#MeToo in Frankreich: Das Bollwerk aus Machismo und Misogynie bröckelt

Nr. 11 –

Neue Missbrauchsvorwürfe rütteln Frankreichs Filmwelt auf. Viel zu lange nutzten ältere Regisseure ungestraft ihre künstlerische Tätigkeit als Deckmantel für Übergriffe.

Judith Godrèche und Benoît Jacquot 1989 bei den Dreharbeiten zu «La Désenchantée»
Der viel ältere Regisseur stellt sich der jugendlichen Schauspielerin als «Perverser» vor – und hat sich mutmasslich auch so verhalten: Judith Godrèche und Benoît Jacquot 1989 bei den Dreharbeiten zu «La Désenchantée». Foto: Yves Forestier, Getty

2019 erhob Adèle Haenel schwere Vorwürfe gegen Christophe Ruggia. Zwischen 2001 und 2004 habe sie der damalige Enddreissiger im Alter von zwölf bis fünfzehn Jahren im Rahmen eines informellen, fast wöchentlichen Schauspielunterrichts unsittlich berührt und sexuell belästigt. Der Fall schlug vor fünf Jahren hohe Wellen: Starschauspielerin klagt obskuren Filmregisseur an. Er stiess eine Diskussion über Missbrauch in Frankreichs Filmwelt an – die indes bald im Sand verlief.

Jetzt hat Judith Godrèche ähnliche, aber noch gravierendere Vorwürfe formuliert. Aus ihnen könnte die längst überfällige #MeToo-Explosion werden, die das Bollwerk aus Machismo und Misogynie, Patriarchat und Perversion des Milieus zu sprengen vermag. Denn die Anklage richtet sich gegen zwei grosse Namen des Autorenkinos.

So bezichtigt die heute 51-Jährige den Regisseur Benoît Jacquot, sie ab 1986 sexuell missbraucht, geschlagen und von Familie und Freund:innen isoliert zu haben. Die Schauspielerin war damals vierzehn, das Hörigkeitsverhältnis dauerte sechs Jahre. Godrèche wähnte sich verliebt und empfand zugleich Ekel – aus ihren Erinnerungen sprechen vor allem Verlorenheit und die völlige Preisgegebenheit an einen viel älteren Mann, der sich ihr damals freimütig als «Perverser» vorstellte.

Dieser soll sie auch an einen Gleichgesinnten «ausgeliehen» haben, den Berufskollegen Jacques Doillon. Mit ihm drehte das durch Jacquot geförderte Jungtalent den Film «La fille de 15 ans» – dem deutschen Titel unterläuft mit seiner ungetreuen Übersetzung («Eine Frau mit 15») ein beredter Lapsus: Mit fünfzehn ist ein Mädchen eben noch keine Frau. Doillon sprang bei den Dreharbeiten für einen Schauspieler ein und knutschte Godrèche in einer kurzfristig eingefügten Liebesszene ab, für die er 45 (!) Einstellungen verlangte. Auch soll er sich an der Vierzehnjährigen im Pariser Domizil seiner damaligen Frau Jane Birkin vergriffen haben. Beide Regisseure hat die Schauspielerin mit Berufung auf Zeug:innen und materielle Beweisstücke angezeigt; beide bestreiten die Vorwürfe und haben ein Recht auf Unschuldsvermutung.

Seit Ende vergangenen Jahres vergeht kaum eine Woche, ohne dass ein Vertreter von Frankreichs Film- oder Fernsehwelt eines aufgezwungenen Kusses, einer übergriffigen Berührung, wenn nicht gar einer Vergewaltigung bezichtigt würde. Jüngst gerieten so die Regisseure Nicolas Bedos, Frédéric Beigbeder, Philippe Garrel, Gérard Miller und Samuel Theis sowie der TV-Moderator Sébastien Cauet in die Schlagzeilen. Doch auch die drei am stärksten medial thematisierten älteren Fälle standen erneut im Brennpunkt. Anfang Dezember belegten neue Bild- und Tonaufnahmen, wie widerwärtig vulgär Gérard Depardieu Frauen und sogar kleine Mädchen verbal sexualisiert; jüngst erstattete ein viertes mutmassliches Vergewaltigungsopfer Anzeige gegen den Star. Ende 2023 wurde auch gegen den ehemaligen Nachrichtensprecher Patrick Poivre d’Arvor ein Ermittlungsverfahren wegen Vergewaltigung eingeleitet – der Fall schwelt seit drei Jahren. Und im Februar ordnete die Pariser Staatsanwaltschaft an, gegen Adèle Haenels mutmasslichen Nötiger den Prozess zu eröffnen.

Sprachrohr der Reaktion

Der Fall Depardieu ist insofern beispielhaft, als er zeigt, wie Vertreter:innen des rechten Lagers mächtige weisse Männer verteidigen, die sexueller Übergriffe bezichtigt werden. Emmanuel Macron, der sich immer mehr zum Sprachrohr der ranzigsten Reaktion macht, legte in einem Fernsehauftritt Ende Dezember eine Blütenlese einschlägiger Schlagwörter vor, von der «Gerüchteküche» und ihrer «Überhitzung» über das «Zeitalter des Verdachts» und seine «Moralordnung» bis hin zur «Menschenjagd».

