Monstrositäten der schönen neuen Weltordnung

Man scheint sich langsam besorgt darüber zu wundern, dass Schweizer Intellektuelle so wenig zum Krieg auf dem Balkan sagen. Es wäre ja denkbar, dass sie wenig bis gar nichts zu sagen haben, wie alle andern, die möglichst bald nichts mehr von diesem Krieg hören und sehen möchten. Da machte man es sich allerdings zu einfach, auch und gerade in der Schweiz. Eine zeitliche Parallele müsste doch zu denken geben: Die Schweizer Bevölkerung spendete fast zur selben Zeit mit einer offensichtlichen Spontaneität und in einem nie dagewesenen Umfang für die Opfer des Krieges, als (nur wenig später!) der bevölkerungsreichste Kanton der Schweiz den politischen Kreisen zu einem erdrutschartigen Sieg bei kantonalen Wahlen verhalf, die mit daran stricken, seit Jahren und mit immer grösserem Erfolg, dass man in den «Jugos» insgesamt und in den Kosovo-Albanern im Besonderen das nationale Feindbild erhält, diejenigen, die unbedingt vom Land fern gehalten werden müssten. Wir scheinen auch und gerade in der Schweiz etwas zu sagen haben müssen zu dem, was nicht eine «humanitäre Katastrophe» ist, sondern immer mehr zu einer Katastrophe des Humanen wird – in europäischer Nähe und durch nichts mehr aufzuhalten, wie es scheint.

Trotzdem hat mich die Anfrage der WoZ, mich als Intellektueller zu äussern, zu reagieren auf Klaus Theweleits zuerst in «Konkret» und dann in der WoZ in gekürzter Fassung erschienenen Text, auf weitere in der WoZ erschienene Stellungnahmen, auf dem falschen Fuss erwischt. Ich fand einen bestimmten, vor allem deutschen Diskurs langsam unerträglich: Ob Joschka Fischer, Cohn Bendit, Scharping und Bellizisten-Konsorten zum Beispiel Mühe hatten und immer noch haben mit dem Erwachsenwerden, interessierte mich nicht so brennend, selbst wenn ein Theweleit oder ein Amendt es mir zu erklären versuchten. Günter Amendt weiss zwar in der WoZ vom 6. Mai, dass «psychologisierende Erklärungsversuche einen nur geringen politischen Erkenntnisgewinn versprechen», fügt dann aber an: «Andererseits – was bleibt einem anderes übrig, als an der Oberfläche des medialen Erscheinungsbildes zu kratzen, wenn man verstehen will, wie dieser Entscheidungsprozess, der in den Irrsinn eines Angriffskrieges unter deutscher Beteiligung führte, abgelaufen ist.» Ist, so fragte ich mich, die deutsche Beteiligung denn wirklich so zentral, verfallen die Kritiker eines Joschka Fischer nicht in eine vergleichbare eminent deutsche Aufgeregtheit, die der deutsche Aussenminister bei jeder Gelegenheit, etwa in der Bundestagsdebatte während des ziemlich unappetitlichen Zusammenschisses von Gysi selbstdarstellerisch vorführt? Ich war in den letzten beiden Aprilwochen in Frankreich und habe, nahezu süchtig, alles gelesen und zur Kenntnis genommen, was die Medien, «Le Monde» vor allem, «Libération», Hintergründe in «France culture», boten. Ich stellte fest, dass in Frankreich die permanente Rückkoppelung auf die eigene Geschichte eigentlich nicht stattfindet, und konnte mir doch bloss die folgende Hilflosigkeit notieren: «Ich merke, dass ich mit der offenbar in den Medien Frankreichs (wenigstens in denen, die ich zur Kenntnis nehme) sich immer mehr durchsetzenden Meinung, dass dieser Krieg nur noch durchgezogen werden kann, bis die Schlächter nicht mehr können, immer mehr übereinstimme. Dass es ausgerechnet wieder mal die Amis sind, die das allenfalls zu einem Ende bringen können, und dass die damit wieder einmal mehr ihre strategischen Weltziele durchgesetzt haben werden, ist und bleibt zwar grauenhaft, kann aber so lange schlicht nicht zählen, als noch die leiseste Aussicht besteht, dass das Massaker in Kosova aufhört – und dass die Schlächter gerichtet werden. Alles andere kommt mir leider immer mehr vor als ideologisch verbrämter Zynismus von Intellektuellen fernab, ja ausser Hörweite von jedem Geschütz. Vielleicht ist es nötig, diese grenzenlose Ohnmacht wenigstens auszusprechen, und wäre es bloss, um nicht im Nachhinein noch behaupten zu können, man habe es schliesslich immer gewusst und eh Recht gehabt.»
In der Zwischenzeit besteht offenbar keine «leiseste Aussicht» mehr. Muss man nun doch Hermann L. Gremliza zustimmen, der sein Editorial im neusten «Konkret» mit «Nie wieder Frieden!» titelt? Muss man doch wieder das zentral Deutsche an dieser Aussichtslosigkeit zur Kenntnis nehmen? Gremliza schreibt: «Derweil die nationale Linke dem Balkan-Hitler ihr ‘No pasaran!’ mit Bomben einzutrichtern begann, begann die deutsche Rechte zu murren.» Etwas Ähnliches scheint sich derzeit auch in Grossbritannien anzubahnen. Gremliza sagt bitter, man habe meinen können, man habe «aus Konkret abgeschrieben», aber «es klang nur so». In Wirklichkeit ist es so, stellt Gremliza abschliessend fest: «Eine Weltmacht, die es mit der grösseren aufnehmen will, muss so souverän sein wie diese, ihre Geschäfte auch mit den Pinochets dieser Welt zu treiben … und einen Feind auch dann mit Krieg zu überziehen, wenn nicht einmal ihrem Regierungspoeten Enzensberger auf ihn ein Reim mit Hitler gelingt. Deutschland muss Krieg führen können ohne die Rechtfertigung, dass er der antifaschistischen Sache dient [wie der Aussenminister Fischer mit seinem ‘Nie wieder Auschwitz’ nicht müde wird zu betonen]. Das Recht, überhaupt einen Krieg zu führen, das ihm, ausgerechnet, Fischer und Co. errangen, war ein notwendiger halber Schritt. Die nächste Regierung kann den ganzen tun.» Da kann man als Nicht-Deutscher nur hoffen, die radikale deutsche Kritik an Deutschland bekomme nie Recht.


