Nachrufe von Felix Schneider, Susan Boos und Manfred Züfle: Der Schlüssel zum Ganzen

Theorie musste für ihn Teil der Lebenswirklichkeit sein. Lothar Baier liebte die praktischen Dinge. Dazu gehörte die Freundschaft.

Lothar Baier, 1995 in der Zürcher Roten Fabrik: Nichts verabscheute er mehr als Ignoranz, absichtliches oder fahrlässiges Nichtverstehen, sei es aus Faulheit oder aus bösem Willen. Foto: Silvia Luckner

Lothar Baier interessierte sich für Erfahrungen. Er war Schriftsteller, weil sich sein Denken auf einer menschlichen Ebene bewegte, die die Mitte hielt zwischen Theorie und Erlebnis. Wenn ein Handwerker sein Metier verstand und darüber informieren konnte, wenn ein Lehrer von seinen Schülern anschaulich zu berichten wusste, dann wurde Lothar ein ganz wacher Zuhörer, merkte sich das Erzählte, sprach später wieder davon, hielt es in Notizen fest. Die Geschichten, die er in Gesellschaft zum Bes­ten gab, waren oft kleine Biografien oder Anekdoten. Er las gerne Briefwechsel. Ihn beschäftigte nicht die Geschichte «an sich», sondern wie sie von Leuten gemacht, erlebt und erlitten wurde. Im Detail konnte er mit unüberbietbarem Talent den Schlüssel zum Ganzen sehen.

Und die Details standen ihm in überreicher Fülle zur Verfügung. Er konnte sie mit der Gabe des blitzschnellen Querdenkens aus dem Fundus seines Gedächtnisses abrufen, über Zeiten und Fachgrenzen hinweg. Wir, die verblüfften Zuhörer, begriffen oft erst Tage später, wie er zu seinen Assoziationen und Gedankensprüngen gekommen war. Sprachliche Details waren ihm erst recht keine Kleinigkeiten, über sprachliche Schlamperei konnte er sich masslos erregen. Dieser Spürsinn fürs konkrete, aussagekräftige Detail gab seinen Texten die Anschaulichkeit. Er war ein sehr genauer und unerbittlicher Beobachter. Nach einem Abend in Gesellschaft konnte er am nächsten Morgen anrufen, um mitzuteilen, dieser oder jener Mensch habe einen «Blockwartblick» und überhaupt, wer seine Zigarette so halte – ob ich das gesehen hätte? –, der lüge auch.

Derartige Übertreibungen hatten bei ihm Methode. Lothar war ein Meister im Zurechtrücken von Proportionen und Umkehren von Grössenverhältnissen. Er verstand es, die Grossen und Mächtigen klein zu machen, die Kleinen und Ohnmächtigen gross. Obwohl er auch in der Theorie sehr belesen war, verstand er sich weder als Philosoph noch als Gesellschaftswissenschaftler. Er betrachtete Theorien als Teil der Lebenswirklichkeit, befragte sie nüchtern nach ihrer Erklärungskraft für die konkreten Phänomene und stellte sie auf den Prüfstand des Menschlichen. Er bemühte sich, «eine Sprache zu finden, die stets nahe am Subjekt bleibt, ohne sich dabei um die Dimension distanzierter Reflexion zu bringen». Den Begriffen eine subjektive Dimension hinzuzufügen, sie also ein Stück weit dem gesellschaftlichen Diktat zu entziehen, war entscheidend für den Kritiker Lothar Baier. Was als Sinn, als Erfolg oder Misserfolg im Leben und in der Geschichte zu werten sei, das wollte er nicht nur objektiv, durch Wissenschaft, entschieden wissen. Dabei sollte das Subjekt mitreden und mitempfinden. Er wollte sehr genau wissen, ob ein feinsinniger Theoretiker auch Einfühlungsvermögen entwickeln konnte für Freunde, die in Not waren, und das untersuchte er auch und gerade bei seinen Leitsternen, etwa bei Adorno, bei dem ihm diesbezüglich in letzter Zeit Zweifel gekommen waren. Er selbst war hilfsbereit – manchmal nur zu sehr. Und die Erfahrung der Krankheit, mit der er geschlagen war, der Depression, verstärkte noch seine Empfindsamkeit für das Unglück anderer.

Obwohl er selten von sich sprach, beobachtete er sich selbst sehr genau, verwandelte seine Erlebnisse in Erfahrung, sorgte dafür, schon aus Neugier, dass er was erlebte. Er hockte zwar oft in seiner Stube, war aber kein Stubenhocker. Er beteiligte sich praktisch an der Ökobewegung, baute in Südfrankreich ein Haus um, wagte mit fast sechzig ein neues Leben in Kanada, ging in Montreal, kaum aus einer Vollnarkose erwacht, noch am selben Tag an eine Demonstration. Er konnte Wände bauen, Decken verputzen, Wasserleitungen ziehen. Als die Computer aufkamen, wurde er zum Computertüftler. Sein handwerklicher Sinn fürs Praktische leitete ihn auch beim Schreiben. Er verzichtete auf komplizierte Anmerkungsapparate und unnötige Schwierigkeiten: So einfach wie möglich, aber nicht einfacher! Er war auf den Gebrauchswert des Geschriebenen fürs Denken und Argumentieren aus, fasste zusammen, pointierte.

