Kirche, Körper, Politik

Le Monde diplomatique –

Geschichte der Abtreibungsgesetze in Polen

Protest in Gliwice, 14. Juni 2023
Protest in Gliwice, 14. Juni 2023 Foto: BEATA ZAWRZEL/picture alliance/ZUMAPRESS

Im September 2023 erklärte Donald Tusk bei einem Wahlkampfauftritt im schlesischen Gliwice: „Ein zentraler Punkt in unserem Programm ist es, den Polinnen ihre Würde zurückzugeben und ihre Sicherheit zu garantieren.“

Der Vorsitzende der Bürgerplattform, der am 11. Dezember zum Ministerpräsidenten Polens gewählt wurde, versprach freien Zugang zu einem Schwangerschaftsabbruch in den ersten zwölf Wochen, dazu die Abschaffung der Gewissensklausel, wonach Ärzte an staatlichen Krankenhäusern eine Abtreibung unter Berufung auf ihre religiöse Überzeugung verweigern können.

Derselbe Tusk hatte noch 2013 während seiner ersten Amtszeit als Regierungschef vor einem Frauenkongress erklärt, er sei gegen die Liberalisierung des als „Kompromiss“ bezeichneten Gesetzes, das 1993 – zum Wohlgefallen der mächtigen katholischen Kirche – eine der restriktivsten Abtreibungsregelungen Europas eingeführt hatte. Aber selbst die wurde unter der ultrakonservativen Partei Recht und Gerechtigkeit (PiS), die in Polen ab 2015 regierte, noch weiter verschärft. Und zwar durch ein Urteil des von der PiS kontrollierten Verfassungsgerichts, gegen das im Oktober 2022 hunderttausende Frauen in ganz Polen auf die Straße gingen.

Ein Jahr später machten die Parlamentswahlen vom 15. Oktober 2023 Donald Tusk erneut zum Ministerpräsidenten. Zwar wurde die PiS mit 35,4 Prozent der Stimmen wieder stärkste Partei, aber die Koalition aus Tusks liberaler „Bürgerkoalition“, dem christlich-konservativen „Dritten Weg“ und dem Wahlbündnis „Linke“ konnte mit insgesamt 53,7 Prozent der Stimmen 248 von 460 Sitzen im Sejm erringen.1 Ein wichtiger Faktor war dabei die Rekordwahlbeteiligung von 74 Prozent (gegenüber 61 Prozent 2019), aber auch die überproportionale Unterstützung der Opposition durch die Wählerinnen (56 Prozent).

Die Wurzeln der restriktiven Abtreibungsregelungen – entgegen den Liberalisierungstendenzen in den meisten europäischen Ländern – reichen weit in die Vergangenheit zurück. In Polen spielte die Religion, wie in Griechenland oder Irland, eine wichtige Rolle für den Erhalt des Nationalbewusstseins unter fremder Herrschaft (des orthodoxen Russland und des protestantischen Preußen).

In der Solidarność-Bewegung der 1980er Jahre, die zur Ablösung des Einparteiensystem führte, spielten die katholischen Institutionen und der katholische Glaube eine Schlüsselrolle. „Ohne Johannes Paul II. hätte der Kommunismus noch länger gedauert“, meinte dazu der Solidarność-Vorsitzende Lech Wałęsa. Der hatte das Danziger Abkommen von 1980 über die Zulassung freier Gewerkschaften mit einem Stift unterzeichnet, auf dem der „polnische Papst“ abgebildet war.

Auch während der Dauer des im Dezember 1981 ausgerufenen Kriegsrechts spielte die Kirche eine wichtige oppositionelle Rolle. Bei den ersten freien Parlamentswahlen von 1989 wurden Priester in lokalen Komitees aktiv, verteilten Flugblätter, sammelten Geld und Unterschriften. Manche warben in ihren Predigten sogar offen für die Kandidaten und Kandidatinnen der Solidarność.

