre ist es her, seit sich der Machthaber Zine al-Abidine Ben Ali nach wochenlangen Protesten ins Ausland absetzte und so den Weg für einen politischen Wandel freimachte. Lange galt Tunesien damit als Erfolgsgeschichte: Als einziges Land hatte es nach den arabischen Aufständen 2011 einen friedlichen Übergang zur Demokratie geschafft.

Damals war Noor sechs Jahre alt. An das Leben unter der Diktatur kann sie sich kaum noch erinnern. Sie wurde in den turbulenten Jahren nach der Revolution gross, die von Regierungswechseln, erfolgreichen Kompromissen und zersetzenden Machtkämpfen geprägt waren. Bis im Sommer 2021 der Präsident Kais Saied das Parlament entmachtete und den Premierminister absetzte. Und ein Jahr später per Referendum über eine neue Verfassung abstimmen liess, die die Gewaltenteilung – und damit das Fundament für die demokratische Ordnung – abschaffte.

Karte von Tunesien am Mittelmeer

Karte von Tunesien am Mittelmeer
Karte: WOZ

Heute ist Noor achtzehn. Ihren Nachnamen will sie nicht nennen. Schulterlange Haare umrahmen ihr Gesicht, sie trägt eine Zahnspange. Über Politik spricht sie kaum an diesem Vormittag. Stattdessen erzählt sie von ihren Plänen: Bald schliesst sie das Gymnasium ab, danach will sie Pilotin werden. In Tunesien, das weiss sie jetzt schon, will sie nicht bleiben.

Ein Jahrzehnt nachdem die Menschen gegen die Diktatur und für eine bessere Zukunft ihres Landes demonstriert hatten, wollen laut einer Umfrage des unabhängigen Forschungsnetzwerks Arab Barometer zwei Drittel aller unter Dreissigjährigen Tunesien verlassen. «Arbeit, Freiheit, nationale Würde» lautete 2011 der bekannteste Protestruf. Eigentlich ist er heute so aktuell wie damals: weil er die grundlegenden Bedingungen ausdrückt, die für eine funktionierende Beziehung zwischen Staat und Gesellschaft notwendig sind. Was aber bleibt davon übrig, wenn so viele Menschen die Hoffnung auf eine Zukunft in ihrem Land verloren haben?

Arbeit: Versäumnisse nach der Revolution

Gafsa markiert die Grenze zwischen mediterraner Steppe und Sahara, rund fünf Stunden Autofahrt südlich der Hauptstadt Tunis. Die Hauptstadt der gleichnamigen Provinz liegt bei einer Oase, in der seit Jahrhunderten Oliven und Datteln angebaut werden. Dahinter beginnt die Wüste. Hier, am Rand des Orts Mdhilla, haben zwei alte Männer auf Plastikstühlen Platz genommen.

Fethi Titey und Hussein Rzik sind in einer Zeit gross geworden, in der die Zukunft noch vorgezeichnet war. Gafsa ist die Bergbauregion Tunesiens, seit über hundert Jahren wird hier Phosphat abgebaut, verarbeitet, mit Zügen an die Küste transportiert und dort verschifft. Generationen von Menschen in Gafsa haben bei der Compagnie des Phosphates de Gafsa (CPG) und angegliederten Firmen eine Arbeit gefunden. Auch Titey und Rzik. Heute sind sie pensioniert, doch erholsam ist ihr Ruhestand nicht: Die beiden sind Umwelt- und Menschenrechtsaktivisten. Als solche geht ihnen die Arbeit nicht aus.

