Durch den Monat mit Joe Bürli (Teil 2): Was meinen Sie mit «Seelenraum»?
Wie aus Giuseppe Tedesco ein Bub namens Joe Bürli wurde. Und über welche Umwege er sich und die Welt entdeckte.

WOZ: Joe Bürli, wie haben Sie die letzten Tage als Betreiber des Kiosks Quellenstrasse im Zürcher Kreis 5 erlebt?
Joe Bürli: Ich bin überwältigt. Sogar Leute, mit denen ich nicht so persönlich zu tun hatte, kamen vorbei, um sich zu bedanken.
WOZ: Etwas traurig?
Joe Bürli: Nein, für mich ist es der richtige Moment. Und in Azim weiss ich einen guten Nachfolger.
WOZ: In Ihrer Biografie schreiben Sie vom Kiosk als «Seelenraum». Wie meinen Sie das?
Joe Bürli: So habe ich das empfunden. Als Ort, wo Seelen mit unterschiedlichsten Bedürfnissen einkehren. Für einige war ich an vielen Tagen der Einzige, mit dem sie reden konnten.
WOZ: Haben Sie ein besonderes Talent dafür?
Joe Bürli: Mein Plus ist wohl, dass ich, ohne zu werten, auf Leute eingehen kann und interessiert an ihren Geschichten bin. Und nicht das Gefühl habe, etwas Besseres zu sein. Das kommt vielleicht daher, dass ich früher selbst etwas herumgeschubst wurde und so ein Einfühlungsvermögen für andere entwickelte, die nicht so recht akzeptiert werden. Dass ich für manche eine gewisse Wichtigkeit habe, realisierte ich erst später. Es gibt Leute, die das Gefühl hatten, ich sei so etwas wie ihr Anführer. Ich habe aber auch gelernt, mich abzugrenzen.
WOZ: Ihre Autobiografie heisst «Der Bub hat nichts Italienisches an sich». Was steckt da dahinter?
Joe Bürli: Ich wurde 1962 in Zürich als unehelicher Sohn einer italienischen Gastarbeiterin und eines Schweizer Kochlehrlings geboren. Mein Vater hatte mich vor der Geburt als Sohn anerkannt – wollte meine Mutter aber nicht heiraten. So kehrte sie ohne mich nach Italien zurück. Ich bin ihr nicht böse: 1962, als 21-jährige Italienerin ohne grosse Deutschkenntnisse allein im protestantischen Zürich! Die elterliche Gewalt lag aber zuerst bei ihr. Zuerst hiess ich Giuseppe Tedesco.
WOZ: Und dann?
Joe Bürli: Bekam ich den Namen meines Vaters. Mein Vormund platzierte mich in einem Kinderheim in Baar. Als es um eine Adoptionsfreigabe ging, meinte er, dass das kein Problem sei. Weil: «Er hat ja nichts Italienisches an sich.» So habe ich es später in den Akten gelesen. Als ob «Italienisch» eine hoch ansteckende Krankheit wäre. Darum der Titel. Weil das so gar nicht ins Heute passt – aber viel über die Schweiz erzählt.
WOZ: Können Sie sich an die Zeit im Heim erinnern?
Joe Bürli: Ja, und ich muss sagen: Es war keine schlechte Zeit. Bei den Recherchen fürs Buch habe ich Kontakt mit älteren Kindern von damals aufgenommen. Für die war es ganz anders. Die mussten chrampfen: Holz holen, Härdöpfel anpflanzen, auf uns Kleine schauen. Ich dagegen hatte eine behütete Kindheit, die Leiterin war wie eine Mutter. Mit vier Jahren kam ich auf den Hof meiner Schweizer Grosseltern im Luzerner Hinterland. Von dort kommt wohl mein Flair fürs Händelen.
WOZ: Wie denn?
Joe Bürli: Das habe ich im Kolonialwarenlädeli meiner Nonna abgeschaut. Sie verkaufte ja auch Schoggistängeli und Maggitröpfli. Und hat immer mit den Leuten geschwatzt. Vielleicht wollte ich insgeheim ein wenig wie sie werden. Bei ihr hatte ich sechs schöne Jahre – bis ich mit zehn nach Frenkendorf ins Baselland versetzt wurde.
WOZ: Warum?
Joe Bürli: Mein Vater hatte geheiratet, und plötzlich hatte ich eine Stiefmutter. Es fühlte sich an wie der Anfang eines schlechten Märchens. Ein halbes Jahr später verstarb meine Grossmutter. Man sagte mir, es sei ein Herzinfarkt gewesen. Doch nach einem unserer Streitgespräche schleuderte mir meine Stiefmutter entgegen: «Du bringst mich auch noch ins Grab – so wie deine Grossmutter!» Auf meine Frage «Aber sie ist doch an einem Infarkt gestorben?» erfuhr ich, dass sie sich erhängt hatte. Die Stiefmutter gab mir das Gefühl, daran schuld zu sein. Jedes Mal, wenn sie mich so behandelte, fragte ich mich: Bin ich wirklich so schlimm?
WOZ: Wie konnten Sie sich von der Stiefmutter befreien?
Joe Bürli: Eines Tages ging ich zur Schulbehörde und sagte: «Ich will weg von diesen Leuten.» Die sagten: «Das will jeder in deinem Alter!» Im Grunde wünschte ich mir wohl vielmehr, dass mein Vater mich endlich ernst nehmen und sich dafür interessieren würde, was hinter meinem Verhalten steckt. Zwei Wochen später aber war ich weg. Die Behörden vermittelten mich an das Wirtepaar einer Ausflugsbeiz bei Olten, das ein Gspänli für ihren Sohn suchte. Da fuhr mich mein Vater hin. Und die schauten mich an und fanden: «Doch, das wär doch öppis.» So verbrachte ich dort die ganze Pubertät.
WOZ: Eine gute Zeit?
Joe Bürli: Ja. In Olten konnte ich vieles nachholen und meine Lerngier stillen: wie Leute wohnen, reisen, denken, lieben. Das alles sog ich auf wie ein Verrückter. Wenige Jahre später wusste ich etwa recht gut, wie New York aussieht. Ohne dass ich dort gewesen wäre. Was heute jeder schnell nachgoogelt, habe ich von verschiedenen Menschen gelernt und mit anderen geteilt. Ich blühte auf und entdeckte meine Sexualität.
Joe Bürlis Buch ist auch im Kiosk an der Limmatstrasse 197 erhältlich.
«Queersalon»: Barbara Bosshard im Gespräch mit Bürli. Fabio Eiselin liest aus dem Buch. In: Zürich, Kulturbar Das Gleis, Sa, 12. April 2025, 16 Uhr. Eintritt frei.