Migration in den USA: Gewalt, Bürokratie, Solidarität

Nr. 10 –

Es wäre möglich, den vielen neu ankommenden Flüchtlingen in den USA ein würdiges Leben zu ermöglichen. Doch sie sind zum wichtigsten Wahlkampfthema geworden. Und so Opfer von Hetze und Verschärfungen – selbst im liberalen New York.

Flüchtlinge ohne Unterkunft vor dem Roosevelt Hotel in Manhattan
Die Behörden kommen nicht hinterher, die kaputtgesparte Infrastruktur reicht nicht aus: Flüchtlinge ohne Unterkunft vor dem Roosevelt Hotel in Manhattan. Foto: Luiz C. Ribeiro, Imago

Ein Donnerstagnachmittag in Bay Ridge, einem Viertel im Südwesten des New Yorker Stadtteils Brooklyn. Das Seitengebäude der Good Shepherd Lutheran Church füllt sich langsam. Man hört viele Stimmen, vor allem Spanisch. Und man erfährt Geschichten von Gewalt, Bürokratie und Solidarität.

Zum Beispiel die von Sandra D.* (27), lange, braune Haare, mintgrüne Daunenjacke. Sie ist mit ihren zwei Kindern hier, fünf und acht Jahre alt, die etwas gelangweilt auf einer Bank ihre Beine baumeln lassen. Zu dritt flohen sie im März 2023 aus Kolumbien, um der «Verfolgung» zu entgehen, wie D. knapp sagt. Dass ein grosser Teil ihrer Familie von einer Gang ermordet wurde, erzählt der Pastor der Kirche später in einem ruhigen Moment. An diesem Nachmittag kämpft sich D. mithilfe eines Übersetzers durch die Formulare ihres Asylantrags. Sie wirkt, wie sollte es anders sein, nervös.

Ein paar Tische weiter sitzt Alberto C.* (51), Glatze, weisser Kinnbart. Er kam Anfang der neunziger Jahre aus Venezuela nach New York und besorgte sich damals, um arbeiten zu können, einen Sozialversicherungsausweis und eine Geburtsurkunde auf dem Schwarzmarkt. Über zwei Jahrzehnte lang lebte der Familienvater mit falscher Identität, ehe er 2016 am Flughafen JFK festgenommen wurde und für mehrere Jahre ins Gefängnis musste. Seit C. raus ist, unterstützt er Immigrant:innen, damit diese nicht illegalisiert werden. Er selbst hat bis heute weder Pass noch Arbeitserlaubnis, was er mit einer erstaunlichen Gelassenheit erzählt.

Die eine ist hier, weil sie Hilfe braucht. Der andere, weil er helfen kann. Doch in der Good-Shepherd-Kirche wird Wert darauf gelegt, dass niemand auf Rollen festgelegt ist. Fast alle im Raum waren einmal in D.s Situation des überfordernden Ankommens. Jede:r soll nach einer Weile mitanpacken, wie Alberto C. es tut. «Es geht nicht um Wohltätigkeit, sondern um gegenseitige Unterstützung», sagt Pastor Juan Carlos Ruiz. Er wehrt sich damit gegen das allgemeine politische Klima in den USA.

In den Bus nach New York gesetzt

Das Meinungsforschungsinstitut Gallup veröffentlichte Ende Februar eine Umfrage zu den Sorgen der US-Bevölkerung. Zum ersten Mal seit fünf Jahren wurde Immigration als das grösste Problem des Landes benannt. In einer anderen Umfrage, kürzlich vom Pew Research Center veröffentlicht, gaben 80 Prozent der Befragten an, dass sie unzufrieden mit der Immigrationspolitik der Regierung seien. 41 Prozent der US-Amerikaner:innen sind für einen Ausbau der Mauer zu Mexiko. Zuwanderung bedeutet in den Augen vieler Menschen automatisch Krise.

Man könnte diese Ergebnisse nun alleine auf die hohen Immigrationszahlen zurückführen. Allein im Dezember 2023 kamen 302 000 Menschen über die Südgrenze in die USA. Zum Vergleich: In den Jahren 2013 bis 2019 lag der monatliche Schnitt bei 39 000. In den Städten im Landesinneren steht die Politik deshalb zweifellos vor Herausforderungen. Es geht um Schlafplätze, Kinderbetreuung, medizinische Versorgung. Die notorisch unterbesetzten Behörden kommen oft nicht hinterher; die öffentliche Infrastruktur, fast überall kaputtgespart, reicht nicht aus. Doch das Chaos, das an manchen Orten herrscht, wäre mit einer anderen Politik abwendbar. Aber nach einer anderen Politik sieht es ganz und gar nicht aus.