Solidarność und der polnische Papst

Doch dieses starke politische Engagement hatte seinen Preis: Die Kirche war bestrebt, erneut eine zentrale Rolle im öffentlichen Leben einzunehmen und ihre Moralvorstellungen in den Gesetzen des neuen Staatswesens zu verankern. Auf ihrer Prioritätenliste stand der Kampf gegen Schwangerschaftsabbruch an oberster Stelle.

1956 hatte das kommunistische Regime Abtreibungen in vier Fällen legalisiert: nach einer Vergewaltigung, bei einer Missbildung des Fötus, bei Gefahr für das Leben der Mutter und bei „schwierigen Lebensumständen der schwangeren Frau“. Diese vierte – nie überprüfte – Indikation machte praktisch für jede Frau, die das wollte, eine Abtreibung möglich.

In den ersten Jahren nach dem Ende der kommunistischen Ära (1989–1993) wurden im Sejm, dem polnischen „Unterhaus“, mehrere restriktive Gesetzentwürfe debattiert, darunter ein Vorschlag von Experten der polnischen Bischofskonferenz. Etliche Mitglieder der antikommunistischen Opposition engagierten sich für die Verschärfungskampagne, die der Papst persönlich unterstützte.

„Es war eine Beziehung gegenseitigen Gebens und Nehmens“, erinnert sich die feministische Aktivistin und Sejm-Abgeordnete Wanda Nowicka: „Die Kirche beteiligte sich am Kampf für die Demokratie, um ihre politischen Ziele durchzusetzen, und der konservative Flügel der Solidarność ging ihr dabei willig zur Hand.“

Am 7. Januar 1993 verabschiedete das Parlament ein Gesetz, „Kompromiss“ genannt, das einen Schwangerschaftsabbruch nur nach einer Vergewaltigung, nach Inzest, bei Gefahr für die Gesundheit und das Leben der Frau oder bei Missbildungen des Fötus zuließ. Ärztinnen und Ärzten, die Abtreibungen auch in anderen Fällen vornahmen, und allen Personen, die dazu Beihilfe leisteten, drohten drei Jahre Gefängnis ohne Bewährung.

Mit diesen Bestimmungen wollten sich allerdings weder die Befürworter des Rechts auf Abtreibung noch die besonders konservativen politischen Kräfte abfinden. 1994 verhinderte der damalige Präsident Wałęsa mit seinem Veto ein von Frauen eingebrachtes liberaleres Abtreibungsgesetz, das der Sejm und auch der Senat als zweite Kammer bereits verabschiedet hatten. Damit wurde der „große Kompromiss“ von 1993 eingefroren – ein Abbild der neuen Machtbalance zwischen Kirche und Staat ganz allgemein, also jenseits der Abtreibungsfrage.

Dieselbe Konstellation zeigte sich zu Beginn der 2000er Jahre, als Polen die Beitrittsverhandlungen mit der Europäischen Union abschloss und das Referendum über den EU-Beitritt vorbereitete. Im Wahlkampf von 2001 hatten sich die postkommunistische Linkspartei SLD für das Recht auf Schwangerschaftsabbruch ausgesprochen. Was dann geschah, beschreibt die Anthropologin Joanna Mishtal so: „Die Bischöfe drohten, sie würden die Bevölkerung gegen den EU-Beitritt mobilisieren, wenn die Regierung die Reform weiterverfolgen sollte.“2 Also gab die Wahlsiegerin SLD klein bei.

Im Jahr 2002 richteten die Menschenrechtsaktivistin Agnieszka Graff und eine feministische Gruppe einen offenen Brief an das Europaparlament. Ihr Appell gegen die Einmischung der Kirche in die Politik, unterschrieben von 100 Frauen, darunter die Nobelpreisträgerinnen Olga Tokarczuk und Wisława Szymborska, blieb jedoch wirkungslos. Ähnliche Aktionen von Intellektuellen scheiterten stets daran, dass sie keine gesellschaftliche Basis hatten und auch keine politische Stimme, seit sich die linke Regierung mit dem Kompromiss von 1993 abgefunden hatte.

