Fotografie und Pharma: Die Kunst der Konfrontation
Laura Poitras’ Porträt von Nan Goldin ist erst der zweite Dokumentarfilm, der in Venedig den Goldenen Löwen gewonnen hat. «All the Beauty and the Bloodshed» handelt vom Kampf der Fotografin gegen den Pharma-Clan Sackler und die eigenen Dämonen.
Laura Poitras hat ein zwiespältiges Verhältnis zu Geschichten. Vor allem misstraut sie der Tendenz, dass am Ende einer Geschichte alles durchgearbeitet und gelöst erscheint. So erzählte sie es 2014 in Interviews zu ihrem aufsehenerregenden Film über den Whistleblower Edward Snowden. In «Citizenfour» entschied sie sich denn auch für ein offenes Ende: Der nach Moskau geflohene Snowden kommentiert neue Geheimdokumente, die womöglich von einem weiteren Whistleblower stammen.
«Ich zeichne Momente der Unsicherheit auf, die sich in Echtzeit entwickeln», beschrieb Poitras ihre dokumentarische Praxis vor zehn Jahren in einem Tagebucheintrag. «Die Zukunft kennen wir nicht.» Damals lebte die US-Filmemacherin in Berlin, nachdem sie zuvor jahrelang bei jeder Einreise in die USA festgehalten worden war. Wegen ihres Irakfilms «My Country, my Country» (2006) hatte man sie auf die berüchtigte Watchlist der Homeland Security gesetzt: die Filmemacherin als Staatsfeindin.
Reich dank Opioiden
Gleich in den ersten Minuten von Poitras’ neuem Film, «All the Beauty and the Bloodshed», stellt auch die Fotografin Nan Goldin die oft schematische Dramaturgie von Lebensgeschichten der schmerzhaften Offenheit von realen Erinnerungen gegenüber. Sie betont, wie sich Erinnerungen direkt in unsere Körper einschreiben, wie sie affektgeladen und ungesichert sind. «All the Beauty and the Bloodshed» ist auch deshalb ein herausragender Film, weil er sich – und uns – dieser Unwägbarkeit von Lebenserfahrungen aussetzt, anstatt seine Protagonistin in einer aufgeräumten und abgeschlossenen Geschichte ruhigzustellen.
Laura Poitras’ Künstlerinnenporträt ist zugleich ein Jahrzehnte zurückreichendes Familien- und Gesellschaftsgemälde – und eine Auseinandersetzung mit dem grössten Artwashing-Skandal der letzten Jahre. Goldin war nach einer Operation vom ärztlich verschriebenen Schmerzmittel Oxycontin abhängig geworden – wie Millionen weitere US-Amerikaner:innen. Das Opioid ist die dreckige Haupteinnahmequelle der Milliardärsfamilie Sackler, die sich gleichzeitig als Mäzenin von Museen einen feinen Namen gemacht hat: kaum ein Museum in den USA, das sich nicht mit einem Sackler-Flügel oder -Garten schmückte.
Auf diesen obszönen Zusammenhang stürzte sich Goldin – und machte den Museen mit einer schlagkräftigen Aktivist:innengruppe fortan die Hölle heiss. Nicht zuletzt, indem die weltbekannte Künstlerin den Kunststätten verbot, die eigenen Fotografien in Ausstellungen zu zeigen, solange der Name Sackler an der Wand prangte. Über den Protest fand sie mit der preisgekrönten Dokumentarfilmerin Laura Poitras zusammen, die all die einfachen und doch so wirkungsvollen Interventionen in den Museumsfoyers zu einem viel komplexeren Stück verwob.
Durch «Falltüren», wie sie es nennt, lässt uns Poitras aus dem Aktivismus der Gegenwart in die Vergangenheit stürzen: in Goldins schwierige Kindheit in einem Vorort von Boston. Nachdem sich ihre ältere Schwester mit achtzehn Jahren das Leben genommen hatte, wurde Nancy in Pflegefamilien abgeschoben, bevor sie schliesslich eine Ersatzfamilie im New Yorker Kunstuntergrund fand. Sie überwand ihre Schüchternheit, nannte sich nun Nan und entwickelte eine damals völlig neue Art, sich und ihre nächste Umgebung zu fotografieren: roh, hautnah, farbig, in Aktion. Von gönnerhaften Galeristen gab es dazu den erstaunlichen Bescheid: «Niemand fotografiert sein eigenes Leben.» Goldin kommentiert heute lakonisch, damals habe es halt nur «lotrechte Schwarzweissfotografie» gegeben.