«Die Grenzinvasion des korrupten Joe Biden zerstört unser Land und tötet unsere Bürger:innen!», schrieb Donald Trump kürzlich auf seiner Plattform Truth Social. Vergangene Woche reiste er nach Texas und sprach dort von einem «Krieg». Die USA würden von Mördern, Vergewaltigern, psychisch Kranken und Terroristen überrannt, so Trump. Solche Panikmache ist in der Republikanischen Partei längst normalisiert. Der texanische Gouverneur Greg Abbott zieht an der Grenze Stacheldraht hoch und schickt Migrant:innen per Bus in demokratisch regierte Grossstädte wie New York, um eine Botschaft zu senden: «Diese Leute sind jetzt euer Problem.»

Und Präsident Joe Biden? Der war am gleichen Tag wie Trump in Texas und betonte bei einer Pressekonferenz, dass die USA längst ein schärferes Grenzgesetz hätten, wenn die Republikanische Partei dieses nicht im Repräsentantenhaus blockiert hätte. Während Trump also rassistische Hetze betreibt, versucht der Präsident die Wähler:innen zu beruhigen, indem er auf seine eigenen Law-and-Order-Bemühungen hinweist. Biden hat in den vergangenen Jahren zwar Massnahmen zum Schutz derjenigen Immigrant:innen ergriffen, die bereits länger in den USA leben. In letzter Zeit spricht er aber vor allem von Verschärfungen.

Neun Monate vor der Wahl dominiert das Thema Immigration die politischen Debatten, und die Rechten geben die autoritäre Richtung vor. In diesem Sinne ist es nur logisch, dass so viele US-Amerikaner:innen für Abschottung sind. Die angebliche Bedrohung wird ihnen rund um die Uhr eingehämmert, von Medien und Politik, oft verbunden mit Lügen und Verschwörungstheorien, die auch deshalb fruchten, weil das Chaos politisch fabriziert wird.

Mit Koffern auf der Strasse

In New York City lässt sich dieses Chaos jeden Tag erleben. Mehr als 175 000 Asylsuchende sind in den vergangenen zwanzig Monaten angekommen. Das ist eine Menge. Doch für eine Stadt, aus der seit Pandemiebeginn mehr als eine halbe Million Menschen weggezogen sind, eine Stadt, die mehr Milliardär:innen hat als jede andere der Welt, in der zig Tausende Wohnungen leer stehen und unzählige Büroflächen ungenutzt sind – für so eine Stadt sollte das lösbar sein. Was also ist das Problem?

Der Bürgermeister von New York, Eric Adams, ein Demokrat und ehemaliger Polizist, hat seit seinem Amtsantritt vor gut zwei Jahren immer wieder vor zu viel Immigration gewarnt. «Ich sehe kein Ende. Das Thema wird New York City zerstören», sagte er im Herbst. Letzte Woche kündigte er an, das Konzept der «sanctuary cities» – Städte, in denen undokumentierte Migrant:innen vor polizeilicher Verfolgung geschützt sind – verändern zu wollen. Geht es nach Adams, sollen Migrant:innen, die eines schweren Verbrechens verdächtigt werden, noch vor dem Gerichtsprozess der Abschiebebehörde ICE übergeben werden. Während die Kriminalitätszahlen in New York sinken, skandalisiert Adams einzelne Fälle. Mit «crime panic» war er schon im Wahlkampf erfolgreich.

Adams beschwört die Krise nicht nur, er produziert sie auch. Im Herbst entschied seine Regierung, dass asylsuchende Familien nach sechzig Tagen die stadteigenen Unterkünfte verlassen müssen. Alleinstehende Migrant:innen müssen nach dreissig Tagen raus. Es solle Platz geschaffen werden, so Adams. Vielmehr scheint aber Abschreckung das Ziel. Zur Folge hat diese Regelung vor allem, dass viele Asylsuchende nun auf der Strasse leben, mit Koffern und Säcken durch die Stadt ziehen und verzweifelt nach einer neuen Bleibe suchen.

