Wissenschaftssprache: Dialogreflexivtranszen­­dental­pragmatisch

Deutschsprachige Sozial- und GeisteswissenschaftlerInnen schreiben schlecht, und wenn sie gut schreiben, entschuldigen sie sich dafür. Weshalb?

Wer einen Text schreibt, soll sich verständlich ausdrücken. Diese Forderung leuchtet sofort ein. Wozu sich äussern, wenn nicht Verständigung angestrebt wird? Höchstens Kinder sind hier nicht um eine schnelle Antwort verlegen. Die verschlägt es zufällig nach Taka-Tuka-Land, und flugs werden obergeheime Botschaften als Flaschenpost auf die Reise geschickt; Botschaften, die weder je anzukommen, noch je entziffert zu werden brauchen. Das allerdings ist in der Welt der Verständigung wohl die Ausnahme.

Oder nicht? Manchmal beschleicht einen in der wissenschaftlichen Welt der Verdacht, es sei die Regel. Da stösst man immer wieder auf schier Unentschlüsselbares aus Taka-Tuka-Wissenschaftsland, auf merkwürdige Mehrfachkodierungen, auf undurchsichtigen, unadressierten Text aus der Flasche, offensichtlich nicht zur Verständigung unter vernunftbegabten Wesen verschickt.

Ich mache die Probe aufs Exempel. Ich schliesse die Augen und ziehe irgendein Buch aus dem Regal. Der Titel des ersten Aufsatzes «Dialogreflexive Sinnkritik als Kernstück der Transzendentalpragmatik» klingt eindrücklich, weil rätselhaft. Vielleicht will der Autor ja dazu auffordern, den Text als des Rätsels Lösung aufzufassen und zu lesen? Oder will hier einer schon von allem Anfang an gehörig Eindruck schinden? War­um wird man den Eindruck nicht los, zum Kreis der Auserwählten nicht dazuzugehören? Wer will hier wem was genau zu verstehen geben?

Das Sprechen der Häuptlinge

Ein Anfangsverdacht: Vor allem in der deutschsprachigen Sozial- und Geis­tes­wissenschaft frönt man seit eh und je einer etwas wichtigtuerischen Tradition. Man pflegt die Geheimsprache als stammeskulturelles Ritual, um gegen aussen, aber auch gegen die Konkurrenz der «exakten» Wissenschaften ExpertInnenschaft zu signalisieren. Wer nicht in die Gepflogenheiten des Sprachgebrauchs eingeweiht ist, kann weder verstehen noch mitreden. Durch mühevolles Einüben wird der entsprechende Sprachgebrauch von Generation zu Generation weitervererbt, und die mächtigen Häuptlinge geben dabei den Ton an. Man folgt Moden, ohne genau zu wissen warum. Vielleicht könnte man auch anders, aber man will nicht. Es gibt – so der Anfangsverdacht – für die Verwendung der Geheimsprache keine tiefer liegenden Gründe.

Befreiend unakademisch

Wer als Professor für Philosophie, wie das Peter Bieri vor wenigen Jahren getan hat, über ein schwieriges Thema wie die Willensfreiheit ein nicht ganz einfaches, aber grandios einfach lesbares Buch schreibt («Das Handwerk der Freiheit», München 2001), der muss sich dafür erklären, der muss vorneweg Geständnis ablegen: Ja, ich habe das so «unakademisch» gewollt, und: «Die befreiende Erfahrung war: Es geht!» Der Bruch mit der sprachlichen Tradition der eigenen Disziplin ist Bieri eine befreiende Erfahrung. Die fachsprachlichen Rituale waren ihm ein zu enges Korsett. Dass die Befreiung auch gelingen würde, war ihm offenbar nicht selbstverständlich. Für die Wissenschaft ist der tradierte Sprachgestus so alltäglich und selbstverständlich, dass er für unausweichlich gehalten wird.

Das Geständnis, ein gut lesbares Buch geschrieben zu haben, scheint typisch für die deutschsprachige Wissenschaftstradition. Niemand würde sich im englischen Sprachraum für etwas so Selbstverständliches speziell erklären wollen. Lesbare Texte zu schreiben, wird an englischen und US-amerikanischen Universitäten von der Pike auf trainiert. Undurchsichtigkeit ist verpönt und wird bestraft. Die wissenschaftliche Schulung setzt dort vor allem auf die Fähigkeit, in kurzer Zeit und ohne umfangreichen Einbezug der Fachliteratur verständliche Texte zu formulieren. Solide, entsprechend einfache Argumentationen sind gefragt. Auch Koryphäen scheuen sich nicht, populärwissenschaftliche Bücher und Artikel zu schreiben. Es gibt dort keine Berührungsangst mit dem Leichtverständlichen.

Sicher hat es auch sein Gutes, dass man an deutschsprachigen Universitäten nicht Texte nach Schema schreiben lernt. Musteraufsätze zu imitieren, ani­miert ja auch kaum zu wissenschaftlichem Erkenntniseifer. Andererseits ga­rantiert das grosszügige Zeitangebot an deutschsprachigen Universitäten allein den intellektuellen Höhenflug auch nicht unbedingt. Man geht hier immer noch zu sehr von der elitären Vorstellung aus, dass guter sprachlicher Ausdruck ausschliesslich mit Begabung und nicht mit gelerntem Handwerk zu tun hat.

