Literatur: Keine Wärme, nirgends

Nr. 37 –

Buchcover von «Jahrhundertsommer»
Alice Grünfelder: «Jahrhundertsommer». Roman. dtv. München 2023. 320 Seiten. 34 Franken.

Das Dorf hängt wie ein Fluch über dieser Familie – vor allem über den Frauen. Magda, vom «Alten» verlassen, wird, nachdem ein GI sie geschwängert hat, vollends zur Geächteten und Verstossenen, ihr Schicksal befällt auch ihre Tochter Ursula und das Kuckuckskind Ellen. Über fünfzig Jahre spannt sich der Bogen der Geschichte; die drei Frauen erzählen im Wechsel mit Ursulas Sohn Viktor, doch in Kopf und Herz scheint es kein Entrinnen aus der biederen schwäbischen Enge zu geben, die auch eine patriarchal verhärtete ist. Die Frauen werden geschwängert und dann kleingehalten, arm gehalten, an Heim und Herd behalten, für eine andere verlassen – und sind natürlich selber schuld. Da ist keine Wärme, auch zwischen ihnen nicht. Ellen zählt schon mit vierzehn die Tage, Monate, Jahre, bis sie ausziehen kann. Bis nach Paris schafft sie es – und steht irgendwann mit Kind und ohne Mann wieder in Beissweng. «Es ging eben doch nicht mit ihr und dem Glück.»

Die soziale Determiniertheit der Figuren in «Jahrhundertsommer» erinnert an Romane von Émile Zola, Gerhart Hauptmann oder Upton Sinclair – wäre da nicht der präzis verknappte und gleichzeitig lyrisch schwebende Stil von Alice Grünfelder, der dieses Elend immer wieder überraschend bricht und mit lakonischer Ironie subvertiert. Und so wachsen einem Magda, Ursula, Ellen und Viktor trotz allem ans Herz, in ihrer Sturheit, mit der sie sich zu behaupten suchen, und sei es nur mit Tupperwarepartys oder dem Traum vom eigenen Nagelstudio.

Selbst Viktor, von dem es treffend heisst, «er stumpfte vor sich hin», findet gegen Ende aus seiner Lethargie zu Energie, steckt gar die ganze Familie damit an, startet durch mit einem Family Business, von dem wir ahnen, dass es nicht gut kommen kann. Nicht hier, in Beissweng. Nicht in diesem Antiheimatroman, der als solcher weit über die Schwäbische Alb hinausreicht – und gänzlich unerwartet endet, mit einer Magda, die … aber das sei dann doch nicht verraten. Nur so viel: Dieses Buch legt man nicht ohne ein Schmunzeln auf den Lippen weg.