Wer steht wofür?: «Es braucht eine klare Antirassismusstrategie»
Emmanuel Macron sei mit seinem Ziel, einen starken Mitteblock zu bilden, grandios gescheitert, sagt die Historikerin Zoé Kergomard. Im Wahlergebnis zeigten sich einmal mehr die Grenzen der französischen Verfassung.
WOZ: Zoé Kergomard, vergangene Woche war der Macronismus für tot erklärt worden. Ist er wiederauferstanden?
Zoé Kergomard: Nein, viele seiner Abgeordneten sind nur dank des «front républicain» gewählt worden. Emmanuel Macrons Entscheidung, die Nationalversammlung aufzulösen, hat seinen Ruf noch weiter beschädigt. Sein Ziel, einen starken Mitteblock gegen das Rassemblement National (RN) zu bilden, ist grandios gescheitert.
Das Ergebnis wird gemeinhin als grosse Überraschung bezeichnet. Wieso lagen so viele Kommentator:innen und Prognosen falsch?
Ich glaube, wir leiden alle an einer Art umgekehrtem Blaseneffekt. Viele Medien, besonders jene des Milliardärs Vincent Bolloré, vermittelten das Bild, der Sieg des RN sei fast unvermeidlich. Das hat Angst verbreitet. Hätte es diese Angst nicht gegeben, wäre allerdings vermutlich auch das Ergebnis ein anderes geworden. Es gab ja eine unglaublich starke Reaktion auf die drohende Gefahr einer Rechtsregierung. Nicht nur vonseiten der Parteien – ohne die Zivilgesellschaft wäre dieses Ergebnis nicht möglich gewesen.
Es scheint, als ob die Angst vor einem Sieg der extremen Rechten, obwohl dieser immer nur rund ein Drittel der Stimmen vorhergesagt wurde, auch damit zusammenhängt, dass das Vertrauen in die Brandmauer zuletzt geschwunden ist. Wie steht es um die Abgrenzung gegen rechts aussen?
In den letzten Jahren hat Macrons Lager die Brandmauer geschwächt, etwa indem er immer wieder die beiden vermeintlichen «Extreme» gleichsetzte. Die Wähler:innen, besonders die linken, halten aber trotzdem mehrheitlich noch an ihr fest.
Unklar war ja vor allem, ob sich auch Macron-Wähler:innen dazu überwinden würden, links zu wählen.
Laut einer Ipsos-Talan-Umfrage wählten schliesslich 43 Prozent der Ensemble-Wähler:innen in ihren Wahlkreisen die Kandidat:innen von La France insoumise (LFI), wenn diese in einem Duell gegen das RN antraten. Die Folgen der Wahlen sind noch schwer abzusehen, aber diesbezüglich ist das Ergebnis deutlich: Die meisten Wähler:innen wollten eine absolute Mehrheit für das RN verhindern.
Steht Macron politisch der Rechten nicht eigentlich näher als dem Nouveau Front populaire?
Macrons Politik, die ja angeblich «weder links noch rechts» ist, bewegte sich in den letzten Jahren sicherlich nach rechts. Ein Beispiel dafür ist sein restriktives Migrationsgesetz, das er Anfang Jahr in Kraft gesetzt hat. Es ist trotzdem wichtig, auch weiterhin zwischen Parteien, die den bestehenden demokratischen Rahmen respektieren, und dem RN zu unterscheiden. Man weiss nicht, ob das RN verfassungskonform regieren würde. Wie würde die Partei wohl darauf reagieren, wenn der französische Verfassungsrat ihr diskriminierendes Programm der «nationalen Präferenz» blockieren würde? Man muss sich der historischen Wurzeln des RN bewusst sein: Es baut auf der Nostalgie gegenüber dem Vichy-Regime und dem französischen Kolonialreich auf. Zudem steht die Partei bis heute in Kontakt mit demokratiefeindlichen und teils gewaltaffinen Kräften.
Trotzdem erzielte diese Partei, die sich ausserhalb des demokratischen Rahmens bewegt, rund ein Drittel der Stimmen. Wie muss man diesen Wähler:innen begegnen?
Das ist die grosse Diskussion innerhalb der Linken. Zum Teil stimmt es sicher, dass linke Reformen helfen könnten: eine gerechtere Steuerpolitik und die Stärkung der öffentlichen Dienstleistungen, um die Lebensverhältnisse vieler dieser Wähler:innen zu verbessern. Andererseits wissen wir aus der Forschung, dass die Leute, die das RN wählen, dies mehrheitlich aus ethnozentrischen, wenn nicht sogar aus klar rassistischen Motiven tun. Der latente Rassismus ist in Frankreich ein gesamtgesellschaftliches Problem. Das RN hat ihn erfolgreich politisiert. Es braucht eine klare und breite Antirassismusstrategie, um dem zu begegnen.