Gewiss: Die kalkulierte Ode auf den Steuerexilanten und Diktatorenfreund Depardieu, der seine Heimat laut Macron mit Stolz erfülle, sollte zuvörderst von der Aufnahme rechtsextremer Postulate in das jüngste Immigrationsgesetz ablenken. Aber seit seinem Amtsantritt 2017 hat Frankreichs Präsident die #MeToo-Bewegung konsequent als «Gesellschaft der Denunziation» oder «Gemeinwesen der Inquisition» abgetan.

Im vorliegenden Fall ging er noch weiter, indem er die Unterstellung des rechtsextremen Bolloré-Medienimperiums aufgriff, die betreffenden Bild- und Tonaufnahmen seien manipuliert worden. Die öffentlich-rechtliche Fernsehanstalt France Télévisions, deren Sender France 2 das Filmmaterial ausgestrahlt hatte, bestellte kurzerhand einen Gerichtsvollzieher. Dieser strafte die Fake News der Bolloré-Gerüchteküche Lügen – und stellte so auch den Präsidenten bloss.

Wenig Wunder, sucht Judith Godrèche, mit einer respekteinflössenden Mischung aus Offenherzigkeit und Unnachgiebigkeit, ihre Anklage von der privaten und rechtlichen Sphäre in die kollektive und politische Arena zu tragen. Ende Februar rief die Schauspielerin, aus ausserordentlichem Anlass als Gastrednerin zu den «César»-Filmpreisen eingeladen, ihre «seltsame Familie» zur Verantwortung auf. Der Vergewaltigung bezichtigte Männer dürften in der Filmwelt nicht länger das Sagen haben, mahnte sie. Die Akteur:innen der Branche sollten ihr Verhaltensideal in der Realität mit jenem in der Fiktion in Einklang bringen: «Verkörpern wir nicht Held:innen auf der Leinwand, um uns im wirklichen Leben im tiefen Wald zu verstecken. Spielen wir nicht revolutionäre oder humanistische Hero:innen, um morgens dann aufzustehen im Wissen, dass ein Regisseur eine junge Schauspielerin missbraucht hat – und nichts dazu zu sagen.»

Konkrete Forderungen

Grosser Applaus – aber kleines Echo. Einige Stimmen solidarisierten sich mit Godrèche, aber der kollektive Aufschrei in der Filmwelt blieb bisher aus. So stellte die Schauspielerin Ende Februar in einer zweistündigen Anhörung durch den französischen Senat konkrete Forderungen auf: die Einsetzung einer Untersuchungskommission zu sexuellen Übergriffen in der Filmbranche, die Einrichtung von ausgebildeten, von der Produktion unabhängigen Referent:innen für Minderjährige bei Dreharbeiten sowie von «Intimitätscoachs» für Liebes- und Sexszenen sowie eine effektive Beaufsichtigung des Geschehens auf Filmsets durch den Kinder- und Jugendschutz. Und nicht zuletzt die Abberufung des Präsidenten des Centre national du cinéma, der sich – wie am 6. März bekannt wurde – im Juni wegen eines sexuellen Übergriffs auf seinen Patensohn vor Gericht wird verantworten müssen.

Einige Filmwissenschaftlerinnen und -regisseurinnen gehen in der Systemkritik noch einen Schritt weiter. Über die ökonomisch-patriarchalischen Strukturen der Filmindustrie hinaus bringe das Medium als solches eine «Kultur der Vergewaltigung» hervor, argumentieren sie – durch den «male gaze», den männlichen Blick, der viele Werke töne, durch die Erotisierung von Gewalt gegen Frauen, nicht zuletzt durch den in Frankreich auf die Spitze getriebenen «culte de l’auteur». Dieser anbetungswürdige Schöpfer sei zwangsläufig ein Mann, seine Muse ebenso obligat eine «femme-enfant», wie bei den Nouvelle-Vague-Autoren Jean-Luc Godard (mit seiner «Kindfrau» Anna Karina), Éric Rohmer und François Truffaut. Benoît Jacquot habe sich in diese Geschichte eingeschrieben, indem er für Judith Godrèche und später für andere Mädchen und blutjunge Frauen wie Isild Le Besco oder Julia Roy die Rolle des Pygmalion spielte.

In einem Dokumentarfilm des wie erwähnt unlängst selbst sexueller Übergriffe bezichtigten Gérard Miller nannte Jacquot das Filmemachen 2011 «einen Deckmantel für diese Art von Laster». Jacquots Begierde für Minderjährige sehen Beobachter:innen jetzt zu Filmen sublimiert, die junge Mädchen als Objekte des aggressiven Liebesverlangens älterer Männer zeigen, etwa in «Journal d’une femme de chambre» oder «Dernier amour». Diese Werke wird man fortan mit anderen Augen anschauen. So sie denn überhaupt noch gezeigt werden – der ursprünglich auf den 27. März angesetzte Kinostart von Jacques Doillons neuem Film «CE2» wurde jüngst auf unbestimmte Zeit verschoben.