Wenn die Produktion normal läuft, trägt die Phosphatindustrie vier Prozent zum Bruttoinlandsprodukt bei und macht fünfzehn Prozent der Exporte aus. Doch vom Gewinn fliesst kaum etwas in die Region zurück. Die Infrastruktur ist marode, das Trinkwasser in den Gemeinden um die Abbaugebiete verseucht. Die Arbeitslosigkeit liegt bei fast dreissig Prozent: doppelt so hoch wie der nationale Durchschnitt. «2011 dachten alle, die Zukunft würde besser werden», sagt Titey. Viele hofften, die Revolution bringe für die vielen Arbeitslosen eine Lösung. «Aber es wussten alle, dass unmöglich alle Leute bei einer einzigen Firma arbeiten können.»

Die Situation in Gafsa ist ein gutes Beispiel für die wirtschaftspolitischen Versäumnisse seit der Revolution. Das Problem, in Gafsa wie auch im ganzen Land, ist nicht das fehlende Potenzial: Tunesien ist reich an Ressourcen, eine grosse Zahl von Menschen ist gebildet. Auf dem Papier habe das Land alles, um eine hochentwickelte Wirtschaft zu werden, heisst es in einem Bericht des Thinktanks Arab Reform Initiative von 2019. Doch Tunesien erlebt gerade die schlimmste Wirtschaftskrise seit Jahrzehnten: Die Inflation liegt bei neun Prozent, die Preise für Nahrungsmittel und Strom steigen, immer wieder mangelt es an Grundnahrungsmitteln wie Zucker oder Öl, an Medikamenten und Treibstoff.

Terroranschläge, die Coronapandemie und der Krieg gegen die Ukraine haben in den letzten Jahren zur Rezession beigetragen. Doch der Fehler liegt schon im System: Obwohl viele Menschen einen Hochschulabschluss haben, finden sie kaum Arbeit. Denn unter Ben Ali wurde der Export von Produkten mit tiefer Wertschöpfung wie etwa Kleidern gefördert – und damit die Beschäftigung im Billiglohnsektor. Hohe Staatsausgaben und fehlende Devisen wegen teurer Importe haben das Land 2022 zudem an den Rand des Bankrotts gebracht.

Den wechselnden Regierungen nach der Revolution ist es nicht gelungen, die Wirtschaft grundlegend zu reformieren. «Die wirtschaftspolitischen Prioritäten lagen etwa bei der Reform des Finanzsektors», sagt Mohamed-Dhia Hammami von der Syracuse-Universität in New York. «Niemand kümmerte sich um das, was die Leute am meisten beschäftigte: Lebensstandard und Arbeitsplätze.»

In Gafsa gab es durchaus Bemühungen, mehr Arbeit zu schaffen. Die Region ist für ihre Proteste berüchtigt, der Druck auf Behörden und CPG gross. 2008 fanden hier bereits Massendemonstrationen statt – drei Jahre bevor sich in der Nachbarprovinz Sidi Bouzid der Gemüsehändler Mohamed Bouazizi anzündete und damit die Revolution entfachte. Doch die Proteste in Gafsa hörten auch nach dieser nicht auf: Immer wieder demonstrierten Arbeitslose, die einen Job in der CPG forderten. Sie blockierten die Gleise, stoppten den Abtransport und legten die Förderung lahm. In der Folge sank die Phosphatproduktion, zeitweise musste das Land gar Phosphat aus dem Ausland importieren.

Um die Proteste zu dämpfen, wurden Arbeitsplätze geschaffen: Von 6000 Angestellten schoss die Zahl der Beschäftigten bei der CPG auf fast 30 000. Dies brachte die Firma zeitweise an den Rand des Konkurses. Und es löste das Grundproblem nicht: dass die CPG nie alle Menschen der Region einstellen kann. Und dass es in Gafsa, neben der Phosphatindustrie, kaum Alternativen gibt.

Für Noor spielt das alles kaum eine Rolle. All ihre Freund:innen träumten von der Emigration, erzählt sie durch das Stimmengewirr im Café Downtown. «Wir haben gesehen, wie die Älteren nach der Universität keine Arbeit fanden», sagt sie.

