Jordanien gegen die Muslimbrüder

Le Monde diplomatique –

Das haschemitische Königshaus in Zeiten des Gazakriegs

eine Frau in einem Geschäft in Amman, 20. September 2024
Amman, 20. September 2024 Foto: NATASCHA TAHABSEM/picture alliance/zuma

Am 23. April 2025 verkündete der jordanische Innenminister Mazen Al-Faraya ein vollständiges Betätigungsverbot für die Muslimbruderschaft im Land. Mitte April waren 16 Personen festgenommen worden, die im Verdacht stehen, Terrorakte auf jordanischem Boden geplant zu haben. Die Polizei gab an, die Verdächtigen seien Mitglieder der Bruderschaft. Diese bestritt jedoch jegliche Beteiligung an der angeblichen Verschwörung.

Mit ihrer Entscheidung folgen die jordanischen Behörden dem Beispiel Saudi-Arabiens, der Vereinigten Arabischen Emirate (VAE) und Ägyptens. Alle drei Länder hatten die Bruderschaft im Gefolge der Aufstände des sogenannten Arabischen Frühlings schon 2014 für illegal erklärt.

In Jordanien hatte der Oberste Gerichtshof bereits 2020 die Auflösung der Organisation angeordnet. Bis heute wurden allerdings nur wenige Schritte unternommen, um das Urteil umzusetzen. Das neue Betätigungsverbot, das verkündet wurde, als König Abdullah II. gerade zu Besuch in Saudi-Arabien war, hat indes schon jetzt weitreichende Konsequenzen: So verhafteten die jordanischen Behörden umgehend führende Kader der Muslimbrüder; Büros wurden durchsucht und Vermögenswerte beschlagnahmt.

Einige Beobachter gehen fest davon aus, dass Amman auf eine Politik der maximalen Repression gegen die Bruderschaft eingeschwenkt ist. Doch der jordanische Fall ist ambivalent. Bislang gilt das Betätigungsverbot nämlich nicht für die Islamische Aktionsfront (IAF), den politischen Arm der jordanischen Muslimbrüder. Wie andere Parteien in der arabischen Welt pflegt sie eine mehr oder weniger enge Beziehung zu der Bewegung. Die langfristigen Auswirkungen der jordanischen Entscheidung werden davon abhängen, ob die Behörden das Verbot eher restriktiv befolgen oder – ganz im Gegenteil – großzügig auslegen.

Die Geschichte der Muslimbruderschaft beginnt 1928 in Ägypten. Gegründet wurde sie von dem Volksschullehrer Hassan al-Banna (1906–1949) zunächst als eine karitative Organisation, die auf die sozialen Probleme innerhalb der ägyptischen Gesellschaft reagierte. Nach und nach entwickelte sie sich zu einer Partei, die den Islam zur ideologischen Grundlage ihres politischen Aktivismus machte.

Insbesondere zwei Faktoren sorgten dafür, dass die Bewegung über Ägypten hinaus Fuß fassen konnte: Erstens das erzwungene Exil ihrer Mitglieder, die vor den Repressionen unter Präsidenten Gamal Abdel Nasser (1954–1970) aus Ägypten geflüchtet waren. Zweitens die zunehmende Politisierung der arabischen Mittelschichten, insbesondere im Hinblick auf die Palästinafrage und den Kampf gegen die Dominanz des Westens. So etablierte sich die Bruderschaft nach und nach auch in anderen Ländern der Region, insbesondere in Palästina, in Syrien, im Irak und im Jemen.

Auch in Jordanien spielte die Palästinafrage für die Etablierung der Bewegung eine zentrale Rolle. Die Muslimbrüder betrachteten den Staat Israel als Fortsetzung des westlichen Imperialismus, den sie seit der Gründung ihrer Bewegung stets verurteilt hatten. Nach der Nakba (Katastrophe) von 1948, also der Vertreibung großer Teile der arabischen Bevölkerung aus Palästina, und der Besetzung des Westjordanlands durch Jordanien 1950 gelang es der Bruderschaft, ihre soziale Basis stetig zu vergrößern.

Nach der Niederlage der arabischen Länder im Sechstagekrieg von 1967 erstarkten in Jordanien verschiedene militante palästinensische Gruppen. Das brachte die haschemitische Monarchie in Bedrängnis. Das Königshaus befürchtete eine Destabilisierung des Landes. Die Bruderschaft wiederum ging auf Distanz zu den linksrevolutionären oder nationalistischen palästinensischen Gruppen – auch um der Repression durch das Königshaus zu entgehen.