Mit den Wahlsiegen der PiS von 2015 und 2019 wurden die Bande zwischen Exekutive und Kirche noch enger. „Die katholischen Medien von Tadeusz Rydzyk haben die PiS in beiden Wahlkämpfen stark unterstützt“, berichtet Renata Mieńkowska-Norkiene, die an der Universität Warschau Politikwissenschaft lehrt. Der nationalistische Priester und glühende Abtreibungsgegner Rydzyk besitzt neben anderen Kanälen den 1991 gegründeten Sender Radio Maryja, der bei der älteren Bevölkerung, die einen Großteil der konservativen Wählerschaft ausmacht, äußerst populär ist.

Nach dem Wahlsieg von 2015 dankte PiS-Parteichef Jarosław Kaczyński dem Kirchenmann mit den Worten: „Ohne Sie, Pater Direktor, wäre dieser Triumph nicht möglich gewesen.“3 Am Vorabend der Parlamentswahl von 2019 instruierte Rydzyk sein Publikum mit den Worten: „Auf den Wahllisten finden Sie mehrere Kandidaten der PiS. Geben Sie diesen Ihre Stimme!“

Im Herbst 2016 geriet die Regierung erstmals in Schwierigkeiten, als das Parlament über eine Gesetzesinitiative beriet, die katholische Fundamentalisten per Volksbegehren gestartet hatten. Unter dem Motto „Stoppt Abtreibungen“ sah die Vorlage fünf Jahre Gefängnis für Frauen vor, die eine Abtreibung vornehmen ließen. Die Reaktion waren die „schwarzen Märsche“, als 100 000 Menschen in 143 Städten auf die Straßen gingen und die Regierung zum Rückzug zwangen.4

Massenproteste gegen die PiS-Regierung

Auf diese erste Runde der Konfrontation zwischen der mit der Kirche verbündeten konservativen Regierung und einer feministischen Massenbewegung folgte eine zweite im Oktober 2020, als der Verfassungsgerichtshof – der seit der „Justizreform“ von 2015 eine PiS-Pfründe war – das Recht auf Abtreibung bei einer Missbildung des Fötus für verfassungswidrig befand.

Der Zeitpunkt war kein Zufall, denn Protestmärsche waren wegen der Pandemie untersagt. Aber das konnte die größte Demonstrationswelle seit der Implosion des polnischen Sozialismus nicht verhindern. Die Frauen eroberten die Straße und besetzten sogar Kirchen, um die Selbstbestimmung über ihren Körper einzufordern.

„Die Atmosphäre bei den Demos war unbeschreiblich“, erinnert sich die 29-jährige Aleksandra Wantuch. „Am meisten imponierte mir die Konfrontation mit dem Klerus – für meine Generation eine notwendige Rebellion gegen eine verknöcherte Macht.“

Obwohl an den Protestmärschen an die 430 000 Personen teilnahmen, blieb die Regierung bei ihrer Haltung. Die Entscheidung des Verfassungsgerichts trat im Januar 2021 in Kraft. „Die Protestierenden hatten den Eindruck, dass sich nichts änderte, obwohl sich so viele beteiligt hatten“, sagt die Journalistin Katarzyna Wężyk von der Gazeta Wyborcza, doch tatsächlich hat sich ihr Einsatz ausgezahlt: Eine so etablierte politische Gruppierung wie Tusks Bürgerplattform macht sich heute das Thema zu eigen und schlägt die vollständige Freigabe von Schwangerschaftsabbrüchen vor – was vor 2020 in Polen undenkbar gewesen wäre.“

Die Verschärfung von 2020 durch das Verfassungsgericht hat die Befürworter einer Liberalisierung eher gestärkt: Bei einer Umfrage des Instituts IBSP vom Juli 2023 waren 56,7 Prozent der Befragten für den freien Zugang zu Abtreibungen bis zur zwölften Schwangerschaftswoche5, dagegen waren es 2016 nur 23 Prozent.6

