Kosovo/Bosnien: Was ist aus den Protektoraten geworden?: Von Befreiern zu Besatzern

Bosnien und Kosovo stehen seit Jahren unter internationaler Vormundschaft. Doch während Bosnien allmählich zu einem geeinten Staat wird, gleicht Kosovo nach wie vor einem Pulverfass.

Die Kriege der neunziger Jahre im zerfallenden Jugoslawien haben zwei Protektorate hinterlassen: Bosnien-Herzegowina und Kosovo. So verschieden deren Hintergrund und deren Geschichte sind, so verschieden präsentiert sich heute die Situation in den beiden Gebieten. Zuerst zum Kosovo. Gemäss der Resolution 1244 des Uno-Sicherheitsrats steht der Kosovo unter der provisorischen Verwaltung der Vereinten Nationen und verfügt über eine «substanzielle Autonomie innerhalb der Bundesrepublik Jugoslawien». Jugoslawien wurde am vergangenen 4. Februar durch die Union Serbien-Montenegro abgelöst, die die internationalen Verpflichtungen ihrer Vorgängerin geerbt hat. Im Kosovo hat die Mission der Vereinten Nationen im Kosovo (Unmik) die Verpflichtungen und Kompetenzen übernommen, die früher der jugoslawische Staat innehatte. Um das Ziel einer «substanziellen Autonomie und Selbstverwaltung» zu erreichen, wurden im November 2000 und im Oktober 2002 Lokalwahlen abgehalten. Im November 2001 wurde ein Parlament gewählt, das nach langem Hin und Her eine Regierung und mit Ibrahim Rugova einen Präsidenten ernannte, der hauptsächlich repräsentative Funktionen ausübt.
Trotz diesen Wahlen hat der Sonderbeauftragte des Uno-Generalsekretärs, der die Unmik leitet, nach wie vor die Macht, Gesetze ausser Kraft zu setzen. Er kontrolliert ausserdem einen sehr weiten «reservierten Bereich», der die Sicherheit, die Verteidigung und die Diplomatie umfasst. Der gegenwärtige Chef der Unmik, der Deutsche Michael Steiner, versucht zurzeit, die Kompetenzen der Unmik auf die gewählten, provisorischen politischen Institutionen zu übertragen. Für diejenigen AlbanerInnen, die die Zeit der internationalen Vormundschaft lediglich als Phase vor der ersehnten Unabhängigkeit des Kosovo verstehen, geht dieser Kompetenztransfer weder weit genug, noch wird er schnell genug umgesetzt. Von serbischer Seite hingegen wurde ein Sperrfeuer gegen das Projekt eröffnet. Sie versteht diesen Transfer als inakzeptables «Schlittern in die Unabhängigkeit des Kosovo», wie sich der serbische Abgeordnete Gojko Savic ausdrückte.

Ziel nicht erreicht

Ziel des Nato-Krieges gegen Jugoslawien im Frühling 1999 war, die Streitkräfte des Belgrader Regimes dazu zu zwingen, den Kosovo zu verlassen. Sehr schnell drängte sich ein weiteres Ziel auf: den multiethnischen Charakter des Kosovo wiederherzustellen. Von diesem Gesichtspunkt her war die internationale Intervention kontraproduktiv. Während des Krieges 1999 flohen rund eine Million AlbanerInnen ins vorläufige Exil; nach dem Ende der Bombardements wurden SerbInnen und andere nichtalbanische Bevölkerungsgruppen des Kosovo – insbesondere Roma – Opfer ethnischer Säuberungen. AlbanerInnen, die in ihre Dörfer zurückkehrten, plünderten Behausungen von SerbInnen und Roma und vertrieben die BewohnerInnen, oft sogar unter den Augen von Kfor-Soldaten, die eigentlich den Frieden hätten sichern sollen. Das Resultat: Mehr als 200 000 SerbInnen und Roma mussten nach Serbien oder Montenegro flüchten, während diejenigen, die im Kosovo blieben, bis heute in abgeschlossenen Enklaven leben, die von der Kfor geschützt werden müssen. Der Norden des Kosovo ist zu einer ausschliesslich serbisch besiedelten Zone geworden (das war vor dem Krieg nicht der Fall gewesen), während im Rest des Kosovo sich die serbische Präsenz auf wenige und oft isolierte Enklaven reduziert.
Die Belgrader Behörden und die serbischen PolitikerInnen im Kosovo haben in letzter Zeit auf Kooperation mit der Uno-Verwaltung gesetzt. Während die SerbInnen die Lokalwahlen 2000 noch boykottiert hatten, nahmen sie an den Parlamentswahlen im Jahr 2001 teil. Die zwanzig serbischen Abgeordneten, die ins Parlament gewählt wurden, fühlen sich heute betrogen. Eine echte Zusammenarbeit mit der Unmik kommt für sie nur infrage, wenn die Rückkehr der Vertriebenen ernsthaft beginnt. Doch trotz aller Bemühungen und Ankündigungen der Uno-Verwaltung und des Uno-Hochkommissariats für Flüchtlinge sind bis jetzt nur sehr wenige zurückgekehrt. Schlimmer noch, die wenigen offiziell erfolgreichen Rückführungen haben lediglich zur Bildung neuer Enklaven geführt. So sind gegen hundert SerbInnen in ihr Dorf Osojan im Nordwesten des Kosovo zurückgekehrt. Mit internationaler Hilfe konnten sie ihre zerstörten Häuser wieder aufbauen. Auch eine Schule und ein kleines Gesundheitszentrum wurden errichtet. Doch auch dieses Dorf ist von Stacheldraht umzäunt und wird von spanischen Kfor-Soldaten bewacht. Die SerbInnen können ihr Dorf nur mit einer militärischen Eskorte verlassen.

