Nach dem Massaker von Gracko

Das Massaker an vierzehn serbischen Bauern in Gracko wird – völlig unabhängig vom Ergebnis seiner Untersuchung durch die Nato-geführten Kosovo-Truppen (Kfor) und das Uno-Kriegsverbrechertribunal – den Exodus der serbischen Bevölkerung aus dem Kosovo beschleunigen. Seit Ende des Nato-Luftkrieges und dem Abzug der serbischen Armee- und Polizeikräfte Mitte Juni haben nach Einschätzung des Uno-Hochkommissariats für Flüchtlinge bereits rund 140 000 der ehemals 200 000 Kosovo-SerbInnen die Provinz Richtung Norden verlassen. In den ersten Wochen überwiegend aus Furcht vor möglichen Racheakten von albanischer Seite, in jüngster Zeit wegen tatsächlicher gewalttätiger Übergriffe.

Serbisches HausIn den nächsten Wochen, davon ist auszugehen, werden noch viele der verbliebenen SerbInnen ihre Heimat verlassen. Damit ist die Nato mit einem erklärten politischen Ziel ihres Luftkrieges, nämlich die multiethnische Zusammensetzung der Kosovo-Bevölkerung zu bewahren beziehungsweise wiederherzustellen, zunächst einmal gescheitert. Dass ein nennenswerter Anteil der Geflohenen wieder in den Kosovo zurückkehrt, ist derzeit nicht mehr als ein frommer Wunsch.

Auf Grund der Konfliktvorgeschichte seit 1989 und insbesonders seit Beginn der bewaffneten Auseinandersetzungen im Kosovo im Frühjahr 1998 hätten die Kfor-Truppen und ihre politischen Weisungsgeber in Washington, London, Paris, Bonn und anderen Hauptstädten mit einer derartigen Entwicklung rechnen müssen. Zumal sie ähnliche Erfahrungen schon in Bosnien-Herzegowina machen mussten: Nach dem Dayton-Abkommen vom Dezember 1995, das zumindest ein Nebeneinander von muslimischer, kroatischer und serbischer Bevölkerung garantieren sollte, waren über 50 000 SerbInnen aus Sarajewo geflohen.

Serbische FluechtlingeWarum dann konnten – oder wollten? – die Nato-Staaten den Exodus der Kosovo-Serben nicht verhindern? An mangelnder militärischer Stärke kann es nicht liegen. Von den insgesamt vorgesehenen 58 000 Soldaten der Kfor waren bereits bis Mitte Juli rund 40 000 mit umfangreicher Bewaffnung und Ausrüstung in ihre jeweilige Besatzungszone eingerückt. Ohne einen einzigen schweren Unfall, ohne auch nur einen Toten beklagen zu müssen, waren sie alle (abgesehen von einigen russischen Kontingenten, die aus Bosnien anreisten und Serbien durchfuhren) über Albanien und Mazedonien in die südserbische Provinz gekommen. Aus Albanien und Mazedonien werden sie auch versorgt. Bis zum September sollen auch die restlichen 18 000 Kfor-Soldaten – wieder abgesehen von einigen russischen Verbänden – ausnahmslos auf diesem Weg in den Kosovo gelangen. Das jugoslawische Territorium ausserhalb des Kosovo wurde von der Kfor nicht berührt. Das ist auch künftig nicht vorgesehen.

