Patriarchal, fromm und ohne Strom

Le Monde diplomatique –

Ein Besuch bei den Mennoniten im bolivianischen Tiefland

Strassenszene mit Kleingeschäften in Santa Cruz
Ausflug nach Santa Cruz Foto: ALEXANDRE MARCOU

Ein Nachmittag mitten im bolivianischen Oriente, der tropischen Tiefebene östlich der Andenkordillere. Eine Gruppe junger Männer, die Füße knöcheltief im Schlamm, hilft dem 32-jährigen Franz Groening Peters beim Bau eines Dachs. Franz nennt sich mittlerweile Francisco. Das Dach wollen die Männer später in der 300 Kilometer entfernten Stadt Santa Cruz de la Sierra verkaufen.

Sie hören Raggeaton, rauchen Zigaretten, cruisen auf Motorrädern durch die Gegend und checken andauernd ihre Whatsapp-Nachrichten und Instagram-Accounts. „Ich bin meinen Eltern echt dankbar, dass sie die Colonia Nueva Esperanza verlassen haben“, sagt Francisco. „Ich bin froh, dass ich in Freiheit aufgewachsen bin.“

Östlich von Santa Cruz, der bevölkerungsreichsten Stadt Boliviens, liegt die Provinz Chiquitos. Hier gibt es Dutzende von Mennoniten-Kolonien. Schätzungsweise leben in ganz Bolivien etwa 150 000 Mennoniten, verteilt auf 120 Gemeinden.1

Die Mennoniten gingen aus der Täuferbewegung der Reformationszeit hervor. Die Sekte der Wiedertäufer entstand unter der Führung von Thomas Müntzer (1489–1525) in Sachsen, ihre Anhänger praktizierten nicht die Erwachsenentaufe und erweiterten den Reformationsgedanken auch durch den Bereich des Sozialen, namentlich durch die Vergemeinschaftung von Gütern. Von Anfang an, schon unter Kaiser Karl V. (1500–1558), waren sie ständig Verfolgungen ausgesetzt. Ihre gesamte Geschichte war geprägt von immer neuen Auswanderungsbewegungen – auf der Suche nach Land, auf dem sie gemäß ihren Traditionen leben konnten.2

Im Departamento Santa Cruz ließen sich die ersten mennonitischen Familien in den 1950er Jahren nieder. Sie übersiedelten größtenteils von Paraguay her, später kamen weitere aus Kanada dazu, ihnen folgten Mennoniten aus Mexiko und Belize. In Bolivien leben die meisten von ihnen in ultrakonservativen Gemeinschaften, den sogenannten old colonies („alte Kolonien“).

Hier ist die Zeit stehengeblieben. Das Neue Testament diktiert die Regeln des Zusammenlebens, vom Rest der Gesellschaft halten die Gemeindemitglieder sich fern: Sie gehen nicht wählen, lesen keine Zeitungen. Bei ihnen gibt es keinen Strom, kein Fernsehen, keine moderne Technologien, keine Mobiltelefone, keine Musik, keine Kneipen, keine Restaurants. Eine starre, nicht wandelbare Gemeinschaft – oder zumindest fast. Denn in jüngster Zeit gründen sich neue, sogenannte freie Kolonien. Sie stellen die Traditionen infrage, indem sie sich ein Stück weit der Moderne öffnen, und bringen die gesamte Glaubensgemeinschaft durcheinander.

Die Colonia Nueva Esperanza wurde 1975 gegründet. Heute umfasst sie 400 Familien, insgesamt etwa 4000 Menschen. Sie leben verteilt in 40 kleinen Ansiedlungen, die sich jeweils um ein einfaches Haus gruppieren. Eine 30 Kilometer lange, gerade verlaufende Sandpiste verbindet sie. In dieser kleinen Welt, in der die Zeit nicht zu vergehen scheint, dreht sich das Leben um Ackerbau und Viehzucht: Mais und Soja, Milch und Käse.