«Besetzter» Kosovo

Die Radikalität des albanischen Nationalismus wurde zweifellos unterschätzt. Alle albanischen politischen Gruppierungen des Kosovo haben sich dem Ziel der Unabhängigkeit verschrieben und wollen nach wie vor nichts von einem Dialog mit der serbischen Minderheit wissen. Bei den Kosovo-AlbanerInnen macht sich Frustration breit. Mehr und mehr Stimmen werden laut, die von einer Besetzung des Kosovo sprechen und behaupten, diese Besetzung habe zum Ziel, die Unabhängigkeit zu verhindern. Die ehemaligen Führer der «Befreiungsarmee» UCK haben eine effiziente Geheimpolizei aufrechterhalten und verfügen mit dem Kosovo-Schutzkorps (TMK) über einen mächtigen Transmissionsriemen ihres Einflusses. Die Bildung des Schutzkorps wurde von der Nato unterstützt und hatte offiziell die «soziale Wiedereingliederung» der ehemaligen Rebellen zum Ziel. Die beiden politischen Parteien, die aus den Rebellen hervorgegangen sind, die Demokratische Partei des Kosovo (PDK) von Hashim Thaci und die Allianz für die Zukunft des Kosovo (AAK) von Ramush Haradinaj sind frustriert, dass es ihnen nicht gelungen ist, die vergleichsweise gemässigte Demokratische Liga des Kosovo (LDK) von Ibrahim Rugova zu entmachten. Unter diesen Umständen ist es nicht auszuschliessen, dass ehemalige UCK-Kämpfer wieder zu den Waffen greifen. Da die Unabhängigkeit im Moment in weite Ferne gerückt scheint und es unmöglich ist, sich mit den rund 40 000 im Kosovo stationierten Nato-Soldaten anzulegen, könnten an den «Rändern» des Kosovo Konflikte geschürt werden: in den albanisch besiedelten Gebieten Mazedoniens, in Südserbien und eventuell sogar in Montenegro.
Die internationale Gemeinschaft hat sich in ihren eigenen Fallstricken verheddert. Nachdem sie während der Herrschaft von Slobodan Milosevic den albanischen Separatismus im Kosovo angestachelt hat, betrachtet sie heute denselben Separatismus als Faktor der Destabilisierung auf dem gesamten Balkan. Unter diesen Umständen finden die serbischen Argumente, dass die Resolution 1244 strikt respektiert werden müsse, mehr und mehr Echo. Belgrad ist es bereits gelungen, die Forderung durchzusetzen, dass es keine definitive Regelung der Statusfrage ohne Einverständnis Belgrads geben darf. Das birgt allerdings das Risiko, dass die Frustrationen, die sich im Kosovo anhäufen, in einen neuen antiwestlichen Radikalismus münden.