Bescheidenheit und hohe Ansprüche

Was ihn kennzeichnete, war eine ganz besondere Form von Bescheidenheit, aus der indessen auch grosse Ansprüche erwuchsen. In seiner Lebensführung und seinem Konsumverhalten war er anspruchslos, musste es auch sein, um seine Unabhängigkeit bewahren zu können, aber was er brauchte und kaufte, musste praktisch, schön und gut sein. Über eine Sonnenbrille, die aufgrund ihres Labels teuer war, aber schon nach kurzem Gebrauch auseinander fiel, konnte er sich aufregen wie über ein Verbrechen. Das war Bluff, Anmassung, falscher Schein – und das hasste er mit gutem Grund und weit über den konkreten Anlass hinaus als Symptom. Eitelkeit war ihm vollkommen fremd, sie hätte ihn an der Wahrnehmung der Welt gehindert.

Nicht über sich wollte er reden, sondern über die Sache. Sein Denken war wie sein Körper: zart, aber zäh. In seinen Essays und Artikeln scheint nur die Sache selbst zu sprechen. Aber diese Bescheidenheit, dieses Zurücktretenkönnen, kam aus dem Bescheidwissen. In jede Materie, über die er schreiben wollte, arbeitete er sich mit ungeheurer Energie ein. «Dahinterkommen» war nicht zufällig ein Lieblingswort von ihm. Gegen das, was alle Welt denkt, gegen den Commonsense, gegen die Fassade aus feststehenden Begriffen und Daten führte er nicht irgendwelche abweichenden Meinungen ins Feld, sondern trat in die spezifische Erfahrung der Sache selbst ein, eignete sie sich so lange an, bis er ihre Widersprüche, ihre innere Struktur erkennen konnte. Wenn er dann aber einmal Bescheid wusste, dann konnte er hartnäckig werden, ja aufsässig. Gegen Bluff und Phrasen wurde er deutlich, indem er einfach bohrend nach dem Wirklichkeitsgehalt des Gesagten fragte.

Wenn einer, wie Kollege Joachim Güntner von der «Neuen Zürcher Zeitung», frohgemut die Behauptung verkündete, «der Kapitalismus» zersetze ganz von selbst «den Rechtsradikalismus», so fragte Lothar in der WOZ beharrlich nach, wie das denn gehen solle und was der Autor unter Rechtsradikalismus denn bitte verstehe. Ohne dass ein polemisches Wort gefallen wäre, stand der Autor am Ende der Befragung sehr nackt da, und sein Artikel erwies sich als das, was man aus dem Märchen kennt: des Kaisers neue Kleider. Lothar mochte es nicht, wenn jemand sich nicht auskannte. Schlimmer fand er, wenn ein Ahnungsloser den Eindruck zu erwecken versuchte, er sei ein Kenner. Am schlimmsten aber, wenn jemand nicht nur nichts wusste, sondern auch noch nichts lernen wollte. Da konnte er ausfällig werden. Die kritische Methode, ideologische Etiketten durch Entfaltung der Sache selbst zu sprengen, wandte Lothar unerschrocken auch auf die geistige Tradition an, der er sich verpflichtet fühlte, derjenigen der Aufklärung und der Revolte von 1968. Adornos Devise «Bangemachen gilt nicht» war auch die seine.

Die Freiheit zurückgewinnen

Wenn man Lothar zum Abendessen einlud, war man gut beraten, ihm bis zuletzt die Freiheit zu lassen, zu kommen oder auch nicht. Er kam ja dann meistens doch, wenn er nicht gerade zu tief verstrickt war in Lektüre oder Schreiben. Dafür konnte man ihm auch, auch ohne peinliche Entschuldigungsfloskeln, im letzten Moment absagen. Er hat das nicht als Bruch der Freundschaft empfunden. In letzter Zeit hielten ihn die Depression und traumatische menschliche Erfahrungen gefangen. Sein Geist war davon okkupiert, er konnte sich kaum noch mit anderem beschäftigen, die Welt und die Menschen kamen nicht mehr an ihn heran. Ein Bild konnte er für seinen Zustand noch finden: Er fühle sich wie in Plexiglas eingegossen. Vielleicht müssen wir seinen Suizid als Versuch verstehen lernen, noch einmal, ein letztes Mal, seine Freiheit zurückzugewinnen.