Als «eine der grausamsten Massnahmen aus dem Rathaus seit Generationen» bezeichnet Brad Lander die neue Regelung gegenüber der WOZ. Lander ist City Comptroller von New York, eine Art Finanzdirektor also. Kinder würden aus der Schule gerissen, weil die Familien in andere Ecken der Stadt umziehen müssten, so Lander, der politisch links von Adams steht. «Wir sind zwar mit Herausforderungen konfrontiert, was den Haushalt betrifft», sagt Lander, «aber wir haben keine Krise.»

Raum zum frei Atmen

Während «migrant crisis» ein politischer Kampfbegriff ist, gehört auch zur Realität, dass die Zivilgesellschaft derzeit die Lücken füllt, die der Staat lässt. Spürbar ist das in der Good-Shepherd-Kirche in Bay Ridge, die in den vergangenen Jahren für Tausende Migrant:innen zur Anlaufstelle geworden ist. Manche suchen eine warme Mahlzeit, andere einen Ort zum Schlafen, wieder andere bürokratische Unterstützung. «Die meisten sind durcheinander, viele traumatisiert», sagt der 54-jährige Pastor Ruiz. «Ich sehe den Lärm in ihren Köpfen.»

Ruiz spricht aus eigener Erfahrung. Er kam 1986 als Sechzehnjähriger aus Mexiko in die USA. Nachdem sein Visum ausgelaufen war, lebte er acht Jahre lang in Unsicherheit, fand Jobs im Schatten des offiziellen Arbeitsmarktes, begleitet von der Angst, abgeschoben zu werden. Seinem Antrag auf eine Green Card wurde irgendwann stattgegeben. Dieses Glück haben die meisten der rund zehn Millionen «Undokumentierten» nicht. Ruiz gründete 2006 die Initiative «New Sanctuary Coalition», die sich für die Rechte von Immigrant:innen einsetzt. Besonders in den Trump-Jahren 2017 bis 2020 wurde ihre Arbeit essenziell. «‹Sanctuary› bedeutet für mich, dass wir einen Raum schaffen, in dem Menschen frei atmen können», so Ruiz.

Seit mehr als drei Jahren nun ist Biden Präsident. In New York regiert ein demokratischer Bürgermeister. Aber Immigration wird immer noch a priori als Problem geframt. Was also müsste sich grundsätzlich ändern?

Ruiz nennt die Dinge, die eigentlich alle nennen, die sich konstruktiv mit der Materie beschäftigen: Leerstand nutzen, neuen Wohnraum schaffen, Investitionen in öffentliche Infrastrukturen, universelle Sozialprogramme, schnelle Arbeitserlaubnisse erteilen, Immigrant:innen wie Menschen behandeln. «Wir machen Asylsuchenden das Leben schwer», so Ruiz. «Wir verdammen sie zum Warten.»

Am medialen Pranger

Als ein junger Venezolaner Ende Januar nach einer Prügelei mit der Polizei in Manhattan in Untersuchungshaft landete, organisierte Ruiz die Kaution für die Freilassung. «Ich glaube, dass jeder ein faires Verfahren verdient», sagt der Pastor. Er betont, dass dafür keine Kirchengelder genutzt wurden. Die rechte Boulevardzeitung «New York Post» machte trotzdem einen Skandal daraus, stellte die Good-Shepherd-Kirche an den Pranger. Mehrere Tage lang sei er daraufhin angefeindet worden, so Ruiz. «Die politische Stimmung ist in den letzten Jahren nach rechts gekippt.»

Gewalt, Bürokratie, Solidarität: Diese Mischung lässt sich nicht nur in der Good-Shepherd-Kirche, sondern an vielen Orten New Yorks erfahren. Der zurzeit wohl bekannteste Ort ist das Roosevelt Hotel in Midtown Manhattan, das seit vergangenem Jahr als Ankunftszentrum für Asylsuchende dient. Jeden Tag kommen dort neue Familien an. Jeden Tag müssen Menschen wieder raus, weil ihre Frist abgelaufen ist. An einem Laternenpfahl hängt ein Schild, das 10 000 US-Dollar Belohnung für Hinweise auf Angriffe auf die Polizei verspricht. Und um die Ecke des Hotels ist ein Pizza-Restaurant, dessen Besitzer Dino Redzic, selbst ein Immigrant, eine simple Botschaft hat: «Gebt diesen Leuten einfach eine Arbeit und lasst sie in Frieden leben.»

* Name geändert.