Palästina: Da bleibt nur noch Drüberklettern

Die Mauer, die das israelische Militär in den palästinensischen Gebieten bauen lässt, dehnt sich mit hohem Tempo aus. In den Vororten Jerusalems zeigen sich die Folgen.

Noch lässt sich die Mauer in Jerusalem überqueren. An einigen Stellen ist der Stacheldraht von den etwa 2,5 Meter hohen und einen halben Meter breiten Betonelementen heruntergerissen und liegt lose am Boden. Herbeigeschaffte Steinbrocken vereinfachen die Kletterei. An einem Ort haben PalästinenserInnen einen Strick in der Mauer verankert, daran können sich die Leute hochziehen, und dank dem Strick müssen sie auch nicht herunterspringen. Vom nächsten israelischen Wachposten, der nur etwa fünfzig steile Meter weiter oben liegt, lässt sich alles gut überblicken. Manchmal intervenieren die Soldaten gegen die Mauerkletterer, meistens lassen sie es bleiben. So können fast alle die Betonwand ungehindert überqueren. Schwieriger ist es für einen Blinden mit seinem Stock und für eine Frau in einem langen Rock mit viel Gepäck. Doch beide schaffen es. Anders ein Gehbehinderter: Nach zwei Anläufen muss er aufgeben.

Hier, in den palästinensischen Aussenbezirken von Jerusalem, verläuft die Mauer mitten auf der Strasse. Sie zerteilt sie längs, und genauso zerteilt sie die mit Jerusalem zusammengewachsenen Dörfer al-Aisarija und Abu Dis. Wer auf die aussen gelegene Seite will, hat die Wahl: Entweder nimmt man das Sammeltaxi bis zur Mauer und hofft auf freie Bahn, oder man macht einen gut halbstündigen Umweg und passiert einen Checkpoint. In die andere Richtung ist die Wahl weniger frei. Wählen kann nur, wer einen Jerusalem-Personalausweis besitzt. Wer bloss einen Westbank-Ausweis hat, kommt ohne Sonderbewilligung nicht legal nach Jerusalem. Da bleibt nur noch Klettern. Die palästinensische Al-Kuds-Universität liegt direkt an der Mauer, und zwar aussen. Für die StudentInnen aus Jerusalem stellt sich die Frage der richtigen Routenwahl täglich. Ein Geschäftsmann hilft sich anders. Er bestellt einen Kurier zur Mauer, verständigt sich mit ihm per Mobiltelefon und mit Rufen auf einen Ort und gibt dann Dokumente durch eine der Lücken zwischen den einzelnen Betonelementen weiter.

Noch ist die Mauer, die Jerusalem von der Westbank trennen wird, nichts als eine weitere Schikane, die nur die Schwächsten gänzlich blockiert. Doch die PalästinenserInnen vermuten, wohl zu Recht, dass die Mauer bald jener bei der weiter nördlich gelegenen Stadt Kalkilja gleicht. Bis zu acht Meter hoch steht sie dort, lückenlos, mit angeschlossenen Wachtürmen. Und noch steht sie in Jerusalem erst in Abu Dis und al-Aisarija, die anschliessenden Abschnitte sind erst im Bau. Bei Betlehem und Ramallah aber wird sichtbar, wie die «Enveloppe», die Umhüllung Jerusalems, verläuft und wozu sie dient. Bei diesen beiden Nachbarstädten Jerusalems ist der Bau eines Grenzstreifens weit fortgeschritten. «Lebensgefahr» steht auf diesem vierfachen Zaun, dessen innere Gitter elektrisch gesichert sind. «Wer den Zaun berührt oder überwindet, riskiert sein Leben.» Auf einer Strasse zwischen den Zäunen können israelische SoldatInnen Patrouille fahren, feste Posten kontrollieren weite Abschnitte des Streifens. Durchlässe gibt es nicht, nur die seit langem bestehenden Checkpoints der Armee sind – mit dem richtigen Ausweis – weiterhin passierbar.