Dank ihrer loyalen Haltung gegenüber dem jordanischen Staat konnten die Muslimbrüder ihren Einfluss im Bildungsbereich und innerhalb der Gewerkschaften ausweiten. 1989, bei den ersten freien Parlamentswahlen, wurde die Bruderschaft erstmals politisch aktiv. Zu diesem Zeitpunkt waren politische Parteien in Jordanien noch offiziell verboten, alle Kandidaten traten daher pro forma als Unabhängige an. Doch die Bruderschaft unterstützte ihre teilnehmenden Mitglieder im Wahlkampf, die daraufhin ein Viertel der Sitze gewannen.

Diese Episode markierte einen Bruch in der Beziehung zwischen der Bruderschaft und dem jordanischen Staat. König Hussein (1952–1999) empfand den Wahlerfolg der Bruderschaft als derart bedrohlich, dass er das Wahlgesetz ändern ließ. Deshalb wurden die folgenden Wahlen 1993 von der kurz zuvor gegründeten IAF boykottiert. Die politische Konfrontation zwischen der Bruderschaft und dem Königshaus verschärfte sich, als Hussein 1994 einen Friedensvertrag mit Israel unterzeichnete.

1999 folgte König Abdullah II. seinem Vater auf den Thron. Er versuchte den Einfluss der Bruderschaft einzudämmen und setzte dabei auf zunehmend repressive Maßnahmen. Zudem beförderte er die starken Spannungen innerhalb der Bruderschaft, die 2015 in eine Spaltung mündeten.

Bei den Wahlen 2016 konnte sich die nationalistische Strömung der Bruderschaft durchsetzen. Es kam zur Bildung einer „Reformallianz“ (Tahaluf al-Islah), die sich aus Mitgliedern der IAF, Unabhängigen und Vertretern der nationalistischen Linken zusammensetzte.

Der bisherige IAF-Slogan „Der Islam ist die Lösung“ wurde ersetzt durch die Losung „Renaissance für das Vaterland, Würde für die Bürger“. Die Tahaluf al-Islah gewann 15 von 130 Parlamentssitzen und wurde zur größten oppositionellen Fraktion. Der abgespaltene Zweig der Bruderschaft, der sich gegen diese Annäherung ausgesprochen hatte, erhielt lediglich 3 Sitze.

Der Wahlausgang machte auch deutlich, dass die Bruderschaft in den palästinensischen Flüchtlingslagern stark an Popularität eingebüßt hatte. Gleichzeitig setzten die jordanischen Behörden ihre repressive Politik fort und nutzten etwa die Coronapandemie, um Demonstrationen und politische Versammlungen einzuschränken.

Im Zuge dieser repressiven Dynamik erfolgte im Juli 2020 die offizielle – dann aber nicht umgesetzte – Auflösung der Muslimbruderschaft. Der damalige Gerichtsbeschluss war vor allem ein symbolischer Akt, dennoch wurde die IAF geschwächt und verlor bei den Wahlen vom November 2020 fünf Sitze.

Bei den Parlamentswahlen im September 2024 war dann die Situation in Gaza das dominierende Thema. Seit dem 7. Oktober 2023 hatte die IAF zahlreiche Demonstrationen zur Unterstützung der Palästinenser mitorganisiert und immer wieder die Beziehungen des Königreichs zu Israel kritisiert.

Wie stark sich die Muslimbrüder mit der palästinensischen Sache identifizieren, zeigt sich auch daran, dass eine Mehrheit ihrer Mitglieder Aktionen wie die des Lkw-Fahrers Maher al-Jazi befürworten. Dieser hatte wenige Tage vor der Wahl an der Allenby-Brücke, am Grenzübergang zwischen Jordanien und dem Westjordanland, drei israelische Soldaten getötet, bevor er selbst erschossen wurde. Vor dem Hintergrund des Gazakriegs konnte die IAF so viele Wähler:innen mobilisieren, dass sie am 10. September mit 31 von 138 Sitzen einen historischen Sieg errang.

Das neuerliche – mit angeblichen Anschlagsplänen begründete – Verbot der Bruderschaft zeugt nicht nur vom anhaltenden Misstrauen des Regimes gegenüber der Bewegung. Es macht auch deutlich, dass Abdullah II. gewillt ist, seine regionalpolitische Orientierung an den USA und Israel auch durch eine repressivere Politik gegenüber der Bruderschaft zu bekräftigen.

Wie andere dynastische Regime in der Region, so ist auch Jordanien von seinem Streben nach Stabilität besessen. Und regionale soziale Bewegungen werden zuallererst als mögliche Gefahr für diese wahrgenommen. Seit den Aufständen in der arabischen Welt zu Beginn der 2010er Jahre hat König Abdullah II. nacheinander drei Wahlrechtsreformen (2013, 2016 und 2022) durchgesetzt, die darauf abzielten, die Opposition zu schwächen.