Es ist Grundlegendes, was sich hier verschiebt. Noch vor zehn Jahren hätten die Jungen gehofft, einen der begehrten Jobs bei der CPG zu kriegen, erzählt der Besitzer des «Downtown», Amine Mansoor. Denn wer für die staatliche Firma arbeitet, ist abgesichert, hat Anspruch auf Krankenversicherung und eine Pension. Der heute 32-Jährige hat das Café vor neun Jahren gegründet, als er vom Studium im Norden des Landes in seine Heimatstadt zurückkehrte. «Für Junge gab es nichts hier», sagt er. Er wollte einen Ort schaffen, der mehr ist als ein Café: ein Kulturzentrum, in dem Filme gezeigt werden und Rockmusik läuft, ein Ort, an dem die Jungen über Politik diskutieren. Denn er beobachtete, wie junge Leute zwar die Revolution anführten, aber danach kaum in die institutionelle Politik einbezogen wurden. Den Jugendlichen im Café rät er, Medizin oder Informatik zu studieren. «Und wenn sich die Gelegenheit ergibt, legal auszuwandern, dann ermutige ich sie dazu.» Am besten aber wäre es, wenn sie irgendwann mit ihrer Erfahrung aus dem Ausland wieder nach Tunesien zurückkehrten, sagt Mansoor.

Freiheit: Angst im Theater

Die roten Polstersessel des Kinotheaters Rio im Zentrum von Tunis sind fast bis auf den letzten besetzt, die Vorstellung ist ausverkauft – eigentlich ein Grund zum Feiern. Doch Ali Bousselmi, dessen Organisation Mawjoudin das Stück produziert hat und sich für die Rechte queerer Menschen einsetzt, ist bereits seit Tagen nervös.

«Flagranti» erzählt die Geschichte eines Paares, dessen Welt nach einem ausgelassenen Abend an der queerfeindlichen Realität Tunesiens zerbricht. Nach der Party verschwindet einer der Gäste. Doch als seine Geliebte auf den Polizeiposten geht, um ihn als vermisst zu melden, wird sie stattdessen selbst in Haft genommen – und die Protagonist:innen geraten immer weiter ins Fadenkreuz der Polizei.

Ali Bousselmi, LGBTQI+-Aktivist
«Die Sichtbarkeit der queeren Gemeinschaft ist heute grösser.» Ali Bousselmi, LGBTQI+-Aktivist

Es ist das erste Mal, dass ein queeres Stück an den renommierten Karthago-Theatertagen gezeigt wird. Ein Meilenstein für Aktivist:innen wie Bousselmi und seine Organisation, die sich seit Jahren für die Rechte der LGBTQI+-Gemeinschaft in Tunesien einsetzt. Ein Zeichen, dass ihr jahrelanger Kampf etwas bewirkt. «Die Sichtbarkeit der Gemeinschaft ist heute grösser», sagt Bousselmi. Der Aktivismus für die Rechte queerer Menschen habe sich ausgebreitet. Und die meisten Zeitungen würden inzwischen für LGBTQI+-Personen nicht mehr abwertende, sondern neutrale Begriffe verwenden.

Doch nun, fürchtet Bousselmi, könnte all das gefährdet sein. Seit der Präsident Kais Saied im vergangenen Juli über eine neue Verfassung abstimmen liess, habe sich das politische Klima verändert. Der Text – der Verfassungsrechtler Saied soll ihn praktisch allein geschrieben haben – ersetzt jene Verfassung, die 2014 als breit abgestützter Kompromiss verabschiedet wurde und als besonders fortschrittlich galt.

Im selben Jahr gründete Bousselmi zusammen mit anderen Mawjoudin. «Uns ist klar geworden, dass wir uns selbst für die Rechte der LGBTQI+-Gemeinschaft einsetzen müssen», sagt er. Die grossen Menschenrechtsorganisationen hätten das Thema damals zur Seite geschoben. Sich mit dem eigenen Namen in die Öffentlichkeit zu stellen, sei ein Risiko gewesen, sagt Bousselmi. «Aber das Risiko war es wert.»