Felix Schneider ist Redaktor bei Radio DRS 2 und wohnt in Frankfurt am Main.

In einer andern Welt

Schreiben war für ihn kein Beruf. Schreiben war eine Notwendigkeit. Der Faden zur Welt, die ihn sonst ausgesperrt hätte. Lothar Baier wusste viel, schwindelerregend viel. Alles interessierte ihn. Selbst über krudeste Themen wie Strommarktliberalisierung oder Folsäure im Mehl konnte er begeistert debattieren. Und er war ein hellhöriger Gesprächspartner. Einer, der aus einer anderen Zeit zu kommen schien. Denn schon in den neunziger Jahren war es langsam verpönt, sich über die Welt zu äussern, wie er es tat. Es galt als langweilig, ideologisch, altmodisch. Ich war ihm dankbar, dass er schrieb, was sich heute kaum mehr einer zu schreiben getraut. «Der Begriff Toleranz ist ein Herrschaftsbegriff, der sich der Übertragung auf Verhältnisse demokratischer Gleichberechtigung sperrt», schrieb er zum Beispiel in «Die verleugnete Utopie» (1993), in der es um die Multikulti- und Antirassismusdebatte ging: «Der andere, den die Toleranz ins Auge fasst, ist nicht nur ein blosses Ding, ein Objekt des Blicks von oben, er ist von vorneherein als Delinquent gedacht.» Sein scharfsinniger Zorn über die Mächtigen ist ihm nie abhanden gekommen – dafür habe ich ihn geachtet und geliebt.

Susan Boos

Susan Boos ist WOZ-Redaktorin.

In Kants Republik

Ich erinnere mich: Vor vielen Jahren eine Lesung im Untergeschoss der Buchhandlung Pinkus. Lothar Baier las aus seinem eben erschienenen Buch «Die grosse Ketzerei». Mich beeindruckte die zurückhaltende Präzision des vorgetragenen Textes – und mich beeindruckte der Mensch, der vortrug, zurückhaltend, präzis, freundlich, kompetent.

Ich habe Lothar Baier nachher während Jahren nie mehr persönlich getroffen. Ich las seine Texte, immer mit grösstem Gewinn, immer mit Genuss, auch wenn ich anderer Meinung war als der Autor. Lothar Baier war einer, der so schrieb, dass man während der Lektüre mit ihm diskutieren konnte, ohne sich mit ihm «unterhalten» zu müssen. Seine Sätze waren ebenso scharf und genau formuliert wie offen für den Leser. In seiner ganzen literarischen Produktion, auch in der Polemik, realisierte sich für mich Aufklärung im nobelsten Sinn. Immanuel Kant nannte das «Republik», Republik derjenigen, die «zu wissen wagen». Jean-Paul Sartre stellte sich der «libération» in geschichtlichen «situations», wo es öffentlich um immer wieder gefährdete «liberté» ging. Ein nie idealisiertes Frankreich war immer intellektueller Ort für Lothar Baier.

Als mir WOZ-Redaktor Patrik Landolt sagte, die WOZ habe Lothar Baier in die Redaktion einbeziehen können, fand ich das sensationell. Die von ihm redigierte Gesellschaftsseite war sensationell – und ist leider vor ihm verschwunden.

Lothar Baiers Kontakt mit den Autoren war von ganz besonderer Art und Qualität. Ich habe fast nur mit ihm erlebt, wie zurückhaltende Herzlichkeit im Arbeitskontakt von feinen menschlichen Details lebt. Eine Mail, die schon ­­­am gleichen Tag pertinente Antwort erhält. Behutsamste Korrekturen, stets dem Autor vor der Drucklegung vorgeschlagen, die nicht oberlehrerhaft «verbesserten», sondern auf das Bessere im Eigenen hinwiesen. Lothar Baier machte einem Vorschläge für Arbeiten, die mir immer gelegen kamen, weil er seine Autoren, ihre Interessen und Fähigkeiten, genau «gewittert» hatte; und er war immer offen für Vorschläge seiner Autoren. Als Gilles Kepels grosses Werk über den «Dschihad» in Frankreich erschienen und noch längst nicht ins Deutsche übersetzt war, zögerte er keinen Augenblick, mir dafür eine Seite zur Verfügung zu stellen.

Wir mailten, wir telefonierten miteinander, wir kamen uns so nahe, dass es selbstverständlich wurde, auch persönliche Tiefschläge der Mitteilung für würdig zu halten, obwohl wir bei einem sehr freundschaftlichen «Sie» blieben. Wir tranken einen Rosé miteinander unten in der Beiz. Wir nahmen uns vor, das bei Gelegenheit, hüben oder drüben, unbedingt zu wiederholen.

Manfred Züfle

Manfred Züfle ist Schriftsteller in Zürich und war Mitarbeiter der Seite «Ge­sellschaft», die Lothar Baier in der WOZ betreute.