Im Wahlkampf wurde La France insoumise dagegen Antisemitismus vorgeworfen. Wie beurteilen Sie das?
Man kennt das auch aus anderen Ländern: Parteien wie das RN und die AfD werfen der Linken und den muslimischen Minderheiten Antisemitismus vor, um ihre eigene Geschichte in den Hintergrund zu rücken. Andererseits gibt es bei den französischen Linken definitiv Antisemitismusfälle, die sie unbedingt reflektieren müssen. Allerdings ist es doch auch wichtig, Unterschiede zu benennen: In seinem Programm positioniert sich der Nouveau Front populaire klar gegen jede Form von Diskriminierung. Das RN wiederum wollte zum Beispiel – unter dem Vorwand des Laizismus – jegliche religiösen Symbole in der Öffentlichkeit verbieten, was sich vor allem gegen Muslim:innen richten sollte, aber auch Juden und Jüdinnen betreffen würde.
Beobachten wir gerade, wie sich anstelle des alten Zweiparteiensystems zwei neue politische Blöcke bilden – das RN gegen den Rest?
Das glaube ich nicht. Die demokratischen Parteien stehen immer noch für verschiedene Positionen ein. Wohl kaum jemand hat gern die Kandidat:innen konkurrierender Parteien im Namen des «front républicain» gewählt. Trotzdem: Bei den meisten Abgeordneten ist jetzt nicht mehr klar, wofür sie eigentlich gewählt wurden. Wegen ihres Programms – oder um das RN zu verhindern? Macron kennt dieses Problem schon lange.
Die traditionellen Parteien sind schon bei der Wahl im Jahr 2017 implodiert. Wie kam es dazu?
Das Misstrauen gegenüber den Parteien war über Jahrzehnte gewachsen. Sozialdemokrat:innen wie Republikaner:innen wurden im Lauf der Zeit vermehrt von Berufspolitiker:innen geprägt – mit elitärem Profil. Und die beiden Parteien haben sich einander immer weiter angenähert, dieselbe neoliberale Austeritätspolitik verfolgt. Das letzte eklatante Beispiel dafür war die Hollande-Regierung. LFI und Renaissance wollen anders mobilisieren – etwa indem sie auf internen Pluralismus verzichten. Sie sind beide top-down organisiert.
Jetzt ist der Nouveau Front populaire stärkste Kraft geworden. Wird er auch ohne absolute Mehrheit Teile seines umfassenden Programms umsetzen können?
Das ist noch unsicher. Erst nächste Woche wissen wir, wie die Fraktionen im Parlament aussehen werden. Im Moment scheint Macrons Lager weiterhin auf eine Koalition ohne Mélenchons Partei zu setzen, auch wenn diese dann keine Mehrheit hätte. Der Verfassungspraxis nach sollte er aber eigentlich einen Premier aus den Reihen des stärksten Lagers ernennen, also des Front populaire.
Und dann?
Es kommt darauf an, wie gut die Parteien zusammenarbeiten. Das Problem ist: Eine linke Minderheitsregierung wäre auf dieselben Werkzeuge angewiesen wie Macron in den letzten zwei Jahren – auf Verordnungen und den umstrittenen Verfassungsartikel 49.3, der es der Regierung in gewissen Fällen ermöglicht, das Parlament zu umgehen. Die jetzige Krise könnte aber eventuell ein Fenster für eine Verfassungsrevision öffnen.
Mit welchem Ziel?
Eine Möglichkeit wäre ein gerechteres Proporz- oder Mischwahlsystem. Lange Zeit waren die politischen Entscheidungsträger:innen überzeugt, dass das Mehrheitswahlrecht für Stabilität sorgen und eine Machtübernahme des RN verhindern würde. Jetzt hat sich gezeigt, dass das nicht stimmt. Mit einer Proporzlösung wären die Kräfteverhältnisse im Parlament klarer – und damit auch legitimer. Das wäre eine bessere Basis für Koalitionsverhandlungen. Auch eine Schwächung der Stellung des Präsidenten wäre hilfreich, um die Fixierung auf die Präsidentschaftswahlen zu überwinden.
Die Historikerin Zoé Kergomard (35) forscht an der Universität Zürich zur Geschichte der Wahlbeteiligung in der BRD, Frankreich und der Schweiz nach 1945.