Bedenkt man die diplomatisch-politische Vorgeschichte der Kfor, ist dies eine erstaunliche Leistung. Sie wartet immer noch auf eine Erklärung durch die fünf westlichen Staaten in der Balkan-Kontaktgruppe (USA, Grossbritannien, Frankreich, Italien und Deutschland). Denn in ihrem Vertragsentwurf für die Februar-Verhandlungen von Rambouillet, der die Stationierung einer internationalen Truppe von lediglich 28 000 Soldaten zur Durchsetzung einer Autonomie für den Kosovo im staatlichen Rahmen Serbiens vorsah, hatten diese fünf Staaten noch ein ganz anderes Szenario festgelegt. Im «militärischen Annex B» des Entwurfes war für die An- und Abreise der internationalen Truppen sowie für ihre Versorgung mit Material, Waffen, Lebensmitteln usw. die zeitlich, rechtlich und politisch uneingeschränkte Nutzung des gesamten Territoriums, Luftraums und der Hoheitsgewässer Jugoslawiens vorgesehen. In der seinerzeitigen Debatte um den Annex B beharrte insbesonders der deutsche Aussenminister Joschka Fischer stur darauf, diese Regelungen seien «international üblich» und vor allem aus «operativen und logistischen Gründen unverzichtbar». Denn bei den «überaus schwierigen Geländebedingungen» könnten die 28 000 Soldaten nicht über Albanien und Mazedonien in den Kosovo einrücken. Warum es nach dem elfwöchigen Luftkrieg der Nato und unter zusätzlich erschwerten Geländebedingungen (viele der Zugangsstrassen in den Kosovo wurden von der jugoslawisch-serbischen Armee vermint, zahlreiche Brücken gesprengt) auf einmal möglich war, die doppelte Anzahl von Kfor-Soldaten über Albanien und Mazedonien in den Kosovo zu schicken, bleibt bislang das Geheimnis der westlichen Allianz.

So zügig auch die Kfor-Truppen auf vormals für unmöglich erklärtem Wege den Kosovo besetzten, sie versagten trotzdem beim Schutz der serbischen Bevölkerung und der Roma vor albanischen Racheakten. Der inzwischen üblich gewordene Verweis, der Schutz der Bevölkerung sei Aufgabe einer der Uno-Zivilverwaltung unterstellten internationalen Polizei, ist eine bereits aus dem Bosnien-Kontext hinlänglich bekannte unredliche Ablenkung von den Realitäten. Die internationale Polizei kann diese Aufgabe nicht erfüllen, weil sie bislang und auf absehbare Zeit nicht in einer auch nur annähernd handlungsfähigen Grössenordnung im Kosovo präsent ist. Ähnlich wie im Fall Bosnien sahen sich die Staaten, die innerhalb weniger Wochen mit Milliardenaufwand 40 000 Soldaten nebst Waffen, Gerät und unfangreicher militärischer Logistik im Kosovo stationieren konnten, angeblich nicht in der Lage, mehr als 3100 Polizisten abzustellen. Das ist zur Erfüllung der anstehenden Aufgaben viel zu wenig. Zudem wurden bis jetzt gerade erst 120 Polizisten tatsächlich in den Kosovo entsandt, ihre zugesagte Mannschaftsstärke wird die internationale Polizei frühestens im November haben.

Ähnlich schleppend verläuft die Entsendung von Richtern, Verwaltungsbeamten, Menschenrechtsbeobachtern usw. aus den Nato-Staaten. Sie werden dringend gebraucht, damit die Uno eine funktionierende Verwaltung (Unomik) aufbauen und die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) die ihr zugedachte Rolle – Vorbereitung von Wahlen, Menschenrechtsbeobachtung, Aufbau demokratischer Institutionen – erfüllen kann.
Von der Stationierung der internationalen Polizeitruppe macht die kosovo-albanische Befreiungsarmee (UCK) ihrerseits die vollständige Abgabe ihrer Waffen abhängig. Denn laut einer Vereinbarung mit der Kfor dürfen ehemalige UCK-Kämpfer erst nach einer Ausbildung durch die internationalen Polizisten in lokale Polizeiverbände eintreten. Vereinbarungsgemäss hätte die UCK bis zum 22. Juli ihre schwere Waffen vollständig abgeben müssen, was nicht geschehen ist: Am Dienstag hoben deutsche Soldaten ein Versteck aus, in dem die UCK mehrere Tonnen schwerer Waffen, darunter Granatwerfer und Panzerfäuste, gelagert hatte. Man habe «vergessen», das Depot anzuzeigen, erklärte ein UCK-Mann den Deutschen. Ob das am Klima liegt?
Je länger UCK-Kämpfer bewaffnet bleiben und je länger sich ihre Integration in zivile Polizeiverbände verzögert, desto grösser ist die Gefahr weiterer Massaker wie dem von Gracko.