Mit der neuen Verfassung jedoch konzentriert der Präsident die Macht auf sich. Parlament und Judikative haben keine Möglichkeit mehr, ihn seines Amtes zu entheben. Aktivist:innen wie Bousselmi fürchten, dass Saied in diesem Stil weitermachen wird – und die essenziellen Freiheiten, die im Zuge der Revolution gewonnen wurden, wieder rückgängig macht.

Die Anzeichen dafür häufen sich. Mehrere Journalist:innen wurden wegen öffentlicher Kritik am Präsidenten oder an der Polizei verhaftet. Bei der diesjährigen Ausgabe des queeren Mawjoudin-Festivals vor zwei Monaten bemerkte Bousselmi ein auffälliges Auto, das vor dem Gebäude geparkt war. Später habe er herausgefunden, dass darin ein Undercoverpolizist gesessen habe. Am zweiten Abend sei ihm ein Auto bis in sein Stadtviertel hinterhergefahren.

«Flagranti», das Stück, das nun an den Theatertagen gezeigt wird, birgt noch mehr Sprengstoff: Als die Geliebte für die Vermisstmeldung auf den Posten geht, findet sie zwei schlafende Beamte vor. Nachdem diese zunächst gar nichts tun wollen, verhaften sie am Ende die Frau. Mit bitterem Humor entlarvt das Stück die Übermacht der Polizei und die Willkür einzelner Beamt:innen. Als die Stimme aus dem Off den Satz sagt: «Tunesier:innen, möget ihr nicht der Polizei in die Hände fallen», erntet sie dafür Klatschen und Rufen. Die Aufführung ist für das derzeitige Klima bezeichnend. Aktivist:innen erzählen von Verunsicherung und böser Vorahnung. Noch ist es möglich, ein queeres Theaterstück, das die Polizei kritisiert, aufzuführen. Aber wie lange noch?

Für Bochra Bel Haj Hmida scheint klar, in welche Richtung alles geht: zurück zum alten System. Die Frauenrechtlerin, Anwältin und ehemalige Abgeordnete sitzt bei sich zu Hause auf dem Sofa, die Füsse auf dem Tisch. «Wir sind nicht mehr in einem Land, das das Gesetz respektiert», sagt sie.

Bochra Bel Haj Hmida, Anwältin
«Wir sind nicht mehr in einem Land, das das Gesetz respektiert.» Bochra Bel Haj Hmida, Anwältin

Für Saieds Anhänger:innen müsste Hmida ein ideales Feindbild sein. Sie war Abgeordnete einer der etablierten Parteien, die viele Tunesier:innen für die Misere des Landes verantwortlich machten. Aus diesem Frust über die politische Elite wurde 2019 der Aussenseiter Kais Saied gewählt. Der ehemalige Professor für Verfassungsrecht inszenierte sich als einer, der unabhängig vom Filz der Parteienlandschaft sei.

Tatsächlich hatte Hmida 2019 ebenfalls Saied gewählt. Auch sie war enttäuscht darüber, wie sehr die Parteien – inklusive ihrer eigenen – davon getrieben waren, an der Macht zu bleiben, wie wenig davon, Reformen umzusetzen und auf eine Vision hinzuarbeiten. Auch deswegen hatte sie sich aus der Parteipolitik verabschiedet.

Doch als Saied das Parlament absetzte, änderte Hmida abrupt ihre Meinung. Der Schritt wurde damals von vielen Tunesier:innen enthusiastisch gefeiert. Für Hmida aber war klar, dass sich das Land nun nicht mehr auf rechtsstaatlichem Boden befand. Auch die Parlamentswahlen, die eine Woche nach dem Gespräch, am 17. Dezember, stattfinden, boykottiert sie. Und sie ist nicht die Einzige – ob aus Resignation oder Protest, eine überwiegende Mehrheit blieb den Wahlen fern, die Beteiligung lag bei nur elf Prozent.