Ein trauriges Vorbild

Der Kompetenztransfer, den der oberste Verwalter Steiner anstrebt, könnte eine Alternative zu dieser Gefahr sein. Man könnte sich allerdings wie der albanische Journalist Alma Lama fragen, ob es sich dabei nicht vielmehr um einen «Transfer der Inkompetenzen» handelt. Die internationale Verwaltung hätte eigentlich ein Beispiel für gute Regierungsführung in der ganzen Region sein sollen. Die Bilanz, vier Jahre nach dem Nato-Krieg, ist alles andere als überzeugend. Trotz einem extrem raschen, zum Teil von der albanischen Diaspora finanzierten Wiederaufbau liegt die Wirtschaft des Kosovo darnieder, und die öffentlichen Dienste sind verwaist. Die Bevölkerung lebt auch heute noch mit täglichen Stromausfällen. Ein Verantwortlicher für Energiefragen der Uno-Verwaltung wurde letzten Dezember in Deutschland verhaftet. Er wird der Korruption und der massiven Unterschlagung von Geldern beschuldigt. Das internationale Personal, das oft kurze Missionen von nur wenigen Monaten im Kosovo absolviert, hat oft nicht die nötigen Kompetenzen. Die Unmik lud sich ausserdem die Aufgabe auf, einen Staat aus dem Nichts heraus aufzubauen. Der erste oberste Verwalter, der Franzose Bernard Kouchner, spielte dabei eine entscheidende Rolle. Er traf die Wahl, vollständig mit der jugoslawischen Vergangenheit zu brechen, was gar nicht notwendig war.

Reintegration statt radikaler Bruch

Bosnien-Herzegowina ist heute in einer ganz anderen Situation. Obwohl die Vollmachten des Hohen Repräsentanten der Internationalen Gemeinschaft mit denjenigen des obersten Verwalters des Kosovo vergleichbar sind, ist Bosnien trotzdem ein – formell – souveräner Staat. Der in zwei Entitäten geteilte Staat, die Bosniakisch-Kroatische Föderation und die Serbische Republik, hat eine eigene Verwaltung und Kaderleute, die eine ununterbrochene politische Kultur und Praxis aufweisen. Während Bernard Kouchner für den Kosovo den radikalen Bruch wählte, ging die internationale Gemeinschaft in Bosnien pragmatischer vor und gab sich damit zufrieden, nur die politisch Verantwortlichen zu entfernen, die ganz direkt in Verbrechen während des Krieges verwickelt waren. Eine solche Lösung setzt eher auf die Fähigkeit des Landes, sich selbst zu verwalten und sich nach und nach von der internationalen Vormundschaft zu befreien. Die Gräben, die sich während des Krieges in der bosnischen Gesellschaft aufgetan hatten, sollten überwunden werden.
Die Bildung der extrem komplizierten politischen Institutionen in Bosnien war eine Folge des Krieges. Doch mit den institutionellen Reformen des Hohen Repräsentanten Paddy Ashdown im Frühling 2002 hat sich das Bild geändert: den beiden Entitäten wurde eine gemeinsame bosnische Staatsbürgerschaft aufgezwungen. Auch die nationalistischen Parteien, die die Wahl im Herbst 2002 gewonnen haben, können diese Veränderungen nicht mehr rückgängig machen. Dass die Nationalisten nach wie vor stark sind, dazu haben nach Ansicht des Ökonomen Zarko Papic auch die internationalen Interventionen beigetragen. Der Hohe Repräsentant, der jeden Moment Gesetze rückgängig machen oder PolitikerInnen absetzen kann, fördere eine Haltung der politischen Unverantwortlichkeit. So gibt es in Bosnien immer mehr Stimmen, die die Wiederherstellung der vollen Souveränität verlangen, was die politisch Verantwortlichen dazu zwingen würde, für die Konsequenzen ihrer Handlungen und Entscheide auch geradezustehen.
In Bosnien sind noch 12 000 Soldaten der Stabilisation Force (Sfor) der Nato stationiert, und die EU wird im Laufe des Jahres die Verantwortung über diese militärische Mission übernehmen. Niemand geht davon aus, dass die internationalen Truppen bereits in naher Zukunft abgezogen werden. Man erwartet aber auch nicht, dass der Krieg wieder aufflammt. Das Land steht vor ganz anderen Herausforderungen: dem Wiederaufbau der Wirtschaft, der Überwindung der inneren Grenzen und der Bildung eines gemeinsamen politischen Raumes. Trotz zahlreichen Fehlschlägen hat die internationale Gemeinschaft seit 1995 immer klaren Kurs auf die Einheit Bosniens gehalten.
Ganz anders im Kosovo: Dort laviert die Mission der Vereinten Nationen zwischen zwei unvereinbaren politischen Forderungen: einerseits der von der albanischen Seite gewünschten Unabhängigkeit und andererseits der Wiederherstellung der serbo-jugoslawischen Autorität. So ist der Kosovo zu politischer Stagnation verurteilt, während seine Wirtschaft zerfällt und mafiöse Gruppierungen gedeihen. In den vier Jahren unter internationaler Vormundschaft ist kein wirklicher politischer Fortschritt erreicht worden. Kosovo gleicht im Jahr 2003 ebenso einem Pulverfass wie 1999.