Isaac Keller, 43 Jahre, ursprünglich aus Belize, ist das religiöse Oberhaupt der Siedlung Casa #2. Er gehört zu den „Ministern“, einer Gruppe von Männern mit Macht und hohem Ansehen in der Gemeinschaft, die für die Kontrolle und Aufrechterhaltung der Ordnung zuständig sind. Diese Ordnung ist nicht nur religiös und autoritär, sie ist auch durch und durch patriarchalisch. Frauen ist es verboten, mit Fremden zu sprechen, das gilt auch für Journalisten. Aber sie dürfen kochen, putzen, Kleidung nähen und die Kinder versorgen.

Charakteristisch für die Mennoniten-Kolonien ist auch der strenge Schulunterricht, den die Kinder allerdings nur bis zum Alter von 12 Jahren besuchen. Francisco Groening erinnert sich daran, dass „der Zugang zu anderen Informationsquellen als religiösen Schriften“ für sie verboten war. Die Jungen lernen Mathematik und Spanisch, um sich auf ihre seltenen Ausflüge in die Außenwelt vorzubereiten.

Als Landwirte haben die Mennoniten große Fertigkeiten darin entwickelt, wenig fruchtbarem Land Erträge abzuringen. Das ist auch der häufigste Grund für die Ausflüge der männlichen Gemeindemitglieder: Ein Bewohner von Casa #37 etwa hat ein Gerät entwickelt, mit dem man Wasseradern aufspüren kann. Dieses Gerät vermietet er an die Bewohner der umliegenden Ortschaften. Dank ihrer technischen Fähigkeiten sind die Mennoniten in der Region Santa Cruz zu einem Wirtschafts- und Entwicklungsmotor geworden.

„Hier lässt man uns in Ruhe“, sagt Juan. „Hier gab es Land, das wir uns einfach nehmen konnten.“ Mit den Bolivianern kämen sie gut aus, aber die Beziehungen „beschränken sich meist auf den Handel“. Auf dem Papier sind auch die Mennoniten Bolivianer, besitzen also das Wahlrecht. Sie nutzen es nur nicht.

Ansonsten finden jeden Montag die Ausflüge nach Santa Cruz statt. Weil der Besitz von Fahrzeugen, mit Ausnahme von Pferdekarren und Traktoren, verboten ist, bringen bolivianische Fahrer oder ein Sammeltaxi die Männer morgens in die Stadt. Dort verkaufen sie einen Teil der Produktion und kaufen Werkzeug und Kleidung ein. In seltenen Fällen verlassen Gemeindemitglieder die Kolonie auch, um sich medizinisch behandeln zu lassen.

Ortswechsel. In Hacienda Verde, 50 Kilometer von Nueva Esperanza entfernt, unterhalten wir uns mit einem Mittzwanziger. Er erzählt uns, dass er Fußball spielt, Fan von Real Madrid ist und viel Zeit damit verbringt, auf seiner Xbox zu zocken. Der Unterschied zu unseren Gesprächspartnern in Nueva Esperanza ist ungefähr so groß wie bei Franciso Groening, bei dem eine Flasche Coca-Cola auf dem Tisch steht und in der Obstschale ein iPhone neben einem Rubik’s Cube liegt. Aber auch Hacienda Verde ist eine Mennoniten-Kolonie.

2016 kauften verstoßene Mitglieder aus Nueva Esperanza hier Land und gründeten eine neue Kolonie. Die Gründe für ihren Ausschluss waren vielfältig: Einige wurden exkommuniziert, weil sie Mobiltelefone benutzt hatten, andere waren beim Alkoholtrinken erwischt worden. Es kommt auch vor, dass Gemeindemitglieder ausgeschlossen werden, weil sie gegen religiöse Gebote verstoßen haben.