Am 5. Mai veröffentlichte die französische Zeitung «Libération» einen Text des serbischen Essayisten Stanko Cerovic unter dem Titel «Qui est Milosevic?» In einem scharfsinnigen Psychogramm weist der Autor nach, wie Milosevic und seine Frau in einer Art «folie à deux» an den Punkt einer generellen Rache gelangen, die nur als reine Macht zu haben ist. Er schliesst seinen Essay mit der Feststellung ab (ich übersetze aus dem Französischen): «Normale Menschen haben die grösste Mühe, solche Persönlichkeiten überhaupt zu identifizieren, weil sie sich nicht vorstellen können, dass man ohne Grund seine Kräfte zu dem einen Zweck einsetzen kann, um das Böse zu tun und seinen Frieden im Leiden des anderen zu finden.» Paul Parin hat in einer grossen Analyse des serbischen Faschismus lange vor dem Ausbruch des jetzigen Krieges die zentrale Frage gestellt: Wem nützt der Faschismus? Er nützt dem Führer und seiner Kumpanei, aber nicht nur. Als Ersatz für die totale wirtschaftliche, politische und zivile Frustration, in die ein Regime wie dasjenige von Milosevic eine ganze Bevölkerung während mehr als zehn Jahren hineingeführt hat, bietet es eine ebenso totale Enthemmung der Aggression, die mithilfe von beliebigen aus der Geschichte zusammengeklauten Ersatzmythen auf immer neue ethnisch bezeichnete Feinde abgerichtet werden kann. Dieser Wahnsinn begann in Kosova und endet dort. Der slowenische Philosoph Slavoj Zizek ortet in einer in «New Left Review» erschienenen Analyse, warum die «schöne neue Weltordnung» à la USA so etwas nicht nur von ferne betrachtet, sondern die entstehenden Monstrositäten vielmehr mit produziert. Zizek stellt die Frage (ich übersetze aus dem Englischen): «Was ist, wenn man die doppelte Erpressung zurückweisen will, wenn du gegen die Nato-Schläge bist, bist du für Milosevics protofaschistisches Regime der ethnischen Säuberung, und wenn du gegen Milosevic bist, unterstützst du die globale kapitalistische neue Weltordnung?»
Und weiter: «Was ist, wenn Phänomene wie das Milosevic-Regime nicht das Gegenteil der neuen Weltordnung, sondern vielmehr ein Symptom von ihr sind, der Ort, wo die verdeckte Wahrheit ebendieser auftaucht?» Und Zizek fragt, ob es nicht schon seit mehr als zehn Jahren hätte klar gesehen werden können, wie die einzig übrig gebliebene Weltmacht mit solchen Systemen umgeht, bis sie es für nötig findet, sie schliesslich mit «sauberen» Kriegen zu überziehen, vielleicht auch diesmal ohne den lange zugelassenen Bösewicht abzusetzen und vor ein Gericht zu bringen. Es ist diese Sicht, die auch einen Noam Chomsky (siehe WoZ Nr. 15/99) strikt Machtanalytisch bleiben lässt und alles an der einen Frage misst, ob die hippokratische Maxime «Richte keinen Schaden an» in den Handlungen der Mächte nicht über Bord geht. Es ist wahrscheinlich nur diese liberal-anarchistische Position, die nicht aus den Augen verliert, was ein Zizek am Ende seines Textes folgendermassen formuliert: Anstelle aller Doppel-Erpressungen müsse «die einzige ernsthafte Frage heute fokussiert werden: Wie sind übernationale politische Bewegungen und Institutionen als stark genug aufzubauen, um ernsthaft die unlimitierte Regel des Kapitals zurückzubinden und das Faktum sichtbar und politisch relevant zu machen, dass lokaler fundamentalistischer scheinbarer Widerstand gegen die neue Weltordnung, von Milosevic über Le Pen bis zur extremen Rechten überall in Europa, Teil eben dieser neuen Weltordnung sind.»