Auch der unerwartete Sturz des Assad-Regimes in Syrien im Dezember 2024, der Kräfte an die Macht gebracht hat, die dem politischen Islam nahestehen, wird in Amman mit Sorge betrachtet; zumal im Königreich fast 1,4 Millionen syrische Geflüchtete leben.

Nach der oben erwähnten Verhaftung von 16 Personen mit angeblichen Verbindungen zur Muslimbruderschaft sprachen die jordanischen Behörden auch von Verbindungen zur Hamas und zur libanesischen Hisbollah. Drei Verdächtige gaben in ihren Geständnissen an, sie hätten sich auf den geplanten Anschlag im Südlibanon vorbereitet, wo auch Hamas-Zellen operieren.

Obwohl die Hamas aus dem palästinensischen Zweig der Muslimbruderschaft hervorgegangen ist, waren ihre Beziehungen zu deren jordanischem Ableger oft schwierig. Als der Hamas-Gründer Ahmed Jassin 1989 in Israel verhaftet wurde, ging das Politbüro ins jordanische Exil. Auf Druck Washingtons und der jordanischen Behörden mussten sie das Land jedoch zehn Jahre später wieder verlassen – zu einer Zeit, in der die jordanische Bruderschaft gerade darum bemüht war, sich politisch zu etablieren. Endgültig auf Distanz zur jordanischen Bruderschaft ging die Hamas, als sich die IAF in eine nationalistische und eine eher propalästinensische Strömung aufspaltete.

Für das jordanische Königshaus ist die Palästinafrage nach wie vor ein Unruhefaktor, der die Stabilität des Landes bedroht. Das Trauma nach dem Schwarzen September 1970 wirkt immer noch nach. Damals kam es nach einem versuchten Attentat auf König Hussein zu gewaltsamen Zusammenstößen zwischen der jordanischen Armee und bewaffneten palästinensischen Gruppen, die schließlich aus dem Königreich vertrieben wurden.

Dass heute erneut propalästinensische Kräfte auftauchen, die im Fall der Mitte April Verhafteten sogar über schwere Waffen verfügt haben sollen, löst im Königshaus größte Besorgnis aus. Hinzu kommt das gewaltsame Vorgehen Israels im Gazastreifen, aber auch im Westjordanland und in den Nachbarländern Libanon und Syrien.

Bisher ist es dem Königreich zwar gelungen, sich aus dem Konflikt herauszuhalten. Aber die Präsenz von Gruppen, die Organisationen nahestehen, deren Vernichtung Israel offiziell betreibt, schürt die Angst, der mächtige Nachbar könnte auch in Jordanien militärisch eingreifen.

Eine weitere Quelle der Besorgnis für Amman ist die Haltung der neuen US-Regierung in der Palästinafrage. In seinem sogenannten Riviera-Plan für Gaza, den Donald Trump im Februar ins Spiel brachte und den Abdullah II. umgehend und kategorisch ablehnte, werden Jordanien und Ägypten zu Aufnahmeländern für Palästinenser erklärt. Trump sprach sogar davon, dass die US-Finanzhilfen für Jordanien von der Annahme des Riviera-Plans abhängig gemacht werden.

Die Unterstützung aus Washington ist für Amman nach wie vor enorm wichtig. Sie beläuft sich auf mindestens 1,45 Milliarden US-Dollar jährlich für Entwicklungsprojekte sowie Budget- und Militärhilfen. Laut dem Finanzdienstleistungskonzern S&P Global würde allein die Schließung der US-Agentur für internationale Entwicklung (USAID), die im März 2025 von der Trump-Regierung ausgesprochen wurde, Auszahlungen an das Königreich in Höhe von rund 300 Millionen US-Dollar gefährden.1

Die Vorgänge rund um die Verhaftungen von Mitte April sind bislang nicht abschließend geklärt. Der Zeitpunkt der jordanischen Entscheidung über ein Betätigungsverbot der Muslimbruderschaft deutet darauf hin, dass das Königshaus versucht, seine regionale strategische Position neu zu justieren.

Die Organisation, auf die die Entscheidung abzielt, ist ohnehin offiziell längst verboten. Und die Partei, die sie vertritt – die IAF – ist davon nicht direkt betroffen. Es könnte also sein, dass der Schritt, wie andere Entscheidungen in der Vergangenheit, vor allem symbolische Bedeutung hat. Jordanien zeigt, dass es bereit ist, sich an die neue repressive Norm in der Region anzupassen.

1 „Jordan Ratings Affirmed At ‚BB-/B‘; Outlook Stable“, S&P Global, 7. März 2025.

Aus dem Französischen von Jakob Farah

Thomas Sarthou ist Journalist.

© Orient XXI; für die deutsche Übersetzung LMd, Berlin