Frankreich: Von wegen gesellschafts­liberal

Nr. 37 –

Emmanuel Macron ernennt einen neuen Premier, der sich nur dank der Duldung der Rechtsextremen wird halten können. Und schafft damit Klarheit.

Frankreichs Premierminister Michel Barnier mit Vorgänger Gabriel Attal bei der Amtsübergabe
Macrons Mann: Frankreichs Premierminister Michel Barnier (rechts) mit Vorgänger Gabriel Attal bei der Amtsübergabe am Donnerstag vergangener Woche. Foto: Stéphane De Sakutin, Reuters

Gefühlt liegt die Posse schon Jahre zurück: Éric Ciotti, der Chef der Republikaner:innen (LR), verriegelt die Türen seiner Parteizentrale, um seine Absetzung zu verhindern. Wenn der übrige Vorstand dort nicht zusammenkommen könne, würde dieser Ciotti auch nicht absetzen können, so dessen Kalkül. Der Vorstand traf sich dann woanders. Tatsächlich ereigneten sich diese Vorgänge erst im Juni. Aber seit der Auflösung des Parlaments durch Staatspräsident Emmanuel Macron dreht die politische Welt Frankreichs schnell.

Ciotti hatte vor seiner Absetzung im Alleingang angekündigt, seine rechten Republikaner:innen würden ein Wahlbündnis mit dem noch rechteren Rassemblement National (RN) eingehen. Sein skurriles Ende an der Parteispitze markierte einen neuen Tiefpunkt in der an Tiefpunkten reichen Geschichten der zur Splitterpartei verkommenen Républicains. Bei den diesjährigen Parlamentswahlen erzielten sie noch rund sieben Prozent.

Trotzdem stellt die Partei nun, wie Macron vergangene Woche bekannt machte, mit Michel Barnier den neuen Premierminister – die Posse rund um die Frage nach einem Wahlbündnis mit dem RN erhält vor diesem Hintergrund neues Gewicht. In vielen Fragen stehen sich die Parteien tatsächlich nahe. Folgerichtig ist Barnier nur zum Premier ernannt worden, weil ihn das RN dulden will. Barnier war in der Vergangenheit mit seinem Einsatz für eine repressive Migrationspolitik aufgefallen. Er ist ein Premier von Marine Le Pens Gnaden.

Seiner Ernennung gingen unzählige taktische Spielchen voraus. Zur Erinnerung: Aus der Parlamentswahl Anfang Juli ging der linke Nouveau Front populaire (NFP) als Sieger hervor, er erzielte mit 178 Sitzen jedoch bloss eine relative Mehrheit. Macrons Wahlbündnis Ensemble kam auf 150 Sitze, das RN auf 125. Drei starke Blöcke sind also im Parlament vertreten. Im Wesentlichen muss eine Regierung, die Bestand hat, von zweien gestützt werden. Der Premier wird zwar vom Präsidenten ernannt – das Parlament kann ihn mit einem Mehrheitsentscheid aber wieder absetzen.

Gescheiterter Spaltungsversuch

Die Kandidatin der Linken für das Amt, die Pariser Spitzenbeamtin Lucie Castets, hat Macron nie ernsthaft in Betracht gezogen. Eine NFP-Regierung würde viele seiner Reformen, etwa die der Altersversorgung, rückgängig machen wollen. Denn dafür wurde die Linke ja auch gewählt. Stattdessen übte sich Macron zuletzt wieder einmal im Versuch, diese zu spalten.

In den letzten Wochen kursierte in den Medien der Name des ehemaligen Sozialisten Bernard Cazeneuve als Favorit für das Amt. Cazeneuve war einst schon unter dem allseits unbeliebten Sozialisten François Hollande Premier. Macron empfing ihn zum Gespräch. Dabei habe sich Cazeneuve laut «Le Monde» etwa versöhnlich zur Rentenreform geäussert.

Der Macronismus zeichnet sich nicht nur durch ein kapitalfreundliches Programm aus, sondern auch durch ein zynisches Politikverständnis: Bisweilen wirkt es, als würde sich der Präsident als Spieler verstehen. So ist auch seine Unterstützung für Cazeneuves Kandidatur zu erklären. Dieser ist 2022 aus dem Parti socialiste (PS) ausgetreten, weil er das Bündnis mit der Linkspartei La France Insoumise (LFI) ablehnte. Hätte sich der PS jetzt zu ihm bekannt, wäre der NFP daran zerbrochen.

Prompt löste die Personalie Streitereien innerhalb des PS aus. Dessen Parteisekretär, Olivier Faure, der sich für die Zusammenarbeit mit LFI einsetzt, wurde von manchen prominenten Parteiexponent:innen angegriffen, etwa von der Pariser Bürgermeisterin Anne Hidalgo.

Faure setzte sich schliesslich durch – und der PS sprach sich gegen die Unterstützung von Cazeneuve aus. Mit der absehbaren Folge, dass nun Kommentator:innen der Linken vorwerfen, eine linke Regierung selbst verhindert zu haben – weshalb sie schuld daran sei, dass nun das Gegenteil eingetreten sei.

Das ist Blödsinn und geht bloss Macrons Kalkül auf den Leim, der sich laut der gut informierten Onlinezeitung «Mediapart» ohnehin nie eine Regierung unter Cazeneuve gewünscht hat. Und wieso sollte die Linke auch eine Regierung stützen, die der Erfüllung ihrer Wahlversprechen im Weg stünde?

Die Hüllen fallen

Vielmehr folgt die Ernennung Barniers einer inhaltlichen Logik. Der Soziologe Christian Laval, der sich unter anderem auf die Geschichte des Neoliberalismus spezialisiert hat, spricht in einem Interview hinsichtlich des neuen Premiers von einem «mélange» aus der Xenophobie des RN und einer Wirtschaftspolitik zugunsten der Reichen nach Macron.

Dieses Zusammenspiel schafft klare Verhältnisse. Es verdeutlicht, dass sich der Neoliberalismus gut mit rassistischer Hetze arrangieren kann, sofern diese ökonomischen Interessen dient. Und es offenbart gemäss Laval die «wahre Natur» der RN-Ideologie als «maskierter Neoliberalismus, der eine pro-kapitalistische Politik verfolgt».

So sind in der Not aus den drei scheinbar unvereinbaren Blöcken – zwei geworden: die Linke gegen den Rest. Diese Klarheit birgt vielleicht auch Chancen. Die nächsten Wahlen sind in drei Jahren. Bis dahin wird der NFP Oppositionspolitik betreiben – und sich als einzige echte politische Alternative beweisen können.