Verdrängung in Bagdad: Haus für Haus verschwindet die Identität

Nr. 22 –

Ein Bauboom verändert die irakische Hauptstadt fundamental. Überall schiessen Shoppingmalls aus dem Boden – die grünen Lungen der Stadt verschwinden.

ein Doppeldecker-Spielbus vor der Babylon Mall im Zentrum Bagdads.
Schneller Profit, wo einst die Datteln wuchsen: Vor der Babylon Mall im Zentrum Bagdads. Foto: Emily Garthwaite, laif

Der Mönch und das Kloster haben den Krieg überlebt: Als nach der US-Invasion 2003 die Gewalt im Land eskalierte, blieb Firas Kamal Daniel zehn Jahre lang alleine im Kloster al-Rahban in Bagdads Dora-Viertel zurück. Alle seine Ordensbrüder waren geflohen. Er ass und trank mit den Sicherheitsleuten – und organisierte jeden Freitag einen Gottesdienst.

Firas Kamal Daniel, ein untersetzter Mann mit rundem Gesicht und Glatze, sitzt in seinem Büro bei der chaldäischen Kirche Saint John, ebenfalls in Dora. Heute ist er Priester. Das Mönchsleben hat er 2015 an den Nagel gehängt: «Zu einsam» sei es im Kloster geworden. Ein paar Gemeindemitglieder sitzen auf den Sofas im selben Raum und unterhalten sich. Es ist früher Abend Anfang April, kurz vor dem Gottesdienst.

Vor einigen Wochen sorgte eine Meldung für Aufruhr in der christlichen Gemeinde: Das Rahban-Kloster war verkauft worden und sollte abgerissen werden, um für eine Shoppingmall Platz zu machen. Es folgten Proteste. Das Kloster war eines der letzten, die im Dora-Viertel übrig geblieben waren; Dora, im Süden der irakischen Hauptstadt gelegen, war einst nicht nur für seine zahlreichen Palmengärten bekannt, sondern auch für seine grosse christliche Gemeinde. Die Proteste konnten den Abriss nicht verhindern. «Natürlich trifft mich das sehr», sagt Daniel. «Aber was soll ich tun?»

Geldmaschinen im Rohbau

Eine Gruppe von Frauen hat sich an einem Nachmittag im Vorgarten eines Wohnhauses in Dora eingefunden. «Wir sind jeweils zu Fuss zum Kloster gelaufen, wenn dort ein Gottesdienst oder ein Fest war», sagt eine von ihnen. Vor dem Sturz des Langzeitherrschers Saddam Hussein im Jahr 2003 sei es eine prächtige Strasse gewesen, die Häuser hätten üppige Vorgärten gehabt. Dora, sagt eine andere, sei wie Paris gewesen, aus der ganzen Stadt seien die Menschen hergekommen, um sich zu erholen.

Auf die Gründe für den Klosterabriss will an diesem Nachmittag keine der Frauen genauer eingehen. In der Gemeinde hört man aber manche munkeln, dass der Patriarch der chaldäischen Kirche das Objekt verkauft habe. Es wäre naheliegend, schliesslich verwaltet Louis Sako, der im nordirakischen Erbil weilt, den Besitz der Kirche. Sako selbst stritt dies einem Onlinemagazin gegenüber ab. Traurig schien er jedenfalls nicht zu sein: Immerhin stamme das Kloster aus den achtziger Jahren – es sei also kein historisches Gebäude im engeren Sinn.

Das Rahban-Kloster ist eins von zahlreichen bedeutenden Gebäuden in der Hauptstadt, die einem Immobilienboom zum Opfer fallen. Nach dem Ende des Bürgerkriegs 2009 und vor allem seit der Krieg gegen die Terrormiliz des sogenannten Islamischen Staates (IS) 2017 endete, wird ungebremst gebaut. Privatinvestor:innen ziehen Luxusappartments in die Höhe, einflussreiche Politiker oder Milizenführer klotzen Shoppingmalls zwischen die Häuser. Im zentralen Dschadria-Viertel soll neben der bereits bestehenden bald eine neue Mall öffnen, und unweit davon ist die Irak-Mall, die das grösste Einkaufszentrum des Landes werden soll, fast fertig gebaut.

Der irakische Immobilienbau ist eine Geldmaschine. Und insbesondere Shoppingmalls versprechen schnellen und hohen Profit. Nicht gebaut werden: Theater oder Museen, Schulen und Krankenhäuser. Der Staat ist schwach, anders als private Investor:innen und politische Parteien. Und er ist korrupt.