Dennoch, sagt Hmida, habe sie die Hoffnung nicht aufgegeben. «Es sind noch genug Leute hier, die Widerstand leisten.» Tunesien befinde sich zwar nicht mehr auf der Basis des Gesetzes – aber der Kampf um das Land sei noch nicht zu Ende.

Würde: Die Verschwundenen

Im «Garten Afrikas» haben die Gräber Daten, aber keine Namen. Auf diesem Friedhof in Zarzis ruhen jene, die auf dem Weg nach Europa im Mittelmeer ertrunken sind. Sie stammen aus zahlreichen Ländern, die meisten waren von Libyen aus losgefahren. Die Strömung trug ihre Körper südwestwärts und schwemmte sie hier, an der Südküste Tunesiens, an Land.

Walid hat einen Namen, aber kein Grab. Sein Körper wurde nie gefunden. Am 21. September 2022 fuhr er zusammen mit siebzehn anderen von seiner Heimatstadt Zarzis aus Richtung Lampedusa los. 24 Stunden sollte die Fahrt dauern. Seine Familie sass zu Hause. Versammelt um das Telefon, warteten sie darauf, dass Walid anrufen und sagen würde, dass er sein Ziel erreicht habe. Doch der Anruf kam nicht.

Zweieinhalb Monate später sitzt Salim Zridet, Walids Vater, in einem weissen Zelt im Zentrum von Zarzis. Draussen hängt ein Transparent mit Bildern von jungen Männern, unter ihnen Walid: Mit seinem rundlichen Gesicht sieht er Bild aus wie ein Kind, obwohl er schon fünfzehn Jahre alt ist. Zridet ist jeden Tag hier im Protestlager der Angehörigen. Er will so lange bleiben, bis er eine Antwort erhält auf die Frage, was mit seinem Sohn geschehen ist.

Ein gekentertes Holzboot am Strand.
Zeugnis zahlloser Tragödien: In Zarzis werden die Boote von Migrant:innen an den Strand gespült. Die Menschen, die sie nach Europa hätten bringen sollen, bleiben verschwunden. Foto: Vincent Haiges

Die Geschichte dieses Fischerboots hätte eine persönliche Tragödie bleiben können. Wenn die Behörden, nachdem die Angehörigen das Boot als vermisst gemeldet hatten, ihre Möglichkeiten ausgeschöpft hätten, um die Verschwundenen zu suchen. Wenn sie sich um Aufklärung bemüht und die Familien der Opfer über den Stand der Erkenntnisse informiert hätten.

Doch sie taten das Gegenteil: Sie suchten zu spät und nicht hartnäckig genug. Sie vertuschten, was sie fanden – und belogen die Familien über den Verbleib ihrer Kinder. Der Kampf Zridets und der anderen um die Wahrheit ist längst zum nationalen Politikum geworden. Es geht um das Fundament der Beziehung zwischen dem Staat und seinen Bürger:innen: den Schutz ihrer Würde.

Das Haus der Familie Zridet liegt in der Nähe der Küstenstrasse von Zarzis. Eine Steintreppe führt zur Terrasse, drinnen sitzt Souad Ridschili Ep Zridet, Walids Mutter, in einem geräumigen Wohnzimmer. Sie erzählt, weil sie will, dass die Geschichte ihres Sohnes gehört wird. Doch ihre Stimme ist brüchig, immer wieder stockt sie. «Jeden Abend liege ich wach und stelle mir vor, was mit Walid geschehen ist, wie er gestorben sein muss.»

Walid ging noch zur Schule. Doch er habe nur noch davon geredet, dass er Tunesien verlassen wolle. «Er drohte damit, sich etwas anzutun», erzählt sein Vater. Deswegen habe er schliesslich eingewilligt, dass der Sohn die gefährliche Überfahrt wage. «Heute bereue ich es so sehr.»