Bald schlossen sich den Ausgeschlossenen auch freiwillige Aussteiger wie Franciscos Vater an, der das entbehrungsreiche Leben unter der religiösen Fuchtel der Gemeinschaft nicht mehr ertrug. Mittlerweile leben in Hacienda Verde 75 Familien, insgesamt 300 Menschen. Francisco ist mit der Bolivianerin Ximena verheiratet, was gegen die in den alten Kolonien praktizierte Endogamie verstößt.

Die Einwohner von Hacienda Verde haben allerdings nicht mit allen Traditionen gebrochen. So sind sie weiterhin als Landwirte tätig. Doch anders als den Latzhosen tragenden „embolsados“ (wörtlich: in der Tüte) ist es ihnen erlaubt, zu studieren. Zudem sind sie besser in die lokale Wirtschaft integriert. Sie fahren Auto, benutzen Mobiltelefone, sind ans Stromnetz angeschlossen und zeigen sich weniger strikt in ihrer religiösen Praxis. Die Kinder erhalten den Unterricht, den das bolivianische Bildungssystem vorsieht.

In Hacienda Verde glauben sie nicht, dass die alten traditionalistischen Gemeinden fortbestehen werden. Zusätzlich verdunkeln wirtschaftliche und ökologische Herausforderungen die Zukunft der Mennoniten in Bolivien. Die Fragen des Landbesitzes und der Entwaldung sind eng verknüpft mit ihrer prekären Existenz in der bolivianischen Landwirtschaft. Im Februar 2022 räumte das Nationale Agrarinstitut (Inra) die Kolonie Valle Verde, weil diese sich unrechtmäßig öffentliche Liegenschaften angeeignet hatte.3

1 Ivone Juárez, „Bolivia, el país con más menonitas estrictos olvidados por el Estado“, paginasiete.bo, 22. Mai 2022. Es gibt keine offiziellen Zahlen, wie viele Mennoniten in Bolivien leben.

2 Siehe „Verfolgung, Flucht und Neubeginn“, LMd, August 2001.

3 Eduardo Ruilowa, „INRA ratifica desalojo de menonitas en Valle Verde“, eldeber.com.bo, 16. Februar 2022.

Aus dem Französischen von Anna Lerch

Alexandre Marcou ist Journalist und Fotograf.

Radikale Protestanten

Die Mennoniten sind eine evangelische Sekte, die während der Reformationszeit in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts in der Schweiz entstand und sich entlang des Rheins ausbreitete.

Weil ihnen die Reformen Luthers nicht weit genug gingen, spalteten sich von der protestantischen Bewegung ab und bekannten sich stattdessen zu einer Reihe strikter Glaubenssätze, die der niederländische Prediger Menno Simons (1496–1561) aufgestellt hatte.

Dazu gehören Trennung von Kirche und Staat, Ablehnung der Kindertaufe zugunsten der Erwachsenentaufe als bewusstes Bekenntnis zum Evangelium, absoluter Gewaltverzicht, wörtliche Auslegung der Heiligen Schrift und Vorrang der Gotteshörigkeit gegenüber der Staatstreue.

Die Amish People, die heute vor allem in den USA und Kanada leben, gingen Ende des 17. Jahrhunderts aus einer Spaltung innerhalb der mennonitischen Bewegung hervor. Der radikale Schweizer Prediger Jakob Amman, von dessen Namen sich die „Amischen“ ableiten, geriet mit Mennoniten aus dem Elsass theologisch aneinander. Anders als die Amish haben sich die Mennoniten allerdings mit der Zeit etwas liberalisiert und zum Teil auch gesellschaftlich integriert.

Dennoch gründen auch die Mennoniten Gemeinschaften, die quasi autark leben. Den Kontakt zur Außenwelt beschränken viele auf den Handel mit Lebensmitteln und die Versorgung mit dem Nötigsten. Technischen Fortschritt lehnen sie prinzipiell ab – mit Ausnahme von Traktoren –, geheiratet wird nur innerkonfessionell (Endogamie); ihre Sprache untereinander ist „Plautdietsch“, mennonitisches Plattdeutsch.

Omar Jalilyan