Höhenflug hin oder her, Wissenschaft ist mehr denn je ein öffentliches Geschäft. Sich eine Scheibe von der ­englisch-amerikanischen Verständlichkeitstradition abzuschneiden, würde
der takatukianisch-deutschsprachigen Geis­­teswissenschaft nicht schaden.

Wer wissenschaftlich schreibt, schreibt nicht Flaschenpost an ein auserwähltes Publikum, das in der Sache schon vollends Bescheid weiss, bevor es mit der Lektüre beginnt. Viele wissenschaftliche Texte der letzten fünf Jahre lassen jedoch hoffen, dass es genau in diese Richtung geht: poppiger, schneller, unakademischer.

Gnadenlose LeserInnen

Ein Plädoyer für Leichtverständlichkeit wie dieses läuft allerdings Gefahr, einigen recht weit verbreiteten Missverständnissen im Zusammenhang mit Verständlichkeit Vorschub zu leisten.
 Erstens: Weder die viel gescholtenen Fremd- noch die Fachwörter machen die Texte schwer verständlich. Jede Wissenschaft ist angewiesen auf bezeichnungsgenaue Terminologie. Nicht die Fachterminologie bewirkt Schwerverständlichkeit, Vokabeln muss man in jeder Sprache kennen. Sondern die Ballung von Abstraktem nach dem Muster: «Diskurse erheben Anspruch auf Universalität.» Eingefleischte stolpern hier nicht. Wenn man sich aber die Frage gefallen lässt, welche Wirklichkeit dieser Satz schildert, kommt man leicht ins Grübeln. In wissenschaftlichen Kontexten passt sich die Sprachwirklichkeit häufig einem Forschungsbewusstsein an, das keine Rücksicht darauf nimmt, dass lesend möglicherweise zu vage bleibt, was jetzt «Diskurse» sein sollen, und dass die irgendeinen «Anspruch erheben» sollen, wo sie doch abstrakt und unbelebt sind.

 Zweitens: Zur Frage, wie man gut verständliche wissenschaftliche Texte schreiben soll, hat sich in den vergangenen zehn Jahren ein richtiger kleiner Berg von Ratgebern angesammelt. Die allermeisten dieser Ratgeber sind von Leuten geschrieben, die sich über die wissenschaftsspezifischen Sprachschwierigkeiten wenig Gedanken machen. Dafür begnügen sie sich damit, nicht weiter begründete Tipps zu geben. Einer der oft wiederholten Ratschläge lautet: Kurze Sätze sind besser verständlich als lange. Vielleicht hat das ja was. Nur: Angenommen, ein durchschnittlicher WOZ-Satz zählte über den Daumen etwa zwanzig Wörter und ein durchschnittlicher «Schweizer Illustrierte»-Satz, sagen wir, zehn: Sagt uns das jetzt, dass es die WOZ-LeserInnen schwerer haben mit dem Verständnis als die SI-Leser­Innen? (Und wenn sich nun herausstellen sollte, dass die SI-LeserInnen mit ­ihren zehn Wörtern pro Satz mehr ­Mühe bekunden, hiesse das dann irgend­etwas über die Verständlichkeit von kurzen Sätzen?)

≥ Drittens: Etwas ganz anderes. Man weiss, dass wissenschaftliche LeserInnen gnadenlos selektiv lesen. Sie lesen mit Hilfe von Registern, Inhaltsverzeichnissen und Zusammenfassungen, sie lesen gezielt. Das heisst für eine ­mühelose Verständlichkeit des Textes: Die kurze Zeit, die dem Text gegönnt ist, muss optimal gefüllt sein mit überraschungsträchtiger Textverdichtung.

Die meisten wissenschaftlichen Texte geraten so umständlich, weil die Validierung von Erkenntnissen eine umfangreiche Argumentation erfordert. Wenn man dazu übergehen könnte, als AdressatInnen für wissenschaftliche Erkenntisse gar nicht so sehr den auserwählten Kreis des Fachpublikums vor Augen zu haben, sondern von allem Anfang an Hinz und Kunz, dann müsste das alles einem völlig veränderten Sprachgebrauch gehorchen. Einem Sprachgebrauch, der dem Alltagsverstand gehorcht und dem Alltagsverstand einleuchtet.

Sollte es einen tieferen Grund für die Existenz einer geheimsprachlichen Geis­teswissenschaft geben, so liegt er in der traditionsreichen Abschottung universitärer ExpertInnenschaft. In der Sprachkultur spiegelt sich ein wissenschaftliches Selbstverständnis, das nicht nur eine deutliche Trennung zwischen intra und extra muros – verborgen und öffentlich – haben will, sondern die Durchlässigkeit der Mauer, das personelle Rein und Raus weitgehend verhindert.

Felix Steiner ist Linguist und schreibt an der Uni Zürich an einer Dissertation zur Wissenschaftssprache.