Und in der Schweiz? Ich würde meinen, die von Zizek am Schluss aufgedeckten Zusammenhänge liessen sich auch in diesem stillen und überall ein wenig abseits stehenden Land durchaus verorten und es gebe nur den einen Punkt, wo Demokratie hierzulande in dieser Welt des endenden Jahrhunderts sich bewähren kann: Die Wahrheit, unsere, bewährt sich nur da, wo wir die zu uns Flüchtenden nicht auch noch zu unsern Feindbildern machen. Es gibt eine schweizerische Bundespräsidentin, die mit einem Flugzeug ein Zeichen setzte, und es gibt eine Bevölkerung, die das Hippokratische im Sinne von Chomsky spontan verstanden hatte, dass wenigstens den Opfern geholfen werden kann. Ich habe kürzlich in einem Aufruf für die BODS (für eine offene demokratische Schweiz) geschrieben: «Vielleicht gibt es eine ruhige Mehrheit in diesem Land, die im so häufig und von falscher Seite herbei beschworenen Ernstfall mit Taten zu reden beginnt. Ich meine, ich hoffe, das sei nach wie vor die wirkliche Mehrheit in diesem Land, vielleicht sogar die Mehrheit im so genannten Stimmvolk fast aller Parteien. Wenn solche Hoffnung nicht bestünde, könnten einen die ewigen Neinsager und Angstmacher das Fürchten lehren, das Fürchten um dieses Land und das Fürchten vor diesem Land.»

Manfred Züfle ist Philosoph und Schriftsteller in Zürich. Von 1991 bis 1995 war er Präsident der SchriftstellerInnen-Organisation «Gruppe Olten».