#MeToo in Frankreich: Selbsterkenntnis statt Bannfluch

Nr. 47 –

Die französische Schauspielerin Adèle Haenel beschuldigt einen wenig bekannten Regisseur sexueller Übergriffe. Dank einer klugen Einbettung in weitere Recherchen hat dieser #MeToo-Fall eine Debatte angestossen.

Im Pariser Onlinejournal «Mediapart» hat die französische Schauspielerin Adèle Haenel jüngst schwere Vorwürfe gegen den Filmregisseur Christophe Ruggia erhoben. Zwischen 2001 und 2004 habe sich dieser ihr gegenüber sexuell übergriffig verhalten: permanente Belästigung, erzwungene Küsse auf den Hals, wiederholte Berührung der Schenkel und der Brust. Sie war damals zwischen zwölf und fünfzehn Jahren alt, er Ende dreissig.

Während der sechsmonatigen Proben für den Spielfilm «Les Diables», Haenels erster Filmerfahrung, habe Ruggia sie «unter seinen Einfluss gebracht». Nach Drehschluss sei es dann im Rahmen von Promotionstouren sowie regelmässiger Besuche des Jungtalents beim 24 Jahre älteren Regisseur zu besagten Übergriffen gekommen. Nach dem x-ten Vorfall habe Haenel auf Anraten ihres ersten Freunds, dem sie ihr Unwohlsein, ihre Schuld- und Schamgefühle anvertraut hatte, den Kontakt mit Ruggia abgebrochen. In den Folgejahren gab die traumatisierte Jugendliche das Schauspielern auf, versank in Depressionen, hatte Selbstmordgedanken.

In Frankreich hat Haenels Zeugnis ein ausserordentliches Echo hervorgerufen. KommentatorInnen sprechen vom Beginn eines «#MeToo à la française» – die Ende 2017 durch die Vorwürfe gegen den US-Filmproduzenten Harvey Weinstein ausgelöste internationale Bewegung hatte bis jetzt im Heimatland der Galanterie wie der «grivoiserie gauloise» (gallische Schlüpfrigkeit) nie wirklich gegriffen.

Umgekehrtes Machtgefälle

Der Fall ist in mehrfacher Hinsicht bemerkenswert. Es ist das erste Mal, dass eine international angesehene französische Schauspielerin derlei Anschuldigungen erhebt. Dabei ist das übliche Machtgefälle umgekehrt: Haenel, die Hauptrollen in Filmen von Bertrand Bonello, Robin Campillo, André Téchiné sowie der Dardenne-Brüder gespielt hat, ist der Star. Ruggia, dessen Karriere nach einem erfolgreichen Erstling («Le Gone du Chaâba» von 1997) stagniert, ist der Unbekannte.

Wie die Darstellerin selbst befand, ist ihr Renommee die Vorbedingung, dass ihren Anschuldigungen überhaupt geglaubt wurde. Andernfalls hätte es wieder einmal geheissen: «Ah, die sucht Arbeit. Oder: Die hat das doch provoziert. Oder: Die lügt, um Aufmerksamkeit zu erregen.»

Ferner weicht die Form, in der die Anwürfe erhoben wurden, vom üblichen Muster der mediatisierten Gerichtsklage ab. Die Journalistin Marine Turchi, bei «Mediapart» unter anderem mit dem Dossier «Sexuelle Gewalt» betraut, begnügte sich nicht damit, Haenels Bericht aufzuzeichnen. In siebenmonatiger Recherchearbeit trug sie Dokumente zusammen und befragte rund 30 ZeugInnen, von denen sie 23 in ihrer langen Recherche mit vollem Namen zitiert. Niemand von ihnen widerspricht der Schauspielerin, die meisten bestätigen mehr oder weniger ihre Aussagen. Einzig Regisseur Christophe Ruggia schlug ein Gesprächsangebot aus; über Anwälte liess er ausrichten, er streite jeden sexuellen Übergriff ab, entschuldige sich aber bei Haenel, sollten seine Bewunderung und die Hoffnungen, die er in sie gesetzt habe, sie seinerzeit belastet haben.

Am Tag nach der Veröffentlichung von Turchis Artikel doppelte «Mediapart» mit einer Livesendung nach, in der Haenel namentlich zu den Beweggründen fürs Publikmachen ihrer Anschuldigungen befragt wurde. Auslöser war unter anderem der Dokumentarfilm «Leaving Neverland» über zwei mutmassliche Übergriffsopfer des Popstars Michael Jackson: Haenel erkannte darin Manipulationsmechanismen wieder, denen auch sie sich ausgesetzt gefühlt hatte.

Dem wahren Ich ins Gesicht blicken

Über ihren persönlichen Fall hinaus versucht die Schauspielerin, eine gesellschaftspolitische Debatte anzustossen. Männer wie Ruggia oder Roman Polanski (den sie namentlich nannte) seien keine Monster. Ziel sei nicht, sie aus dem Kreis der Menschheit zu verbannen. Doch müsse man sie selbst endlich dazu bringen, ihrem wahren Ich ins Gesicht zu schauen, und auch die Gesellschaft als Ganzes vor ihre Verantwortung stellen.

In Haenels Fall etwa vertrauten die Eltern dem Regisseur blind, derweil Personen aus dem näheren oder weiteren Umfeld der Dreharbeiten mit ihrem Unbehagen nicht recht umzugehen wussten. Die wenigen, die Ruggia direkt auf das ansprachen, was sie zum Mindesten als Fehlverhalten empfanden, wurden vom Set verbannt.

In Frankreichs Medienwelt war die «affaire Haenel-Ruggia» – die in Resonanz zu Vergewaltigungsvorwürfen gegen die Regisseure Luc Besson und Roman Polanski tritt – tagelang das Hauptthema. Die Zeitung «Libération» widmete dem Sexismus in der einheimischen Filmwelt ein sechsseitiges Dossier. Darin ging es etwa um die Gefährdung von Zuarbeiterinnen der Industrie wie Skriptgirls und Kostümbildnerinnen, um die Schutzmechanismen, die Film- und Theaterschulen (durchaus mit Erfolg) seit ein paar Jahren entwickeln, oder um die kürzlich abgehaltene zweite Jahresversammlung der französischen Filmwelt zu den Themenfeldern Diversität und Parität. Bis Letztere in Frankreich erreicht wird, ist es noch ein weiter Weg, doch mag Haenels Zeugnis den Prozess beschleunigt haben.