Eine Mutter mit dem Bild ihres verstorbenen Kindes.
«Jeden Abend liege ich wach.» Souad Ridschili Ep Zridet mit einem Bild ihres vermutlich ertrunkenen Sohns Walid. Foto: Vincent Haiges

Die «harga», wie die illegale Migration über das Mittelmeer in Tunesien genannt wird, ist kein neues Phänomen, das Wort gibt es seit den neunziger Jahren. Doch in den letzten drei Jahren ist die Zahl jener, die die gefährliche Überfahrt wagen, in die Höhe geschossen. Zwischen Januar und Oktober 2022 sind laut den Zahlen des tunesischen Forums für wirtschaftliche und soziale Rechte über 16 000 Tunesier:innen in Italien angekommen. Fast 30 000 wurden von den tunesischen Behörden abgefangen. 500 sind bei der Überfahrt gestorben. Es ist die wirtschaftliche Misere, die die Menschen dazu treibt, das Risiko einzugehen, die Inflation und steigende Preise, leere Supermarktregale, die Arbeitslosigkeit. Hinzu kommt die Enttäuschung darüber, dass sich die Situation der meisten Menschen mit der Revolution nicht verbessert hat.

Alle Jugendlichen hier träumten davon, nach Europa auszuwandern, sagen die Leute in Zarzis. «Sie sehen jene, die bereits in Europa leben und im Sommer Urlaub in Zarzis machen – und wie einfach sie Geld ausgeben», erzählt Zridet. Hinzu kommen Videos in den sozialen Medien von jungen Leuten, die ihre eigene Überfahrt filmten. Manche würden wie Walid so lange auf ihre Eltern einreden, bis diese sie ziehen liessen. Andere gingen gegen den Willen ihrer Eltern, ohne Bescheid zu sagen.

Nachdem die Familien vergebens auf eine Nachricht vom Fischerboot gewartet hatten, informierten sie die Behörden. Doch diese begannen nicht direkt mit der Suche – der Wind sei zu stark, hiess es. Schliesslich nahm der lokale Fischerverein die Suche nach den Vermissten auf.

Bereits am ersten Tag fanden sie zwei Leichen. Später sollte sich herausstellen, dass es sich dabei um zwei der Verschwundenen handelte. Doch am selben Tag versicherten die Behörden den Angehörigen, dass die Vermissten gefunden worden seien: Sie seien in Libyen, eine lokale Miliz habe sie als Geiseln genommen und verlange Lösegeld.

Die Lüge flog auf, als auf der Insel Djerba erst der Rucksack, dann die Leiche einer Frau gefunden wurde, die auf dem Boot gewesen war. Sie wurde anhand ihres Armbands identifiziert. Später erhielten die Familien einen Hinweis, dass im «Garten Afrikas», dem Friedhof für anonyme Migrant:innen und Geflüchtete, neue Gräber ausgehoben worden seien. Als sie die Gräber öffneten, wurden sie tatsächlich fündig und konnten die Leichen identifizieren. Walids Leichnam war nicht darunter.

Bereits wenige Tage danach begannen die Familien zu demonstrieren. Die Proteste dauerten über Wochen an, und unter ihrem Druck kündigte Präsident Kais Saied einen Monat später eine Untersuchung an. Das stoppte die Demonstrationen jedoch nicht. Mittlerweile unterstützen zahlreiche zivilgesellschaftliche Organisationen das Anliegen, manche Oppositionsgruppen nutzen die Gelegenheit, um den Präsidenten zu kritisieren.

Salim Zridet sagt, sein Protest habe ihn politisiert – ihn, dem es stets egal war, wer das Land regiert. Dennoch geht es ihm bei seinem Protest vor allem um eins: Er will wissen, was mit seinem Sohn geschehen ist. «Ich kann nicht traurig sein», sagt Salim. «Es gibt noch Hoffnung, dass Walid lebt. Und wenn es nur ein Prozent ist.»

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