Rabatz in der Nationalversammlung
Seit Präsident Macron die Nationalversammlung aufgelöst hat, brodelt es. Abgeordnete werden angegriffen, Wahlkreisbüros verwüstet, Parteimitglieder verprügelt. In den sozialen Medien hagelt es Drohungen, das politische Spitzenpersonal beschimpft einander. Journalistinnen und Kommentatoren äußern Sorge vor diesem Aufflammen politischer Gewalt, der gesamte Westen sei in Gefahr und Trump in den USA nur um Haaresbreite einem Attentat entgangen – wie vor Kurzem der slowakische Ministerpräsident Fico.
In diesem Klima zeichnet sich offenbar eine parteiübergreifende Lösung ab. Parteichefs sollten die Debatten und die Leidenschaften beruhigen, Spaltungen überwinden. Denn wie kann es eine friedliche Gesellschaft geben, wenn die Mächtigen außer Rand und Band sind? Präsident Macron ruft also zu „Gelassenheit und Respekt für alle“ und zu Kompromissen auf. Der Sozialist Boris Vallaud ist „eher für Beruhigung als für Radikalismus“. Selbst der Rassemblement National hält sich für eine „Partei der Befriedung“. Wer sich dem widersetzt, wird getadelt. Als Sophia Chikirou von La France insoumise den „Hollandismus“ mit Bettwanzen verglich, wurde sie von der Grünen Marine Tondelier zurechtgewiesen: „Wir müssen mit gutem Beispiel vorangehen, denn die Gewalt in der Gesellschaft wächst, und wir müssen da sein, um zu schützen, zu heilen und zu befrieden.“ Als wiederum die Grünen einem Rechtsextremen nicht die Hand schütteln wollten, kam der Tadel von den Republicains: „In einer Demokratie muss man seinen Gegner respektieren. Das Land braucht Befriedung.“ Die Grenze des Anstands hängt davon ab, wer sie definiert.
Ein kurzer Ausflug in die Geschichte zeigt, dass die Idee eines zahmen Parlaments, das seine Meinungsverschiedenheiten in vorbildhafter Höflichkeit beilegt, eine Schimäre ist. Wer immer in der Nationalversammlung saß, musste sich zu allen Zeiten und von allen Seiten Beschimpfungen gefallen lassen: Analphabet, Knecht, Idiot, Gauner, Lügner, Judas, Mörder, Drecksack, Fälscher, Schisser, Lakai, Kaiserlein, Knallkopf, Galgenvogel. Die heutige Zeit fällt da eher durch mangelnde Kreativität auf.
In Krisensituationen häuften sich Verbalattacken und Rabatz im Parlament: Abgeordnete klapperten mit den Pulten, brüllten herum oder sangen gar aus voller Kehle. Die Dreyfus-Affäre, die Zeit nach dem Ersten Weltkrieg, der Regierungsantritt der Volksfront, die Streiks von 1947, das Abtreibungsgesetz … Die Spannungen und Spaltungen im Land wirken sich im Parlament aus, nicht umgekehrt. Beruhigung ist daher nicht Ausgangspunkt, sondern mögliches Ergebnis einer Politik, die diese Brüche offensiv angeht. „Der reißende Strom wird gewalttätig genannt, aber das Flußbett, das ihn einengt, nennt keiner gewalttätig“, schrieb Bertolt Brecht.
In letzter Zeit gab es Grund genug für Unmut. Eine unbeliebte Reform folgt auf die andere, und Wahlen scheinen auch nichts ändern zu können, wenn das Lager des Präsidenten diskreditiert ist, sich aber mit allen Tricks an die Macht klammert. Ist es da verwunderlich, dass der Ton immer schärfer wird? Benoît Bréville