Das Ergebnis zeugt auch vom schwindenden Einfluss der katholischen Kirche. Deren Nimbus, zum Sturz des Kommunismus beigetragen zu haben, verblasst immer mehr; zugleich wurde ihr Ansehen durch Missbrauchsskandale lädiert – und durch die Enthüllung, dass Papst Johannes Paul II. als Erzbischof von Krakau in mindestens drei Fällen die Täter gedeckt hat.

Dieser Ansehensverlust beeinflusste auch den letzten Wahlkampf, in dem die PiS das Thema Abtreibung gemieden hat. Aber noch im Dezember 2020 waren 72 Prozent der Wählerinnen und Wähler der Vereinigten Rechten – ein Bündnis der PiS mit zwei Kleinstparteien – für eine weitere Verschärfung des „Kompromisses“ von 1993. Heute erklärt sich die PiS hingegen mit der jetzigen Gesetzeslage „zufrieden“.

Innerhalb der Regierungskoalition gibt es unterschiedliche Positionen zur Abtreibung: Der Dritte Weg, mit knapp 13,5 Prozent der Stimmen die drittstärkste Kraft, ist die konservativste Gruppierung der neuen Mehrheit. Sie fordert, ohne sich zu den gesetzestechnischen Details zu äußern, eine sofortige Rückkehr zum „Kompromiss“ und anschließend ein Referendum.

Die Linke tritt weiterhin für die Wahlfreiheit der Frauen ein. Allerdings hat sie gegenüber der Wahl von 2019 fast die Hälfte ihrer Sitze verloren. Dennoch hält sie sich an ihre Wahlversprechen und hat Mitte November einen Gesetzentwurf im Sejm eingebracht, wonach Frauen freien Zugang zu Abtreibungen haben sollen und Personen, die eine Abtreibung vornehmen, nicht kriminalisiert werden dürfen.

Ministerpräsident Tusk hat zwei feministische Aktivistinnen in sein Kabinett berufen: Katarzyna Kotula als Ministerin für Gleichstellung und Frauenrechte und Barbara Nowacka als Bildungsministerin. Tusk will auch schon bald ein Gesetz zum Schwangerschaftsabbruch vorlegen, wie er es am 12. Dezember in seiner Regierungserklärung angekündigt hat.

Allerdings gibt es da noch ein großes Fragezeichen: Wie wird sich Präsident Andrzej Duda verhalten, dessen Unterschrift nötig ist, um jedes polnische Gesetz (mit Ausnahme des Haushaltsgesetzes) in Kraft zu setzen? Die Amtszeit des PiS-treuen Duda endet erst 2025. Sollte er – wie Wałęsa 1994 – sein Veto einlegen, hätte Polen eine veritable politische Krise.

1 Zum Wahlergebnis siehe Gert Röhrborn, „Polen vor der Wende“, LMd Dezember 2023.

2 Joanna Mishtal, „The Politics of Morality. The Church, The State, and Reproductive Rights in Postsocialist Poland“, Athens (Ohio University Press) 2015.

3 Michał Wilgocki, „Urodziny Radia Maryja. Kaczyński. Każda ręka podniesiona na Kościół to ręka podniesiona na Polskę“, Gazeta Wyborcza, 5. Dezember 2015.

4 Vgl. Audrey Lebel, „Heilige Schwangerschaft“, LMd, November 2016.

5 Umfrage des Forschungsinstituts für öffentliche Angelegenheiten, 25. Juli 2023, www.stanpolityki.pl.

6„Jakiego prawa aborcyjnego oczekują Polacy?“, Centrum Badania Opinii Społecznej, Warschau, Oktober 2016.

Aus dem Französischen von Ursel Schäfer

Małgo Nieziołek ist Journalistin.