Gloriose Freiräume
«All the Beauty and the Bloodshed» erinnert uns daran, wie kompromisslos, stolz, revolutionär, aber auch selbstzerstörerisch dieses künstlerische und sexuelle Aussenseitertum war – bis hin zur Tatsache, dass sich Goldin ihren Lebensunterhalt zeitweise mit Sexarbeit verdiente. Wir erhalten Einblick in einen faszinierenden Künstler:innenkosmos als radikale Gegenwelt zur verachteten Bourgeoisie. Im vorerst unbeachteten Untergrund von New York wucherten in den siebziger und achtziger Jahren so schäbige wie gloriose Freiräume.
Aids und die Untätigkeit der Reagan-Regierung angesichts der «Schwulenseuche» vernichtete diese Gemeinschaft. Kaum jemand aus Goldins Umfeld hat überlebt. Ein paar der Überlebenden sind berühmt geworden: Jim Jarmusch, John Waters, Nan Goldin. Um das Sterben sichtbar zu machen, veranstaltete Goldin Ende 1989 die Ausstellung «Witnesses: against our Vanishing». Der Katalog dazu hat das konservative Amerika derart in Rage versetzt, dass ein republikanischer Senator den Band im Parlament in der Luft zerriss und man dem Ausstellungsraum alle Subventionen streichen wollte.
Über die Aidsproteste schickt uns «All the Beauty and the Bloodshed» zurück in die Gegenwart und zum Aufstand gegen den Sackler-Clan. Ein Höhepunkt: wie sich verschiedene Sacklers – per Gerichtsbeschluss gezwungen – mit versteinerten Mienen stundenlang die Zeugnisse von Opfern der verheerenden Oxycontin-Epidemie anhören. «All the Beauty and the Bloodshed» gräbt aber auch weitere Stollen in die Vergangenheit und in Goldins heillose Familiengeschichte. Poitras und Goldin sagen beide, die Kamera sei für sie ein Instrument gegen die eigene Angst. Umso eindrücklicher ist es, dass die bewegendsten Interviewpassagen ohne Kamera aufgenommen wurden. Wir hören Goldins Stimme aus dem Off, unterlegt mit Fotografien und Ausschnitten aus Diaschauen, die zu ihrem Markenzeichen geworden sind; genauso wie die Mischung aus Ironie, Abgeklärtheit und leicht übersteuertem Pathos in ihren Erzählungen.
Poitras zeigt Goldins Auseinandersetzung mit ihren Eltern und dem Tod ihrer Schwester, aber auch mit all den verstorbenen Freund:innen als anhaltend und unerlöst. Die Proteste gegen die Sacklers dagegen waren spektakulär erfolgreich: Fast alle Museen haben den Namen aus ihren Hallen und Sponsorenlisten entfernt.
«All the Beauty and the Bloodshed». Regie: Laura Poitras. USA 2022. Der Film läuft am 23. April 2023 an den Visions du Réel in Nyon (anschliessend Onlinegespräch mit der Regisseurin) und ab 27. April 2023 in den Schweizer Kinos.
Visions du Réel : Das Gras wachsen hören
Neben dem neuen Film von Laura Poitras geht es an den Visions du Réel in Nyon auch um die anständigeren Seiten des Gesundheitswesens, etwa in zwei Dokumentarfilmen aus Paris, die unlängst an der Berlinale für Furore sorgten: Nicolas Philibert porträtiert in «Sur l’Adamant» – in Berlin mit dem Goldenen Bären ausgezeichnet – eine psychiatrische Tagesklinik auf der Seine; und Claire Simon hat «Notre corps» auf einer gynäkologischen Station gedreht und fragt angesichts von Geburten, Krebsdiagnosen und Endometrioseberatungen, was es heisst, mit einem weiblichen Körper zu leben.
Unter den 82 Weltpremieren in Nyon finden sich etliche vielversprechende Schweizer Filme. Der Kanadaschweizer Peter Mettler etwa gibt einen Vorgeschmack auf sein Mammutprojekt «While the Green Grass Grows». Der Film ist als audiovisuelles Tagebuch auf insgesamt zwölf Stunden angelegt, verteilt auf sieben Episoden – zwei davon laufen jetzt in Nyon im internationalen Wettbewerb.
Als Ehrengast wird die argentinische Regisseurin Lucrecia Martel gewürdigt, für die Laudatio wird Céline Sciamma in Nyon erwartet. In einer Masterclass wird Martel zudem über ihre Arbeit sprechen. Weitere Werkschauen sind dem Schweizer Jean-Stéphane Bron und der italienischen Regisseurin Alice Rohrwacher gewidmet. Letztere wird in Nyon über ihr Werk sprechen, bevor sie ihren neusten Film dann im Mai in Cannes zur Premiere bringt. Die Visions du Réel finden weiterhin hybrid statt: Ab 24. April ist eine Auswahl des Programms auch online verfügbar.
Visions du Réel in: Nyon, 21.–30. April 2023. Programm und Infos: www.visionsdureel.ch.