Es sind nicht nur Kirchen und Klöster, die weichen müssen. Grünflächen werden ausgetrocknet und Palmen abgebrannt, um den Boden an Investor:innen zu verpachten. Historische Häuser in der Innenstadt werden dem Zerfall überlassen, weil mit ihrem Abriss mehr Geld zu machen ist als mit einer Renovation. Es klingt widersprüchlich: Je sicherer Bagdad wird, desto mehr gefährdet der Immobilienboom das historische Erbe der Stadt. Und damit – Haus für Haus, Garten um Garten – auch deren Identität.

Priester Daniel hat ohnehin Grund genug, sich um die Zukunft der christlichen Gemeinde in Bagdad zu sorgen. Nach 2003 floh ein Grossteil der rund 1,5 Millionen irakischen Christ:innen aus dem Land. Nur rund 250 000 sollen zurückgeblieben sein. Wie viele von ihnen heute in Bagdad leben, weiss Daniel nicht. «Aber es werden jeden Tag weniger», sagt er.

Zwar ist die Sicherheitslage in der irakischen Hauptstadt heute so stabil wie selten zuvor. Seit dem Ende des Krieges gegen den IS explodieren hier kaum noch Autobomben, gibt es kaum noch Selbstmordattentate. Das Leben hat den öffentlichen Raum zurückerobert: Mancherorts bleiben die Menschen bis tief in die Nacht auf den Strassen, sitzen bei gegrilltem Fisch in Restaurants und trinken Tee in Cafés, von denen viele erst in den vergangenen Jahren eröffnet worden sind.

Der einstige Brotkorb Bagdads

Warum gehen die Leute trotzdem? «Das Problem ist die wirtschaftliche Situation», sagt Priester Daniel. «Die Leute brauchen Geld, aber es gibt kaum Arbeit.» Es ist dieselbe Misere, die viele junge Iraker:innen aller Konfessionen dazu bringt, nach Möglichkeiten zu suchen, das Land zu verlassen. Der wichtigste Arbeitgeber ist noch immer der Staat, der wichtigste Wirtschaftssektor die Erdölproduktion. Diese allerdings bietet kaum Arbeit für die wachsende Zahl junger Erwachsener.

Wie sehr sich Dora in den letzten Jahren verändert hat, zeigt sich besonders deutlich in der Gegend, wo bis vor kurzem das Rahban-Kloster stand. Direkt davor verläuft die dicht befahrene Hauptstrasse des Viertels. Alte Satellitenaufnahmen zeigen, wie die Gegend zwischen dieser Strasse und dem Ufer des Tigris nördlich davon noch 2003 nahezu vollständig grün war. Dora, das sei der Brotkorb Bagdads gewesen, sagt ein Ortsvorsteher. Zwischen den Häusern hätten grosszügige Gärten gelegen, viele der Bewohner:innen hätten Felder bewirtschaftet oder Schafe gehalten. Heute ist davon kaum etwas übrig. Das Gebiet zwischen Strasse und Fluss ist fast vollständig überbaut; dort, wo noch Flächen frei sind, stehen Baukräne.

Ein schmaler grüner Streifen

Eine Ausnahme bildet das Anwesen von Scheich Ahmad Abdullah al-Saleh. Er sitzt in der Mitte seines riesigen Gästehauses, die Wände sind geschmückt mit Fotografien seines Vaters, seines Grossvaters, mit Fotografien und Gemälden von Zusammenkünften verschiedener Stammesführer. Sein Stamm sei vor fast 200 Jahren aus Syrien nach Bagdad gekommen, erzählt er. Die Holzbänke im Gästehaus seien noch die von damals.

Hinter seiner Villa erstreckt sich der Palmenwald. Ein schmaler grüner Streifen, der sich durch das Hellbraun der Häuser bis zum Tigris zieht. Er sei einer der wenigen, die ihr Land nicht an Investoren verkauft hätten, sagt Saleh. Zu sehr hänge er an den Palmen und den Orangenbäumen. «Das hier ist mein Königreich.» Doch mit der Landwirtschaft lasse sich kaum noch Geld verdienen. «Den Gemüseanbau haben wir aufgegeben», so Saleh. Gegen die billigen Importe aus dem Ausland könnten die irakischen Produkte, die seit 2003 nicht mehr subventioniert werden, nicht ankommen.