Dieser Zaun umschliesst nicht Jerusalem und die die Stadt umgebenden illegalen jüdischen Siedlungen. Nein, er wendet sich gegen Ramallah und gegen Betlehem. Sicher, auch bei der «Enveloppe» geht es um Landraub: Palästinensische Dörfer sind von grossen Teilen ihrer Felder abgeschnitten. Nicht bloss ein einzelner Bauer kann ein paar Olivenbäume nicht mehr erreichen, sondern ganze Dörfer verlieren ihr bebaubares Land. Und auch bei Jerusalem gibt es zwei Dörfer, die zwischen Mauer und Jerusalem eingeklemmt sind, deren BewohnerInnen die «falschen» Ausweise besitzen und nicht mehr vor und zurück können. Sicher, bei der «Enveloppe» geht es auch, wie überall, wo die Mauer schon gebaut ist, um Wasserraub: Einzelne Dörfer der Westbank werden von ihren Brunnen abgeschnitten. Und sicher, es geht auch um die Anbindung der Siedlungen ans israelische Kernland. All diese beabsichtigten Folgen der «Sicherheitsmauer» sind mittlerweile von Menschenrechts- und Umweltschutzgruppen sowie der Uno-Agentur für humanitäre Angelegenheiten gut dokumentiert (www.btselem.org, www.stopthewall.org, www.pengon.org und www.ochaopt.org). Doch für Ramallah und Betlehem bedeutet der Zaun noch mehr: Er schnürt die beiden Städte ein. Zusammen mit den Siedlungen und den für Autos mit palästinensischem Nummernschild verbotenen Siedlerstrassen würgt er die Städte ab. Wer von Betlehem in ein Dorf im Westen gelangen will, nimmt ein Sammeltaxi bis zur Siedlerstrasse Nummer 60, überquert diese zu Fuss und nimmt dann ein weiteres Sammeltaxi. Ramallah und Betlehem sind von ihrem Umland abgeschnitten. Sie werden ersticken. Sie haben keine Möglichkeit mehr, sich auszudehnen und zu entwickeln. Es ist beinahe egal, wo man sich in diesen Städten bewegt – man sieht den Zaun oder jüdische Siedlungen oder eine Siedlerstrasse.

Zurück zur Provinz

So wird das städtische Leben Palästinas zerstört. Die Städte verlieren ihren Sinn als materielle und geistige Markt- und Umschlagplätze. Erwerbsmöglichkeiten gehen verloren, und der kulturelle Freiraum, die Luft, die eine Stadt jungen und unkonventionellen Menschen bieten kann, zerfällt. Die palästinensische Metropole Ramallah, die in der zweiten Hälfte der neunziger Jahre boomte und Kulturschaffende und Lebenslustige anzog, hat nunmehr wieder den zweifelhaften Charme einer arabischen Provinzstadt. Doch nicht genug: Ramallah und Betlehem drohen ähnlich zu ersticken wie Kalkilja. Kalkilja ist bis auf einen einzigen Checkpoint und vier Tore, die nach Belieben der israelischen Armee geöffnet und geschlossen werden, von Mauer und Zaun eingeschlossen. Von den rund 40 000 EinwohnerInnen Kalkiljas sind laut Angaben des palästinensischen Umweltschutznetzwerks Pengon mittlerweile drei Viertel von Lebensmittelhilfe abhängig. Die Arbeitslosenquote liegt bei 67 Prozent. Bereits sind 4000 Menschen aus der Stadt weggezogen.

Da weder die israelische Regierung noch das Militär Pläne der Mauer veröffentlicht haben, mussten die MitarbeiterInnen von Pengon ihren mutmasslichen Verlauf in Erhebungen der angedrohten und bereits vollzogenen Enteignungen vor Ort ermitteln. Wird sie tatsächlich und vollständig so gebaut, wie Pengon das dokumentiert, so wird die Westbank «gasa-isiert», dem Gasastreifen angeglichen. Dank der Mauer können die israelischen Rechtsaussenpolitiker inner- und ausserhalb der Regierung auf den «Transfer», wie die von ihnen angestrebte massenhafte Vertreibung von PalästinenserInnen aus der Westbank beschönigend umschrieben wird, verzichten. Stattdessen pfercht man die PalästinenserInnen in Eingeborenenreservate ein, die weitgehend abgeschnitten sind von der modernen Welt, von den sie umgebenden Schnellstrassen mit Tunnels und Brücken, den Wasserleitungen und den Städten und Siedlungen westlichen Stils. Durchgefüttert werden die Eingeborenen dann von der «internationalen Gemeinschaft»: von den Hilfswerken und den Uno-Agenturen.

In Betlehem gilt, als einziger vollzogener Schritt der Roadmap, seit Juli wieder die Regelung der palästinensisch-israelischen Oslo-Abkommen. Das heisst, dass sich die israelischen Truppen umgruppiert haben und die Palästinensischen Autonomiebehörden erneut die gestaffelte Souveränität in A-, B- und C-Gebieten übernommen haben. Die Polizisten der Autonomiebehörden verfügen nun wieder autonom über den Stadtkern von Betlehem, gelb-schwarze Betonblöcke an den Strassen zeigen das Ende ihres Hoheitsgebietes an. In den Aussenbezirken, den C-Gebieten, haben die israelischen Truppen vertragskonform die volle Kontrolle. Die Autonomiebehörden von Jassir Arafat regieren und kontrollieren also immerhin ein Stadtzentrum und den entlegenen Gasastreifen. Ausserdem sind sie zurzeit in der Lage, die Gehälter zu bezahlen und beispielsweise Schulen und Kliniken am Laufen zu halten. Politisch bleiben sie machtlos. Doch diese Fiktion einer Autonomiebehörde ist dennoch weitgehend mit sich selber beschäftigt, mit der Ernennung und Auswechslung von Ministern, die zwar ein Portefeuille, aber kaum Kompetenzen besitzen. Und so hat sie es bisher nicht einmal ansatzweise geschafft, eine wirksame Kampagne gegen die Mauer zu organisieren, die ein lebensfähiges Palästina in einigen Monaten schon gänzlich zur Utopie machen wird.