Durch den Monat mit Sarah Elena Müller (Teil 1): Hatten Sie nie literarische Rachefantasien?

Nr. 9 –

Sarah Elena Müller findet in ihrem Roman «Bild ohne Mädchen» eine literarische Sprache für pädopornografischen Missbrauch. Und sagt, wieso eine vermittelnde Haltung nicht relativieren muss.

Portraitfoto von Sarah Elena Müller
«Ich konnte mir in meinem Roman ein bisschen Sadismus nicht verkneifen»:
Sarah Elena Müller.



WOZ: Sarah Elena Müller, wie schreibt man sich in den Kopf eines Kindes hinein?

Sarah Elena Müller: Am Anfang stand die Frage: Wessen Realität ist real genug, damit sie zählt? Mir war es wichtig, mit den Bedürfnissen des Kindes mitgehen zu können. Da brauchte ich eine Sprache, die keine Unterscheidung macht zwischen den «minderwertigen» Kinderideen und einer «erwachsenen» Tatsachensprache. Das hat im Übrigen auch etwas Rauschhaftes, zu behaupten: Alles ist gleichwertig. Alles darf Sprache werden.

Im Zentrum Ihres Romans «Bild ohne Mädchen» steht ein junges Mädchen ohne Namen, das wir beim Aufwachsen begleiten: «das Kind». Was ist das für ein Kind?

Es ist eine Art Prototypkind, zumindest am Anfang. Ein Kind, das sich nicht unbedingt abgleicht mit seiner Aussenwelt. Vielleicht hat es das bereits den Erwachsenen abgeschaut, denen es ausgesetzt ist: diese Abschottung und Wehrhaftigkeit. Es imitiert die Erwachsenenwelt, kopiert deren Logiken – aber mit den Mitteln seines magischen Denkens.

Wie sieht diese Erwachsenenwelt aus?

Sie ist stark vom Rückzug geprägt. Die Handlung spielt in einem Bergdorf in den neunziger Jahren, ein mehr oder weniger linkes Milieu, Altachtundsechziger. Die Eltern – sie ist Künstlerin, er Diversitätsbiologe – kümmern sich vor allem um ihre Angelegenheiten. Das Kind ist isoliert, im Bergdorf, in dieser Familie. Weil es im eigenen Zuhause nicht fernsehen darf, verbringt es viel Zeit im Nachbarhaus bei einem zurückgezogenen Medientheoretiker, der es zu filmen beginnt.

Es ist der Anfang einer stillen Grenzüberschreitung. Hat Sie das Versagen der Erwachsenen wütend gemacht?

Die Wut kann ich nicht leugnen. Ich versuchte, mit ihr wie mit den Gefühlen meiner Figuren umzugehen: sie ernst zu nehmen und gleichzeitig von weiter weg zu betrachten. Über die Jahre habe ich einiges an Wut aus dem Text herausgestrichen und aufgelöst. Ich habe gemerkt, dass die Geschichte durch einen empörten Gestus an Stärke verloren hätte. Vielleicht ist das auch einfach meine Art, schreibend über Dinge nachzudenken. Ich brauche den emotionalen Zugang, allerdings will ich darin auch nicht verhaftet sein. Und ich habe mich gefragt: Was sage ich eigentlich, wenn ich etwas sage? Was schreibe ich so fest, so sehr, dass es sich nie wieder bewegen kann?

Da landet man in der Literaturschweiz fast unweigerlich bei Mariella Mehr. In ihrem Text «Daskind» beschliessen die misshandelten Kinder ja kurzerhand, sich an den Erwachsenen mit Gewalt zu rächen.

Ich habe den Text erst vor zwei Jahren gelesen. Ich habe mich immer um Mariella Mehr gedrückt, aus Furcht oder Ehrfurcht vielleicht vor dieser sprachlichen Vehemenz, ihrer krassen Biografie. Es war eine späte Begegnung. Ihre Form der Auflehnung gegen die Autorität der Sprache hat mich tief beeindruckt. Sprache hat immer auch eine normierende Funktion, und Mariella Mehr musste, da bin ich mir sicher, mindestens mit 150 Prozent gegen all das angehen, mit jedem Satz, den sie geschrieben hat.

Haben Sie im eigenen Schreibprozess nie literarische Rachefantasien gehegt?

Es gab recht früh im Manuskript eine Dämonin, die wäre dafür vorgesehen gewesen und hätte eine eher abstrakte Rachefantasie am Täter ausgelebt. Sie sah aus wie eine Domina, aber mit Dachskopf, in Lederstiefeln und mit einer Peitsche. Und im Rücken eine Heerschar geflügelter Penisse – ich musste das schliesslich befremdet zur Seite legen.

Aber ein bisschen Schadenfreude ist spürbar im Roman geblieben.

Es gibt diesen leichten Sadismus, den ich mir nicht verkneifen konnte. Etwa in der Szene, wo die drei Männer, Vater, Täter und dessen Sohn, völlig unfähig zur Kommunikation am Fluss herumstehen. Drei Männlichkeitsvorstellungen verhaken sich, und das ist dann schlicht so resultatlos, wie es nur sein kann. Ein stummes Ringen darum, der beste Mann zu sein auf dem Terrain der Wichtigkeit. Ich mag die Szene. Ein Minisadismus vielleicht, der auch über den revolutionären Achtundsechzigermann lachen kann: Der produziert vor sich hin. Er interessiert sich nicht für reproduktive Konzepte oder den eigenen Haushalt, die Fürsorge, die gerecht aufgeteilt werden könnte. Das ist tragisch, aber auch komisch.

So richtig ausgeliefert wird aber niemand. Ihr Buch hat einen vermittelnden Ansatz, was viel biederer klingt, als es sich liest. Das ideologische Denken scheitert darin kolossal.

Die einzige These, die man dem Buch wohl entlocken kann: Es braucht Verhandlung. Ohne werden die Menschen zu seltsamen, radikalen Planeten ohne Austausch. Die ideologischen Strukturen durchziehen die Geschichte, keine kann die absolute Deutungsmacht an sich reissen. Ich wollte das Buch mit dieser radikalen Hilflosigkeit enden lassen. Alle fordern auf ihre Weise ihre Rechte ein, und am Schluss blicken sie in die Ecke. Diesen Schmerz wollte ich nicht relativieren.

Die Autorin Sarah Elena Müller (32) lebt in Bern in einer Hochhaussiedlung. Wenn zur Dämmerung die Krähen ins Quartier fliegen, schreit der Nachbar pünktlich vom Balkon aus gegen die Vögel an. «Bild ohne Mädchen» ist Müllers erster Roman und soeben im Limmat-Verlag erschienen.