Anders das Immobiliengeschäft: In Bagdads Mittelklassevierteln kann der Quadratmeter heute bis zu 2000 Franken kosten – in Geschäftsvierteln sogar bis zu 6000. Seit dem Ende des Hussein-Regimes wächst Bagdad unkontrolliert in alle Richtungen. Der Staat ist nicht in der Lage, den illegalen Bau kleiner Wohnhäuser, meist durch arme Zuzüger:innen aus dem Umland, aufzuhalten. Genauso wenig kann er den Bau von Luxusappartments oder Shoppingmalls an Standorten stoppen, die eigentlich nicht überbaut werden dürften.

«Das Hauptproblem liegt darin, dass Bagdad bis heute seinen Masterplan nicht implementiert hat», sagt Dhirgham Alobaydi, Professor für Architektur an der Universität Bagdad. Zwar gebe es ein Dokument für die Planung der Stadt bis ins Jahr 2030, doch es wurde nie offiziell verabschiedet. Zu gross sei der Einfluss reicher Investor:innen auf die Parlamentarier:innen, so Alobaydi. Beide hätten kein Interesse an einer Regulierung. «Es ist günstiger, in den bestehenden Stadtvierteln zu bauen», sagt er. Hier, wo die Infrastruktur bereits vorhanden ist, die Strassen, der Anschluss an die Kanalisation.

Zwar ist dies in vielen Fällen auch heute schon illegal. Gärten und Palmenhaine liegen nicht in Bauzonen. Doch die Investor:innen fänden Wege, so Alobaydi. Zum Beispiel, indem sie den Palmen einfach die Wasserzufuhr abstellten, bis sie vertrockneten. «Dann zündet man sie an, um der Gemeinde sagen zu können, dass das Gebiet unschön sei und stattdessen überbaut werden solle.»

Es sind nicht nur reiche Geschäftsmänner, die von der Schwäche des Staates profitieren. Es sind auch mächtige Politiker, die ihr Geld in Immobilien anlegen. Und vor allem jene Milizenführer, die der Krieg gegen den IS gross gemacht hat. Sie suchen zunehmend nach Möglichkeiten, ihr Geld im Irak selbst zu waschen, weil gegen viele von ihnen inzwischen internationale Sanktionen verhängt wurden.

Mörderische Sommerhitze

Mit den zahlreichen Gärten, die der Bauboom vernichtet hat, ist nicht nur das Stadtbild bedroht. Die Entwicklung führt auch dazu, dass Bagdad – schon heute eine der heissesten Städte der Welt – den aufgrund der Klimakrise steigenden Temperaturen noch schutzloser ausgeliefert ist. Grünflächen sind natürliche Klimaanlagen, ohne sie werden Städte zu Hitzeinseln. Bagdad im Sommer wird zunehmend unaushaltbar – aber nicht alle Menschen sind dem im selben Ausmass ausgeliefert. Klimatisierte Büros, Cafés und Shoppingmalls bieten Schutz vor der mörderischen Sommerhitze, sind aber nicht gleichermassen für arme und reiche Menschen zugänglich. Der Bauboom verstärkt also nicht nur die Folgen der Klimakrise – sondern auch die ungleiche Verteilung schützender Privilegien.

Dass es auch anders geht, zeigt die Mutanabbi-Strasse im Stadtzentrum. Sie ist seit Jahrzehnten als «Bücherstrasse Bagdads» bekannt – jeden Freitag reihen sich hier Marktstände mit Bücherstapeln aneinander, dahinter finden sich zahlreiche Buchhandlungen. 2021 wurde die Strasse saniert. Seither ist die Mutanabbi an Wochenenden und vor allem abends voller Menschen, es gibt Konzerte, man trifft sich in den Teestuben – während drumherum die Strassen in stiller Dunkelheit liegen.

Zurück im Dora-Viertel. Ein paar Kilometer von der Kirche Saint John entfernt steht das letzte Kloster, das noch geblieben ist. 2014 hat die chaldäische Kirche die Zimmer der Mönche, die damals leer standen, kurzerhand für jene geöffnet, die aus dem Norden des Landes vor dem IS geflohen waren. Bis heute versucht Firas Kamal Daniel, mittellose christliche Familien zu unterstützen, damit sie in Bagdad bleiben. «Jeden Monat organisieren wir eine Spendensammlung», sagt er. «Wir machen Lebensmittelpakete. Denn wenn sie kein Geld haben, verlassen sie Bagdad.»

Als die Geflüchteten nach dem Sieg über den IS in den Norden zurückkehrten, zogen Familien aus Bagdad in die Zimmer ein. Viele von ihnen lebten zuvor bereits in einer temporären Unterkunft – in einer Containersiedlung, die vergangenen Herbst abgerissen wurde. Sie musste Platz machen: einer Shoppingmall.