Visions du Réel: Proben für den Ernstfall

Nr. 18 –

Ohne Meister:innen, aber mit eigener Handschrift: Das Festival des Dokumentarfilms in Nyon zeigt die Politik des Landschaftskinos – und die Poesie des virtuellen Raums.

Filmstill aus dem Film «Landshaft»: altes Auto fährt durch die armenische «Landshaft»
Berauschende Reise durch Raum und virtuelle Zeit: Ein altes Auto führt durch die armenische «Landshaft». Still: Daniel Kötter

«Es gibt keine Regeln, wie man einen Film machen sollte», erklärt die Regisseurin Lucrecia Martel vor dem voll besetzten Auditorium in Nyon. Das Dokumentarfilmfestival Visions du Réel hat die eher für ihr fiktionales Werk bekannte argentinische Filmemacherin mit einem Ehrenpreis ausgezeichnet und ihr eine Retrospektive gewidmet. Sie revanchiert sich mit einer Masterclass, die ironischerweise den Begriff des «Masters» zurückweist – des männlichen sowieso, aber auch im Sinne eines Vorbilds im Hinblick auf Filmsprachen. Wirklich interessant sei Kino nur, so liesse sich Martel paraphrasieren, wenn Filmemacher:innen ihre urpersönliche Sicht auf die Welt mittels einer selbstentwickelten Filmsprache wiedergäben.

In Nyon entdeckt man solche Zugänge, die sich kaum um etablierte Regeln der Darstellung kümmern, eher im experimentelleren «Burning Lights»-Programm. Im Film «Guián» von Nicole Chi Amén zum Beispiel, in dem sich eine junge Regisseurin mit chinesischen Wurzeln auf eine Reise aus Costa Rica ins Heimatdorf ihrer kürzlich verstorbenen Grossmutter aufmacht. Nicht unbedingt ein Thema, das man im Dokumentarfilm noch nie gesehen hätte. Aber wie sanft die Regisseurin hier mit Nähe und Distanz, Schärfe und Unschärfe spielt und die narrative Annäherung ans vertraute Fremde im Bild auf eine berührende und sehr poetische Weise verdoppelt, ist beeindruckend.

Zufall oder nicht

Am anderen Ende des Spektrums steht ein Film aus dem Internationalen Wettbewerb: «Grasshopper Republic» des US-Amerikaners Daniel McCabe. Solche Bilder von der Heuschreckenernte in Uganda hat man zwar noch nie gesehen, sie sind aber auf eine solch penetrant rhythmische (und Netflix-taugliche) Weise angeordnet und mit sphärisch-überwältigender Musik unterlegt, dass kaum Zeit zum Reflektieren bleibt.

Ganz anders im «Genre» des Landschaftsfilms. Irgendwo zwischen einem gemächlichen und einem einschläfernden Tempo bestehen diese Filme hauptsächlich – aus Landschaftsaufnahmen. Manchmal mit, oft ohne Menschen, so gut wie nie aber mit erkennbarer Handlung strukturiert sich dieses «landscape cinema» in der Regel über ein Konzept. Die Wirkung kann meditativ, poetisch, politisch oder alles zusammen sein.

Schon in den späten Sechzigern entwickelten japanische Filmemacher und -theoretiker mit «fukeiron» eine Theorie des Landschaftskinos, wonach die reine Landschaftsbetrachtung eine herrschende Politik genauer und vor allem objektiver abbilden könne als etwa ein klassischer Dokumentarfilm mit Protagonist:innen, Sprache und Affektdramaturgie. Zufall oder nicht: Mindestens drei Filme aus dem diesjährigen «Burning Lights»-Programm zeigen, welches Potenzial und vor allem welcher Variationsreichtum diesem nicht ganz einfachen, aber ergiebigen Genre innewohnt.

Am klassisch konzeptuellsten ist da «Apocryphal County» von Geoffrey Lachassagne. Der Landkarte von William Faulkners fiktiver Provinz Yoknapatawpha folgend, verknüpft er Literatur und reale Landschaften zu einem eindringlichen Porträt des US-Kolonialismus und zeigt dessen anhaltende Ausbeutung: der Urbevölkerung, der Natur, der Arbeiter:innen, der Landschaft. Ausgesprochen wird nichts, doch wer genau hinschaut, sieht alles.

Virtuelle Postapokalypse

Auch in «Landshaft» von Daniel Kötter lassen sich ganz neue Dinge erkennen: Der Titel, ein deutsches Lehnwort im Armenischen, verweist auch auf den «shaft», den Minenschacht. Um einen solchen auf der Grenze zwischen Armenien und Aserbaidschan geht es in Kötters atemberaubendem Film vorgeblich beziehungsweise um eine Reise dahin durch Raum und virtuelle Zeit. Der «Reiseführer» ist ein alter, verbeulter Lada, der auf seiner Fahrt vom Sewansee bis ins Gebirge durch karge, aber majestätische armenische Landschaften auf die Artefakte einer von Konflikten bestimmten Geschichte trifft. Zu der oft von zufälligen Ereignissen inspirierten und bewegten Kamera gesellt sich eine Tonlandschaft: Mittels nie gezeigter Zwiegespräche mit den Bewohner:innen des durchfahrenen Umlands manifestiert sich die Erinnerung dieser Landschaft. Das Ziel dieser Distanznahme – etwa indem darauf verzichtet wird, Gesichter zu zeigen – ist es gemäss Kötter, beim Zuschauer Empathie nicht für einen einzelnen Menschen zu wecken, sondern für das Gesamte. Der Effekt ist melancholisch und berauschend.

Zuletzt, und vielleicht am unerwartetsten, funktionieren diese Landschaftsbetrachtungen in einem Raum, von dem man denken würde, dass er weder poetisch noch politisch sein kann. «Knit’s Island», der Gewinner sowohl des Jury- wie des Fipresci-Preises, funktioniert in auffallend vielen Aspekten wie eine herkömmliche Dokumentation, bloss dass wir uns hier eben in einer virtuellen, postapokalyptischen Welt eines Online-Multiplayerspiels befinden. Die Spieler:innen proben den kommenden Ernstfall – und schliessen sich zu Gemeinschaften unterschiedlichster Ausprägung zusammen, erproben neue soziale Gefüge. Das ist teils beängstigend, manchmal surreal, gelegentlich traurig, oft poetisch – und immer wieder: gänzlich neuartig.

«Landshaft» wird am Samstag, 6. Mai 2023, um 20 Uhr im Kino der Reitschule in Bern gezeigt, der Regisseur wird anwesend sein.

Der Autor des Artikels war Mitglied der Filmkritiker:innenjury für den Fipresci-Preis.